Chile | Nummer 348 - Juni 2003

Chile und der Schlusspunkt

Wie wird Chile im September 2003 des 30. Jahrestages des Militärputsches gedenken?

Während die Regierung eine Versöhnungszeremonie plant, fordern Menschenrechtsorganisationen, dass zunächst die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur aufgeklärt und verurteilt werden. Die rechte UDI-Partei hat einen Gesetzentwurf erarbeitet, der als Schritt verstanden wird, endgültig eine Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Angesichts der derzeitigen Schwäche der chilenischen Regierung, die jeden Schritt vorher mit der Opposition aushandelt, um regierungsfähig zu bleiben, könnte die politische Rechte mit einem Schlusspunkt-Gesetz Erfolg haben.

Sandra Grüninger

Obwohl in der chilenischen Regierung ein Korruptionsskandal auf den anderen folgt, ist die Situation im Land momentan erstaunlich ruhig. Die Opposition ist zu einem wichtigen Stützpfeiler der Regierung geworden. Sie erhofft sich durch die Unterstützung der skandalgebeutelten Regierung einen klaren Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen 2006 (s. LN 347). Dies wurde auch angesichts der jüngsten Enthüllungen über die sozialistische Verteidigungsministerin deutlich: Michelle Bachelet, die zu den beliebtesten PolitikerInnen im Land gehört, hat laut der Wochenzeitschrift „Que pasa“ zwischen 1986 und 1988 die bewaffnete linksextreme Gruppierung „Frente Patriótico Manuel Rodriguez“ (FPMR) bei politischen Analysen und Informationsverbreitung unterstützt. Die FPMR-Nachfolgeorganisation „Movimiento Patriótico Manuel Rodriguez“ hat das bestätigt.
Aber Bachelet wurde verteidigt – nicht nur von der Regierung und ihrer eigenen Partei, sondern auch vom rechten Präsidentschaftskandidaten Joaquín Lavín und von den Militärs. Letztere wiesen vor allem auf die Notwendigkeit hin, in die Zukunft zu schauen und die Vergangenheit ruhen zu lassen. Die Strategie der Opposition ist Verhandlung und nicht Konfrontation.

Ende der Transition?

Dabei geht es nicht nur um die öffentlich diskutierten Modernisierungs-Gesetze, die dem Korruptionsskandal ein Ende setzen und die derzeitige Regierung stärken sollen, sondern es warten hinter den Kulissen auch unerledigte Themen der Opposition, für die es bisher keine Mehrheit gab. Unter anderem ist ein Schlusspunkt-Gesetz in der Diskussion, das die so genannte „Transition“, den Übergang zur Demokratie, endgültig abschließen und die Vergangenheit ruhen lassen soll.
Während die Militärs angesichts der sich mehrenden Menschenrechtsprozesse seit der Verhaftung Pinochets immer unruhiger werden und gesetzliche Regelungen fordern, wird von Seiten der Angehörigen der Opfer der Diktatur umfassende Gerechtigkeit und Rechtsprechung gefordert. Und so haben die Pläne der Verteidigungsministerin, am 30. Jahrestag des Putsches eine nationale Versöhnungszeremonie zu veranstalten, mehr Debatten ausgelöst als ihre angebliche Partizipation bei der linksextremen „Frente Patriótico Manuel Rodriguez“.

Neubelebung des Runden Tischs?

Laut Bachelet soll die Zeremonie die Tradition des „Runden Tisches“ fortsetzen. An ihm kamen nach der Verhaftung Pinochets in London verschiedene Akteure zusammen, um über den Zusammenhang und die Konsequenzen des Militärputsches zu debattieren und den Verbleib der seit fast 20 Jahren Verhaftet-Verschwundenen zu klären.
Mitglieder der Streitkräfte und der rechten Parteien befürworten diese Art von Versöhnungsgeste, während Menschenrechtsorganisationen und die Kommunistische Partei jegliche Versöhungsstrategien ablehnen, solange die Menschenrechtsverletzungen nicht gerichtlich aufgearbeitet sind. Angesichts der Zunahme der Menschenrechtsprozesse, die sich laut der Militärs zu einer „Militärparade“ vor Gericht entwickelt haben, werden die Forderungen nach konkreten Vereinbarungen lauter, z.B. nach einem „zeitlichen Horizont“, der laufende und künftige Prozesse beschränkt.
Unter Präsident Ricardo Lagos haben nun die Prozesse ihren Höhepunkt erreicht. Doch die derzeitige Schwäche der Regierung wird von der Rechten auch für das Thema der Menschenrechtsverletzungen ausgenutzt.

Vorstoß der UDI

Jüngstes Beispiel ist ein Gesetzentwurf von UDI-Chef Pablo Longeira, der eine Lösung für das Thema der Verhaftet-Verschwundenen ankündigt. Dieses Gesetz soll Angehörigen die Möglichkeit einräumen, die Verschwundenen gesetzlich für tot erklären zu lassen, um so die Entschädigung ausbezahlt zu bekommen, die Anfang der 90er Jahre im Informe Rettig festgesetzt worden war. Solange die Personen noch als „verschwunden“ registriert sind oder Prozesse anhängig sind, kann diese Entschädigung nicht ausgezahlt werden. Deshalb haben sich Angehörige von Diktaturopfern aus Pisagua mit der Bitte um Lösung an die UDI gewandt. Gemeinsam unterbreiteten sie dem Präsidenten den Vorschlag, die Verschwunden für tot zu erklären und Entschädigung zu zahlen. Die Angehörigen wurden von der Linken wegen ihrer Zusammenarbeit mit der Opposition scharf kritisiert. Zu ihrer Verteidigung sagte die Witwe eines während der Diktatur Ermordeten, dass ihr bis dato niemand zugehört habe und sie endlich in Würde die Vergangenheit ruhen lassen wollte.

Erfolg für die Justiz

Die rechtliche Interpretation, das Verschwindenlassen als unbeendigtes Verbrechen anzusehen, da ohne den Leichnam der Tod nicht bezeugt werden kann, war in den letzten Jahren entscheidend für den Prozess gegen Pinochet und fast alle weiteren Prozesse gegen Militärangehörige, da damit das Amnestie-Gesetz umgangen wird, unter das der Großteil der Ermordungen fallen. So hatte dann auch der Runde Tisch das Ziel, den Verbleib der Verhaftet-Verschwundenen zu klären, um so die Verbrechen für beendet erklären zu können. Wenn aber die Todesumstände und die Täter nicht festgestellt werden können, könnten nach Longeiras jüngstem Vorschlag diese Fälle trotzdem abgeschlossen werden, wobei hier die Entschädigung einen zusätzlichen finanziellen Anreiz für die Angehörigen der Diktatur-Opfer darstellt.
Die Interpretation, das Verschwindenlassen als unbeendigtes Verbrechen anzusehen, ist die Grundlage für die erneute Verurteilung Manuel Contreras, ehemaliger Chef der DINA, des Geheimdienstes zu Diktaturzeiten, die im April diesen Jahres erfolgte. Contreras hatte bereits eine Haftstrafe wegen der Beteiligung der DINA an der Ermordung Orlando Leteliers in Washington abgesessen. Nun wurden er und weitere vier Miglieder der DINA erneut verurteilt, dieses Mal wegen des Verschwindenlassens von Miguel Angel Sandoval Rodriguez, Miglied des MIR (Linksrevolutionäre Bewegung), am 7. Januar 1975. Manuel Contreras Sepúlveda und Marcelo Moreno Brito (Chef der Foltereinrichtung Villa Grimaldi) wurden als Hauptverantwortliche des Verbrechens zu jeweils 15 Jahren Haft verurteilt. Drei weitere Angehörige des Militärs erhielten Haftstrafen von fünf bzw. zehn Jahren.
Diese Verurteilungen sind bisher einzigartig in der Geschichte Chiles, da zum ersten Mal Mitglieder der DINA wegen des Verbrechens des Verschwindenlassens in Chile zur Verantwortung gezogen werden. Diese Entscheidung muss nun vom Obersten Gerichtshof und vom Berufungsgericht bestätigt werden.

Schlusspunkt inmitten der Prozesse

Verhandlungen über ein Schlusspunkt-Gesetz würden somit gerade in dem Moment die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen in Gerichtsprozessen stoppen, in dem erstmals historische Urteile gefällt werden und neue rechtliche Interpretationen es möglich machen, die brutalen Praktiken des Verschwindenlassens zu veruteilen, die bisher rechtlich unangetastet blieben.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren