Film | Nummer 370 - April 2005

Chiles offene Wunde

„Machuca“ – ein erneuter Versuch, der chilenischen Gesellschaft ihre Vergangenheit vor Augen zu führen

Auf Filmfestivals in Argentinien, Chile, Kolumbien, den USA und Kanada erhielt der neuste Film des chilenischen Regisseurs Andrés Wood zahlreiche Auszeichnungen. Er handelt von der Freundschaft zweier Jungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten Anfang der 70er Jahre in Chile. Der Film ist ein wichtiger Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung der Schreckensherrschaft Pinochets.

Marian Jasencak

Santiago de Chile, 1973. Der 11-jährige Gonzalo Infante (Matías Quer), Kind reicher Eltern aus der Oberschicht, lebt in einem der besten Viertel der Stadt und besucht die katholische Privatschule Saint Patrick’s. Der gleichaltrige Pedro Machuca (Ariel Mateluna) wohnt nur einige Straßenblöcke entfernt, und doch lebt er in einer vollkommen anderen Welt – in einer población am Stadtrand, wo es weder Strom noch sauberes Trinkwasser gibt. Unter normalen Umständen würden sich die beiden Jungen niemals kennen lernen, doch der Direktor der Eliteschule, Pater McEnroe (Ernesto Malbrán), will gegen die bestehenden Verhältnisse ankämpfen und wagt einen ambitionierten Versuch: Mit Zustimmung der Eltern integriert er Kinder aus dem Armenviertel in seine Schule. Zwischen Gonzalo und Pedro beginnt bald eine Freundschaft zu wachsen, die jedoch von der politischen Entwicklung im Land nicht unberührt bleibt.

Kinder als Zeugen der Vergangenheit

Vergangenheitsbewältigung ist in Chile nach wie vor etwas, womit viele nichts zu tun haben wollen. „Machuca“-Regisseur Andrés Wood meint zu diesem Klima der „kulturellen Selbstzensur“: „Wenn man von der Zukunft Chiles spricht, stimmen einem 80 Prozent der Leute glücklich zu. Wenn man aber von der Vergangenheit redet, laufen sie schreiend weg.“ Dennoch war sein Film im letzten Jahr der am meisten gesehene in Chile. Das erstaunt, da er doch genau in jener Zeit spielt, an die nahezu alle schmerzliche Erinnerungen haben – die einen vor allem an Lebensmittelknappheit und Enteignungen, die anderen an den Putsch und den daraufhin einsetzenden blutigen Terror von Pinochets Schergen. „Machuca“ ist ein politischer Film. Omnipräsent sind die Demonstrationen für und gegen Allende, die tiefe innere Spaltung des Landes, die Versorgungsengpässe. Aber all das bildet nur den Hintergrund der eigentlichen Geschichte, der Freundschaft zweier Jungen in dieser schwierigen Zeit. Wood schafft es, das Publikum an den Film zu fesseln und es förmlich in ihn hineinzuziehen, indem er keine Stellung bezieht, sondern alles durch die Augen der Kinder betrachtet, die noch zu jung sind, um die Brisanz hinter ihren Eindrücken zu erkennen. „Die Kinder schauen nur, sie urteilen nicht. Sie sind Zeugen der Ereignisse“, sagt er. Er selbst war zur Zeit des Putsches gerade erst 8 Jahre alt.
Wie jede Freundschaft erfährt auch die von Gonzalo und Pedro zahlreiche Höhen und Tiefen. Immer wieder wird sie auf die Probe gestellt, immer wieder müssen die beiden sich und ihrer Umgebung beweisen, dass eine Freundschaft zwischen zwei Angehörigen so unterschiedlicher Gesellschaftsklassen überhaupt möglich ist. Mal sind es harmlose Konkurrenzkämpfe um Pedros Nachbarin Silvana (Manuela Martelli), mal eine gemeinsam durchstandene Prügelei, doch am Ende erreicht auch sie die politische Realität. In einer ergreifenden Szene, die an den Abschied des Lehrers im französischen Klassiker „Aux revoir, les enfants“ erinnert, wird Pater McEnroe von den putschenden Militärs festgenommen und durch einen General (Pablo Krögh) ersetzt. Die Kinder aus dem Armenviertel werden der Schule verwiesen und spätestens als er Pedro noch ein letztes Mal besucht, weiß Gonzalo, dass ihre Freundschaft vorbei ist. Der Klassenunterschied, den er überwunden zu haben glaubte, rettet ihn schließlich, während Pedro, enttäuscht und fassungslos über den Verrat, nun mit weitaus ernsteren Problemen zu kämpfen hat – den brutal vorgehenden Soldaten, die eine Razzia nach der anderen durchführen.

Apell an die Gesellschaft

Mit „Machuca“ ist Andrés Wood ein tiefgründiger und absolut sehenswerter Film gelungen, der nicht umsonst auf Filmfestivals in Argentinien, Chile, Kolumbien, den USA und Kanada mehrere Auszeichnungen erhielt. Mit einem Budget von nur 1,7 Millionen US-Dollar ausgestattet, erreichte er überwältigende Zuschauerzahlen und belegt Platz 3 der Liste der erfolgreichsten Filme in Chile. Das beweist, dass langsam aber sicher ein Umdenken in der chilenischen Gesellschaft in Bezug auf die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit stattfindet. Vielleicht ist es aber auch der Beginn einer überfälligen Diskussion, denn die Fragen nach einer wirklichen Armutsbekämpfung und Beseitigung von Ungerechtigkeit sind die gleichen geblieben, auf die schon Salvador Allende vor 35 Jahren eine Antwort zu geben versuchte.

Machuca; Regie: Andrés Wood; Chile/Spanien 2004; Farbe; 121 Minuten. Kinostart: 31.03.2005.

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