Collage eines Kontinentes
Die Ausstellung “Havanna-Sao Paulo – Junge Kunst aus Lateinamerika”
Havanna und Sao Paulo – diese beiden Namen stehen für die zwei lateinamerikanischen Kunstbiennalen, und für zwei recht unterschiedliche, konkurrierende, aber auch sich gegenseitig ergänzende Konzepte, der bildenden Kunst dieses Kontinentes ein internationales Forum zu verschaffen. Die Kunstmesse von Sao Paulo wurde 1951 gegründet, also zu einem Zeitpunkt, als das offizielle Brasilien sich mitten im Modernisierungsfieber befand. Erklärtes Ziel war, der lokalen Kunstszene Anregungen zu verschaffen und ihr gleichzeitig internationale Absatzmärkte zu erschließen. Entsprechend wurde von vornherein darauf gesetzt, KünstlerInnen und KunsthändlerInnen aus der ganzen Welt einzuladen. Dagegen entstand in den achtziger Jahren die Biennale von Havanna explizit als kulturelles und politisches Projekt, um – ähnlich wie bei dem Internationalen Filmfestival von Havanna – Kunst aus Lateinamerika und anderen Regionen der Dritten Welt ein Forum zu verschaffen.
Die Ausstellung “Havanna – Sao Paulo” zeigt jetzt salomonischerweise eine Auswahl aus beiden Biennalen von 1994. Ölgemälde, Skulpturen, Fotografien, Installationen, Environments – die Arbeitsmaterialien der 33 Künstlerinnen und Künstler sind so unterschiedlich wie ihre Ausdrucksweisen. Ein postmodernes Stilgemisch mit einigen gemeinsamen Bezugspunkten im inhaltlichen Bereich.
Religiöse Qualen
für Aug`und Seele
Wie es sich für katholisch sozialisierte KünstlerInnen gehört, arbeiten sich einige an sakralen Mythen ab. Bei dem dreiflügeligen Altar des venezolanischen Künstlers Nelson Garrido umarmt die legendäre italienische Pornodarstellerin Cicciolina einen schwarzen Christus am Kreuz, dessen äußerer Erscheinung durch Heiligenschein aus Neon sowie drei wulstige Stoffpenisse die Krone aufgesetzt wird. Umrahmt wird das ungleiche Paar von einem conjunto aus Pin-Up Fotos, Puttenglanzbildern, Totenschädeln und anderen illustren Gestalten. Noch qualvoller für Aug` und Seele ist die Rauminstallation “Mea culpa” der argentinischen Künstlerin Kuki Benski. Ein gruftiger Raum mit Devolutionalien, altertümlichen Sado-Maso-Pornofotos und klerikalen Schriften, die vor Unzucht warnen: “No fornicarás!” Fast wie Inventar einer Geisterbahn erscheint der dazugehörige Altar. Der züchtigen Madonna ist eine nackte Brust aufgeklebt, die diese als Schwester jener nackten Sexpuppe outet, die davor mit verrenktem Körper und gefesselten Händen kniet. Die Frau als Hure oder Heilige, klassischer Ausdruck bürgerlicher Doppelmoral, die blasphemische Provokation als Gegenreaktion – nichts neues, aber immer noch aktuell, wenn man an die Rolle der katholischen Kirche in Lateinamerika denkt.
Um die “Ausrottung des Bösen” geht es auch bei den zwei Bildern der Brasilianerin Adriana Varejao: Zwei makabre Varianten stehen zur Auswahl: Exorzismus durch “Einschnitt” oder durch “Überdosis”. Zwei Leinwände, auf denen an Franciso Goyas Monster erinnernde dämonische Fabelwesen skizziert sind, werden auf grausige Art zerstört. Während bei der “Überdosis” zwei medizinische Infusionsständer eine blaue Flüssigkeit in die Leinwand injizieren, welche diese an einer Ecke aufplatzen und das Gift wieder ausbrechen läßt, ist das andere Bild unter das Messer eines Chirurgen geraten. Die Leinwand als blutige, klaffende Wunde, das herausgerissene Stück einer Leichenhaut gleich auf dem Seziertisch. Die Leinwand selbst erscheint als Opfer eines blindwütigen Eingriffs von außen, der das zerstört, was er angeblich retten will.
Von grotesker Gestalt sind die sieben Straßenhunde des Argentiniers Luis Freistav: Sie kratzen sich, sie scheißen, sie kopulieren – und verenden. Auf den ersten Blick wirken die Skulpturen aus Pappmaché fast wie mumifizierte Kadaver, fast meint man den Geruch der Armut, der Verwesung in der Nase zu spüren.
Indianischer Kult und Dadaismus
In dieser Verbindung von Material und Thema liegt der Schlüssel zu einigen der eindrucksvollsten Objekte: Statt edle Materialien zu verarbeiten, werden Versatzstücke der Realität zu Assemblagen montiert.
Diese Art des Arbeitens zeugt zum einen von einer Auseinandersetzung mit der europäischen Objektkunst der Moderne: 1917 hatten die DadaistInnen das Ende der bürgerlichen Kunst verkündet. Der Franzose Marcel Duchamp stellte einen industriell gefertigten Flaschentrockner auf ein Podest und erklärte diesen kurzerhand zur Kunst. Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Anti-Kunst entstand das Konzept des Materialbildes, der Installation, der Assemblage aus “objets trouvés”, vorgefundenen Gegenständen – mal kitschig, mal poetisch, mal geheimnisvoll, provozierend oder von brachialer Heftigkeit.
Die moderne Kunst Europas entstand allerdings auch nicht im luftleeren Raum. Bekannterweise kamen die entscheidenden Impulse für die deutschen ExpressionistInnen oder für Picassos Kubismus aus der sogenannten “primitiven” Kunst “exotischer” Kulturen. Frustriert vom blutleeren Akademismus der europäischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts, unternahmen viele KünstlerInnen ausgedehnte Fernreisen, um der müden Imagination wieder auf die Beine zu helfen. Dabei wurden zu Spottpreisen “Negerplastiken” oder Kultgegenstände erworben, im heimischen Atelier mit geringen Abwandlungen kopiert und als bahnbrechende künstlerische Neuentdeckung ausgegeben. Die Daheimgebliebenen konnten sich zumindest von den völkerkundlichen Sammlungen des Louvre, des Britischen Museums oder der Preussischen Museen inspirieren lassen, wo die geplünderten Kunstschätze europäischer Kolonien hinter Glas zu bewundern waren.
In vielen außereuropäischen Kulturen, darunter auch bei indigenen Völkern Südamerikas, gehört das, was wir heute als Objekte, Installationen oder Performances bezeichnen, zur kulturellen Tradition. So gruppieren die Xing-Indianer bei ihrem Kuarup-Fest bemalte Baumstämme zu “Environments”, die Cunas in Panamá bauen bei Heilungszeremonien ihre “Uchu”-Holzskulpturen installationsartig auf. Ganz zu schweigen von den vielen religiösen und ästhetischen Mischformen, die aus dem Aufeinandertreffen indigener, europäischer und afroamerikanischer Kulturen entstanden sind. Da entsteht nichts Eindeutiges, Gefälliges oder Eindimensionales, was sich auf den ersten Blick erschließen läßt.
Trotzdem bevorzugten jahrzehntelang gerade viele lateinamerikanische KünstlerInnen, denen an einer eigenständigen kulturellen Identität gelegen war, die gegenständliche Malerei. Bekanntestes Beispiel hierfür sind die mexikanischen muralistas, die Wandmaler im Umkreis von Diego Rivera. Eine innere Verbindungslinie zur Objektkunst liegt allerdings darin, daß auch die Wandgemälde bewußt den klassischen Kunstrahmen verlassen und sich auf alltägliches Terrain, in öffentliche Gebäude, auf die Straße begeben.
Mittlerweile scheint die Objektkunst gerade für junge lateinamerikanische Künstler eine ideale Möglichkeit zu sein, Realitätssplitter aufzugreifen und gegeneinanderzumontieren.
Objektkunst: Medium für Realitätssplitter
Hinzu kommen aber sicher auch ökonomische Motive: Material, das sich auf der Straße finden läßt, ist ein viel billigeres Arbeitsmittel als Leinwand, edle Hölzer oder Bronze. Auch der Transport ist oft nicht so aufwendig. So wurden im letzten Jahr, angesichts der wirtschaftlichen Engpässe der Biennale von Havanna, die auswärtigen KünstlerInnen gebeten, keine riesigen Skulpturen oder Leinwände zu schicken, sondern nach Möglichkeit an Ort und Stelle Installationen aufzubauen.
Die wirtschaftliche und politische Situation auf Kuba spiegelte sich auch auf andere Art in den Exponaten der Biennale 1994 wieder. Es wimmelte von Schiffen: Während Objekte wie die Konquistadorenboote von Marcos Lora Read aus der Dominikanischen Republik gewissermaßen die Nachhut des Gedenkens an die 500 Jahre Kolonialismus bildeten, enthielten die Boote einiger kubanischer KünstlerInnen eine recht explosive Fracht. So etwa die Assemblage “Die Regatta” von Alexis Leyva: Einer Völkerwanderung gleich, durchqueren unzählige kleine Boote aus Holz, Industriemüll und kaputten Gummilatschen den Raum. Gefährte, so schäbig und wakkelig wie die Boote, auf denen im gleichen Jahr, wo sich in Havanna die Kunstwelt traf, Tausende Kubaner versuchten, die Insel für immer zu verlassen. Noch deutlicher drückt sich die kubanische Künstlerin Sandra Ramos aus: “Migraciones” sind die beiden 1993 bemalten Köfferchen etikettiert, deren Innenfutter das Thema in einer Mischung aus naiver Verspieltheit und Grausamkeit illustriert. Während in dem einen noch ein Fischer träumend in seinem Kahn liegt und von Segeljachten, schnellen Autos und blonden Frauen träumt, beherbergt der zweite Behälter die bei der Flucht Ertrunkenen, deren Träume auf dem Meeresgrund zwischen Haien und alten Autoreifen ihr feuchtes Grab finden.
Flucht und geopferte Leidenschaften
Mit Tod und gescheiterten Träumen setzten sich auch die beiden großflächigen Fotocollagen “La pasión sacrificada” – “Die geopferte Leidenschaft” von Paolo Gasparini auseinander. Der gebürtige Italiener, der seit 1967 in Venezuela lebt, widmete sie zwei Legenden der lateinamerikanischen – und europäischen – Linken: Che Guevara und Tina Modotti. Rechteckige Schwarzweißfotos, zum Teil blutrot oder in kühlem Blaugrau eingefärbt, konfrontieren historische Fotos mit aktuellen Bildern aus Mexiko, wo die Fotografin und linke Aktivistin Tina Modotti jahrelang lebte, beziehungsweise aus Bolivien, wo Che Guevara als Guerillero starb. Ches toter Körper, aufgebahrt, begutachtet und aus verschiedenen Richtungen fotografiert, kontrastiert mit dem Foto eines ambulanten Postergeschäftes, wo die Ikone Che neben Madonnenbildchen und Rambopostern zum Verkauf aushängt. Noch komplexer die Collage zu Tina Modotti: Alltagsfotos aus dem heutigen Mexiko, das Porträt eines alten Mannes, Tinas schönes, ruhiges Gesicht neben einem Porträt von Emiliano Zapata, ihr nackter Körper auf einer Sonnenterasse, der am rechten Bildrand in das Bild eines erschossenen Arbeiters übergeht. Und ein Foto von einer Versteigerung im Londoner Kunstauktionshaus Sotheby: Nach ihrem Tod kommt Tina Modottis berühmtes Stilleben aus dem mexikanischen Bürgerkrieg mit Gitarre, Sense und Patronengurt unter den Hammer.
“Die geopferte Leidenschaft” oder “Die vermarktete Leidenschaft”: Wenn sich lateinamerikanische KünstlerInnen auf die internationalen Publikums- und Handelsmärkte begeben, müssen sie aufpassen, nicht auf Folklore, Armut oder Revolutionsromantik festgelegt zu werden. Die Ausstellung “Havanna – Sao Paulo” setzt derartigen Klischees eine schillernde Stil- und Themenvielfalt entgegen. Allerdings um den Preis, daß es auch schon wieder etwas unübersichtlich wird.
“Havanna – Sao Paulo: Junge Kunst aus Lateinamerika bis zum 5. Juni im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 030/397870