Argentinien | Nummer 194/195 - Juli/August 1990

Chronik eines angekündigten Ausverkaufs

Unter dem Diktat des IWF

Nun ist es also soweit. Was Präsident Carlos Menem schon kurz nach seiner Amtsübernahme im Juli 1989 angekündigt hatte, wird ein Jahr später Realität: Die große Privatisierungsoffensive gegen die defizitären argentinischen Staatsbetriebe beginnt mit dem Verkauf der staatlichen Telefongesellschaft ENTEL. Weitere Branchen folgen in den nächsten Wochen. Die Kontinuität des wirtschaftlichen Chaos im letzten Jahr, dem auch Menem mit drei Wirtschaftsministern und einem halben Dutzend Wirtschaftsplänen sowie deren jeweiligen Anpassungen (LN 185, 189, 190, 192) nicht Herr werden konnte führte zu dieser unvorhergese­henen Verspätung. Doch die wirtschaftliche Situation ist alles andere als beru­higt: Erneut steigende Inflation und Preise, Investitionsrückgang in Folge der tiefen Rezession und zunehmende Proteste der Arbeiterschaft bestimmen das wirt­schaftliche Klima Argentiniens. Selbst führende Wirtschaftswissenschaftler von IWF und Weltbank mußten kürzlich eingestehen die Lösung des “argentinischen Rätsels” nicht gefunden zu haben.

Roman Herzog

Die staatliche Telefongesellschaft ENTEL wurde für den Verkauf in zwei Teile, Telco Sur und Telco Norte, aufgeteilt. Das Konsortium aus der US-Bank Citi­corp und der schweizerisch-argentinischen Frima Techint unter der Führung der spanischen Telefónica sichert sich 60% der Aktien von Telco Sur für 114 Mil­lionen US-Dollar und 2,27 Mrd. US-Dollar in Auslandsschuldscheinen. Diese Schuld­scheine Argentiniens kaufen die Firmen auf dem Sekundärmarkt für 13% ihres Nominalwertes, also für ganze 354 Millionern US-Dollar. Dept-to-equity-swaps heißt das in der Sprache der WirtschaftswissenschaftlerInnen – als Farce könnte mensch es auch bezeichnen. Für den Kauf der anderen Hälfte, Telco Norte, legte das Konsortium von Bell Atlantic und Hannover Trust, zwei US-amerikanischen Firmen legt lediglich 100 Millionen US-Dollar in bar und 300 Millionen für den Kauf von Schuldscheinen mit einem Nominalwert von 2,3 Mrd. US-Dollar auf den Tisch. Insgesamt verkauft also der argentinische Staat sein wohl lukrativstes Unternehmen für 868 Millionen Dollar, reduziert dabei allerdings seine Aus­landverschuldung um 4,6 Mrd. US-Dollar.

Ruinöser Deal als Vorbild für weitere Maßnahmen

Doch damit nicht genug der Tragödie: Der argentinische Staat garantiert den Käufern in den ersten drei Jahren einen jährlichen Reingewinn von 16%. Die Schulden von ENTEL in Höhe von 1,7 Mrd. US-Dollar(!), die in den letzten 1 1/2 Jahren angehäuft wurden, übernimmt ebenfalls der Staat. Und zu alledem sind die neuen Betreiber lediglich zu Investitionen in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar in den ersten drei Jahren verpflichtet. Das entspricht einer Installation von 620.000 neuen Telefonleitungen, bei derzeit 1,8 Millionen Anschlüssen, von denen ein Drittel seit längerer Zeit nicht funktioniert. Somit wird das, was sich die argenti­nischen TelefonbesitzerInnen von der Privatisierung versprechen, nämlich end­lich funktionierende Telefone, weiterhin auf absehbare Zeit ein Traum bleiben. Und die Menschen, die gerne ein Telefon hätten und es sich leisten könnten, brauchen sich wohl gar nicht erst um einen Anschluß bemühen. Eine über die drei Jahre hinausgehende langfristige Investitionsverpflichtung für die Käufer gibt es nicht. So dämpften die neuen Gesellschafter bereits eine Woche nach dem Verkauf allzu große Erwartungen mit der schlichten Feststellung, daß bessere Dienste frühestens in zwei Jahren zu erwarten seien. Vorleistungen für diese eventuellen Verbesserungen müssen die argentinischen TelefonbesitzerInnen allerdings schon bald in Form von saftigen Tariferhöhungen erbringen. Die 46.000 Angestellten von ENTEL werden ebenfalls mit einer Negativentwicklung zu rechnen haben: ein Teil von ihnen wird sicherlich im Zuge der Rationalisie­rung entlassen werden. Ein derart skandalöser Privatisierungs-Deal dürfte selbst in der Geschichte der “freien Marktwirtschaft” bisher einmalig sein. Wo auch sonst stürzt sich der Staat für eine kurzfristige Verringerung der Auslandsschul­den freiwillig in ein solch ruinöses Geschäft? – In den USA, dem Land mit der größten Auslandsverschuldung sicherlich nicht.
Das Fatale ist, daß dieses Privatisierungsschema von ENTEL das Modell für alle weiteren Verkäufe von Staatsbetrieben Argentiniens darstellen soll. Und diese weiteren Aus­verkäufe werden nicht lange auf sich warten lassen: 10.000 Kilometer National­straßen sind bereits an fünf ausländische Firmen vergeben, die ihre Investitions­kosten über die Einführung einer Autobahngebühr wieder reinbekommen wol­len. Die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas wird ein Konsortium unter der Führung der spanischen Fluglinie Iberia aufkaufen. Thyssen und das spanische Staatsunternehmen (!) Renfe wollen sich hingegen die profitable Eisenbahnlinie von der Pampa zum Hafen in Bahia Blanca, auf der 85% der argentinischen Getreideexporte befördert werden, unter den Nagel reißen. Das staatliche Erdölmonopol YPF lädt ausländische Firmen zwecks Bildung von Gemeinschaftsunternehmen zur Förderung der profitablen Erdölvorkommen ein…

Loch in der Kasse und Strangulierung durch den IWF

Begründet werden diese Verkäufe immer wieder mit dem chronischen Haus­haltsdefizit des argentinischen Staates. 8,4 Mrd. US-Dollar beträgt dieses Loch in der Haushaltskasse – die Defizite der Staatsbetriebe haben daran einen Anteil von fast 50%. Kein Wunder also, wenn der Staat diese lästigen Firmen loswerden will. Geschieht dies allerdings wie bei ENTEL nach der Devise: Gewinne privati­sieren – Defizite verstaatlichen, geht dies an dem eigentlichen Problem vorbei.
Der IWF macht diese Verringerung des Haushaltsdefizits immer wieder zur Bedingung für eine Kreditgewährung. Den bereits im November 1989 beschlos­senen Überbrückungskredit für Argentinien in Höhe von 1,4 Mrd. US-Dollar ver­sah der Fond bei den erneuten Verhandlungen in diesem Jahr allerdings mit weiteren Auflagen. Neben der Veringerung des Defizits auf 1% verpflichtete sich Argentinien die Steuern weiter anzuheben, die Löhne zu senken, die Preise für öffentliche Dienstleistungen erneut zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben für diese Staatsdienste sowie die Zuschüsse an die Provinzregierungen zu verrin­gern. Darüberhinaus mußte Argentinien Anfang Juni zum ersten Mal seit April 1988 in Umschuldungsverhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken ein­treten. Seit 1988 hat Argentinien faktisch keinen Cent an Zinszahlungen geleistet, wodurch die Zinsen für die 60 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden auf 6,5 Mrd US-Dollar angewachsen sind. Als Geste des guten Willens tätigte Argentinien im Mai eine symbolische Zahlung von 100 Millionen US-Dollar Zinstilgung. Bei den derzeitigen Verhandlungen mit den privaten Gläubigerbanken wird eine solche Summe wohl allerhöchstens als wöchentliche Zahlung angenommen werden.
Die härteste Bedingung des IWF ist allerdings die Verpflichtung, die Inflation ab August auf unter 2% monatlich zu verringern. Ein schier unmögli­ches Unternehmen. Führte die Hyperinflation im Februar und März dieses Jahres (fast 100% monatlich) zur Blockierung des schon vereinbarten IWF-Kredites, so konnte durch den neuen Wirtschaftsplan von Wirtschaftminister Gonzales (LN 192) die monatliche Inflation im April immerhin auf 11,4% gesenkt werden. Doch damit war’s auch schon wieder vorbei. Im Mai stieg die Monats-Inflation auf 13,6%, der Juni schlug mit 15% zu Buche – Tendenz steigend. Für die erste Jahreshälfte 1990 akkumuliert sich somit die Inflation auf 617%. Dennoch konnte Argentinien die Auszahlung von 240 Millionen US-Dollar des erwähnten 1,4 Mrd.US-Dollar Stand-By-Kredites erreichen – die zweite Tranche nach den 140 Millionen im November. Der IWF geht anscheinend kein Risiko ein und gibt Argentinien immer wieder kleine Häppchen des ohnehin nicht gerade großen Kuchens, um wenige Monate später eine weitere Auszahlungen mit neuen, noch härteren Bedingungen zu verknüpfen.

Neoliberale Logik für “nicht-kapitalistische Kapitalisten”

Wirtschaftsminister Ermán Gonzales verkündete entsprechend Ende Juni mit ernster Mine gemäß dem Diktat des IWF, neben der Verlängerung des seit Juli 1989 bestehenden ökonomischen Ausnahmezustandes um ein weiteres Jahr, eine erneute Anpassung der Anpassung an seinen Wirtschaftsplan vom März…
Eine erneute Blockierung des Kredits und somit weitere wirtschaftliche “Liberalisierungsmaßnahmen” stehen gewiß schon bald wieder ins Haus, denn die Bedingung des IWF, die Inflation ab August auf 2% monatlich zu drücken ist schon jetzt zum Scheitern verurteilt. Daß Argentiniens Wirtschaft in der ersten Hälfte dieses Jahres mit 1,79 Mrd. US-Dolllar einen unerwartet hohen Export­überschuß erbracht hat, verdeckt die Tatsache, daß das Land sich in einer schwe­ren Rezession befindet. In keine Branche sind die Kapazitäten der Unternehmen auch nur annähernd ausgelastet. Stattdessen führen massenhafte Entlassungen und Betriebsschließungen zur weiteren Verstärkung der Wirtschaftskrise. Der industrielle Ausstoß verringerte sich in den ersten vier Monaten dieses Jahres um 13% und das Investitionsvolumen der argentinischen Wirtschaft ist so niedrig wie nie zuvor.
Der Reallohn der ArbeiterInnen hat sich seit Januar um über 30% verringert und das in einer Situation, in der das Land mit den einst höchsten Löhnen Lateinameri­kas schon im Jahr zuvor auf ein Niveau unterhalb von Chile oder Paraguay abge­sunken ist. Entsprechend sucht ein Großteil der ArgentinierInnen, die nicht nach Europa auswandern können, sein Glück und vor allem Arbeit in den angrenzen­den Ländern und wandert aus. Die Lebenshaltungskosten steigen permanent durch die inflationsbedingten Preissteigerungen. Doch Präsident Menem argu­mentiert diesbezüglich ganz in seiner neoliberalen Logik: “Viele Grundnah­rungsmittel sind im Ausland billiger als in Argentinien. Wir werden all diese Produkte, die billiger auf dem heimischen Markt verkauft werden können importieren”. “Der Fall Argentinien hat das Interesse der weltbesten und bekanntesten Ökonomen geweckt, die immer noch nicht erklären können, was in diesem Land passiert”, äußerte kürzlich der frühere Minister für öffentliche Dienste der Regierung Alfonsín, Rodolfo Terragno. “Argentinien ist das einzige Land der Welt, wo eine schwere Rezession, die in der Theorie die Märkte stabili­siert und die Inflation beseitigt, von einer Hyperinflation begleitet ist.” Selbst die Experten des IWF und der Weltbank stehen vor einem Rätsel. Sie akzeptierten im Juli das Argument der Regierung, daß die Unternehmen in Argentinien ihre Preise enorm überhöhen und sich somit überhaupt nicht an die Regeln der “freien Marktwirtschaft” halten und zur Inflation beitragen. “Auf diesem Niveau der Inflation könnte jeglicher interne Schock oder eine externe Agitation der Auslöser für eine Hyperinflation sein”, meinte IWF-Chef Michel Camdesus im Juli. Die argentinischen Kapitalisten sind eben nicht kapitalistisch genug.
Die beginnenden Streiks in der Provinz Buenos Aires, an denen im Moment 500.000 ArbeiterInnen, unter anderem die Metalle­rInnen, beteiligt sind, sind ein Beispiel für die Herausforderungen, denen sich Präsident Menem in den näch­sten Wochen und Monaten stellen muß. Die argentinische Bevölkerung kann und will die Politik seiner Regierung nicht mehr länger ertragen. Die Plünderungen während der nächtlichen WM-Feiern in Buenos Aires Anfang Juli sind ein Indiz für die Hoffnungslosigkeit der sozialen Situation in Argentinien. Daß Menem dabei auf die repressive Karte setzt ist sehr wahrscheinlich und wird durch das Ergebnis der nächtlichen Ausschreitungen vom Juli verdeutlicht: um 3500 Mann verstärkte Polizeipräsenz in Buenos Aires, über 200 Festnahmen und mehrere Tote.

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