Kolumbien | Nummer 497 - November 2015

Countdown mit Hindernissen

In sechs Monaten soll der Frieden zwischen FARC und Regierung stehen

Der Tag X steht fest: Das Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung und den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) muss spätestens am 26. März 2016 unterzeichnet werden. Dies kündigten Präsident Juan Manuel Santos und der Oberbefehlshaber der FARC, Timoleón Jiménez, am 23. September in Havanna an, als sie die Verhandlungen über die Übergangsjustiz beendeten.

Daniela Rivas

Zusammengeführt vom kubanischen Präsidenten Raúl Castro gaben sich Juan Manuel Santos und Timoleón Jiménez am 23. September zum ersten Mal die Hand. So nah waren sich die FARC und die Regierung seit 2001 nicht mehr gekommen.
Der kolumbianische Präsident und der Oberbefehlshaber der FARC kündigten den unvermeidlichen Countdown an, gegen den sich Santos seit Beginn des Friedensprozesses vehement gewehrt hatte. „Nichts ist beschlossen, bis alles vereinbart worden ist”, wiederholte er wie ein persönliches Mantra im Laufe der zahlreichen Krisen während der Verhandlungen. Doch jetzt scheint es so weit zu sein, in den nächsten sechs Monaten wird über den letzten Punkt der Agenda diskutiert: das Ende des bewaffneten Konflikts.
Die historische Ankündigung wurde weltweit gefeiert, doch in Kolumbien trat sie schnell wegen eines anderen Themas in den Hintergrund. Seit Juli verhandelte die Regierung mit der FARC das sensibelste Thema der Gespräche, die Schaffung einer Übergangsjustiz. Dieser fünfte Teil der Agenda ist nun als Teilabkommen vereinbart worden. Er beinhaltet die Regelungen für die Strafverfolgung und möglichen Amnestien sowohl für Gueriller@s als auch für Soldat*innen der kolumbianischen Streitkräfte.
In dem am 23. September veröffentlichten Kommuniqué heißt es, dass nach der Unterzeichnung des Abkommens ’Sondergerichtshöfe für den Frieden‘ gegründet werden. Die überwiegend kolumbianischen Richter*innen sollen angemessene Strafen für Menschenrechtsverletzungen während des Konflikts verhängen. Entführungen, Zwangsumsiedlungen, Massaker, sexuelle Übergriffe, Folter und andere Straftaten werden voraussichtlich mit fünf bis acht Jahren Gefängnis bestraft. Wenn die Verantwortlichen ihre Beteiligung an den Verbrechen innerhalb einer bestimmten Frist gestehen, dürfen sie die Strafe in gesonderten Gebieten auf dem Land absitzen. Dort sollen sie für die Gemeinden arbeiten, Landminen entfernen und dabei helfen, die Landwirtschaft wieder aufzubauen. Täter*innen, die ihre Aussage nach dem Fristablauf einreichen, müssen die Strafe in regulären Gefängnissen verbüßen. Wer die Aussage verweigert, dem*der drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Bei mit der Rebellion verbundenen Straftaten ist eine Amnestie immerhin möglich. Dies und die relativ niedrigen Strafen wurden von der Opposition, Menschenrechtsorganisationen und großen Teilen der Bevölkerung scharf kritisiert. Einen Tag nach dem Treffen in Havanna bestätigte der Obergerichtshof Kolumbiens, dass beispielsweise der Drogenhandel als politische Straftat verstanden werde. Da das Geld die Kämpfer*innen und somit den Aufstand der FARC finanziere, könnten bis zu 15.000 Gueriller@s die Strafen komplett erlassen werden.
Auch der Ex-Präsident und jetzige Senator Álvaro Uribe meldete sich zu Wort und behauptete, dass es ohne eine Gefängnisstrafe keinen Frieden und keine wahre Entschädigung für die Opfer geben könne. Außerdem würde die Straflosigkeit für neue Gewalt sorgen, da zukünftige „Terroristen“ nicht von härteren Strafen abgeschreckt würden, behauptete er in einer öffentlichen Rede. Im gleichem Atemzug warf Uribe der Regierung vor, mit diesem Abkommen das Militär mit Terrorist*innen gleichzusetzen. Die Soldat*innen als die Hüter*innen der Nation verdienten „eine würdige und unabhängige Aufarbeitung ihrer Rolle im Konflikt”. Mit dem jetzigen Abkommen würden die Streitkräfte gezwungen, Taten zu gestehen, die sie nicht begangen hätten, behauptete der Ex-Präsident.
Uribes Forderungen sind allerdings nicht selbstlos. Der Sondergerichtshof für den Frieden könnte gegen den Ex-Präsidenten ermitteln, wie Generalstaatsanwalt Eduardo Montealegre in einem Interview im Nachrichtensender Caracol erklärte. Uribe steht unter Verdacht als Gouverneur des Departamentos Antioquia die Herausbildung von Paramilitärs zwischen 1995 und 1997 begünstigt zu haben. Außerdem wird ihm vorgeworfen, über die Planung des Massakers „El Aro“ informiert gewesen zu sein, bei dem Paramilitärs im Jahr 1997 Frauen vergewaltigten und 19 Menschen ermordeten.
Die Frage, ob gegen Präsident Juan Manuel Santos ein Verfahren wegen der “falsos positivos” (falsche Erfolge) eingeleitet werden kann, ist immer noch offen. Als „falsos positivos“ werden Ermordungen an Zivilist*innen bezeichnet, welche die kolumbianische Armee verübte, um die Statistiken im Kampf gegen Guerilla-Gruppen zu beschönigen. Santos war von 2006 – 2009 unter der Präsidentschaft von Uribe Verteidigungsminister.
Zur Zeit laufen gegen 10.000 Soldat*innen Ermittlungsverfahren wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen. 5.000 davon stehen im Zusammenhang mit den “falsos positivos”. Diese willkürlichen Hinrichtungen werden von Amnestien ausgeschlossen. Den Täter*innen drohen laut Montalegre reguläre Freiheitsstrafen, die gemildert werden können, wenn die Beschuldigten bei den Ermittlungen kooperieren.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert, das Abkommen enthielte keine tatsächliche Freiheitsstrafe für hochrangige Gueriller@s. Es sei schwer vorstellbar, dass die in Kuba entworfene Übergangsjustiz „der kritischen Prüfung des kolumbianischen Verfassungsgerichts oder, in letzter Instanz, des Internationalen Gerichtshofes standhalten wird”, sagte der für Lateinamerika zuständige Direktor José Miguel Vivanco.
Dieses Ergebnis ist keine Überraschung. Bereits vor Beginn der Gespräche waren die Forderungen der FARC an die Übergangsjustiz und ihre Erwartungen an die Verhandlungen klar: Die Gueriller@s würden kein Abkommen unterzeichnen, das sie jahrelang hinter Gitter brächte. Gerade durch den Friedensprozess sollten sie die Möglichkeit erhalten, sich zu resozialisieren, wieder in die Gesellschaft einzugliedern und in der Politik zu beteiligen. Aber davor fürchten sich viele im Land.
Obwohl die Friedensgespräche in der Bevölkerung gerade jetzt auf mehr Zuspruch stoßen, zweifeln viele zunehmend an der Resozialisierung von Guerilla-Kämpfer*innen und an deren sinnvollen Beteiligung an der Politik. Laut einer Umfrage des Unternehmens Ipsos Napoleon Franco halten 72 Prozent der Befragten die Versprechen der FARC für unglaubwürdig und 80 Prozent lehnen es grundsätzlich ab, dass hochrangige Gueriller@s wie Timoleón Jimenez einen Sitz im Senat bekommen könnten. Immerhin 51 Prozent der Befragten stimmen der Kritik von Senator Uribe zu.
Sechs Monate sind wenig Zeit, um einen 51-jährigen Konflikt zu beenden. Obwohl in Havanna Fortschritte gemacht wurden und das Ende zum Greifen nah wirkt, müssen noch die Wähler*innen und der Senat überzeugt werden. Kolumbien bereitet sich gerade auf die Kommunalwahlen vor. Das heißt, dass die am 25. Oktober gewählten Bürgermeister*innen und Gouverneur*innen die Aufsicht über die mögliche Resozialisierung der Gueriller@s haben werden. Die Ergebnisse der Wahlen könnten Auskunft darüber geben, inwieweit die Kommunen dazu bereit sein werden, die FARC-Mitglieder aufzunehmen – was wiederum Einfluss auf den Erfolg der jetzigen Gespräche haben wird. Viele Analyst*innen im Land messen den Friedensgesprächen große Bedeutung zu und sagen, so eine Chance gebe es nicht zweimal.
Im besten Fall eröffnen erfolgreiche Verhandlungen und das Ende des Konfliktes eine Möglichkeit für die gespaltene Gesellschaft, sich mit einem stigmatisierten Gedankengut auseinanderzusetzen und einen dynamischen sozialen Diskurs in Richtung Frieden in Gang zu bringen.

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