Das Heft in der Hand
Arbeiter*innen im Widerstand übernehmen ihre Druckerei
Kräftig und laut schlägt das Herz der Druckerei. Es ist eine aus den 1980er Jahren stammende Offset-Druckmaschine. Auf der einen Seite werden ihr kilometerlange Papierrollen zugeführt und auf der anderen spuckt sie am Fließband säuberlich bedruckte und gefaltete Bögen aus. In Blau gekleidete Arbeiter*innen nehmen diese vom Band, laden sie auf Hubwagen und transportieren sie weiter in die Binderei.
Das alte Herz heizt ihnen gut ein. Auf über 35°C kann die Druckmaschine die Temperatur in der Halle ansteigen lassen. Geruch von warmen Papier liegt in der Luft. Wie in jeder anderen Druckerei scheint der Alltag hier zu laufen. Doch kleine Details machen stutzig.
Der Ständer der Stechuhrkarten ist mit Staub bedeckt und eine kleine Spinne hat es sich zwischen den Karten gemütlich gemacht. Die Drehkreuze, die einst den Bürobereich von den Produktionshallen trennten, sind stillgelegt. An der Empfangstheke sitzt ein bärtiger Mann mit einem Becher Matetee in der Hand. Auf einem Stapel von Papieren stehen zwei Megafone neben einem dudelnden Radio. Weit und breit sind keine in Anzüge gekleidete Büroangestellte oder Chefs zu sehen. Das einstige Großraumbüro wurde zu einem Versammlungsraum umfunktioniert und vom Dach der Fabrik hängen bunte Transparente.
Wie in jeder anderen Großdruckerei laufen die Dinge hier nicht. Nicht mehr. Am 12. August 2014 wurde die argentinische Niederlassung des global agierenden Druckereiunternehmens R.R. Donnelley von den Arbeiter*innen übernommen.
Ginge es nach dem Willen des rechtlichen Eigentümers der größten argentinischen Druckerei, würden hier längst alle Räder still stehen. Anfang August standen die 400 Arbeiter*innen vor dem verschlossenen Tor der Fabrik. Auf einem kleinen, in das Fenster geklebten Brief mussten sie lesen, dass sie alle fristlos entlassen seien. Aus „krisenvorbereitenden Maßnahmen“. Doch heute rattern die Räder der Druckerei wieder und das endlose Papier läuft über hunderte von Rollen, Pressen und Schneidemaschinen.
Am Ende jeder Schicht sammeln sich alle Arbeiter*innen vor der Theke des Pförtners zum Plenum. Es wird über den Arbeitsfortschritt gesprochen, aufgetretene Probleme und gegebenenfalls Fehlverhalten von Kolleg*innen diskutiert. Bei gröberem Fehlverhalten ruft das Schichtplenum die betreffenden Kolleg*innen zur Ordnung. Der Schichtleiter wird im Plenum aus den Arbeiter*innen gewählt und nicht mehr wie vorher von der Unternehmensleitung eingesetzt.
Mit welcher Geschwindigkeit laufen die Maschinen? Wie organisieren wir die Produktionsabläufe am besten? Diese Fragen werden heute von den Menschen beantwortet, die in den entsprechenden Bereichen arbeiten und die Realität der Fabrik nicht nur aus Bilanzen und Statistiken kennen.
Die Versammlung löst sich auf. Aus der Menge kommt ein dünner Mann mit einem schmalen Gesicht auf mich zu. Seine braunen Augen wirken nachdenklich und ein wenig traurig. Statt vom Chef werde ich von einem Stellvertreter des Betriebsrates empfangen, dem Drucker Christian. Mit ihm kommt Bobby, ein junger, sehr kräftig gebauter Mann mit rundem Gesicht.
Die meisten anderen Arbeiter*innen stellen sich in einer Reihe vor den Ausgang. Der Pförtner wirft einen flüchtigen Blick in ihre Rucksäcke, bevor sie nach Hause gehen. Nach fünf bis acht Stunden enden ihre Schichten. Je nachdem, wie die Auftragslage ist.
Vor fünf Jahren wurde hier noch anders gearbeitet, erzählt Christian. Bis zu zwölf Stunden dauerte ein Arbeitstag. Oft musste bis zu sieben Tage die Woche gearbeitet werden. Christian zieht die Stirn hoch. „Die Kollegen hier waren lange in der Fabrik eingeschlossen. Sie haben den Kontakt zu ihren Familien und Kindern verloren.“ Die damaligen Löhne waren so gering, dass die Arbeiter*innen unzählige Überstunden machen mussten, um ihre oft großen Familien durchzubringen.
Das Unternehmen lagerte dazu immer mehr Arbeitsplätze und Aufträge aus, um die Lohnkosten noch weiter zu senken. „Durch all diese Arbeitsbedingungen wurde uns bewusst, wie wichtig es ist, die Wochenenden zu Hause zu sein. Und wir begannen, für den 8-Stunden-Tag zu kämpfen“, erinnert sich Bobby. Neben einem harten Arbeitskampf für einen höheren und gleichen Lohn, sowie die Zahlung eines Weihnachtsgeldes, kämpften sie für die Übernahme der Reinigungskräfte in die Stammbelegschaft. „In diesem Kampf haben wir es geschafft, ein Klassenbewusstsein unter unseren Kollegen zu schaffen. Das Bewusstsein, über die Probleme unseres eigenen Lebens hinaus immer daran zu denken, dass wir selber nicht gerne in der Situation einiger anderen Kollegen wären. Und dass wir für den, der am wenigsten hat, kämpfen müssen.“ Der erst 23-jährige Bobby hat eine von Sorgenfalten gefurchte Stirn. Er scheint viel älter. Die harte Arbeit, der Stress der vielen Arbeitskämpfe und die Angst haben ihn, so scheint es, früh altern lassen. Die Angst, den Job zu verlieren. Krank zu werden und so nicht mehr den Lebensunterhalt für seine dreiköpfige Familie zu verdienen.
Doch den vorherigen privaten Eigentümer interessierte nur, wie er die größten Gewinne erwirtschaften konnte. Mitarbeiter*innen wurden bei Krankheiten einfach ausgetauscht. Heute ist der Arbeitsdruck im Vergleich wesentlich geringer. Die Arbeitszeiten sind kürzer, Urlaubsgenehmigungen werden ziemlich spontan von der Schichtleitung erteilt und die Unfallquote konnte gesenkt werden.
Wenn jemand seiner alten Tätigkeit aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mehr nachgehen kann, wird er oder sie – statt entlassen – auf einen angemesseneren Posten im Betrieb versetzt. Es wird probiert, nach dem Prinzip „jeder nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen“ zu produzieren.
Bis zu dieser Situation war es ein weiter Weg. Anfang der 1990er Jahre wurde die Gewerkschaft der Druckerei zerschlagen. Das folgende Jahrzehnt war geprägt von einer neoliberalen Offensive der Regierungen und zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen. Vor acht Jahren begann eine Handvoll Arbeiter*innen, die Gewerkschaft neu aufzubauen. Anfangs trafen sie sich in vor der Unternehmensleitung geheim gehaltenen Versammlungen. Neben gewerkschaftlichen Fragen diskutierten sie über Ökonomie sowie nationale und internationale Politik. Die Gruppe wuchs rasch und organisierte sich als gewerkschaftlich-politische Strömung im Betrieb. Sie stießen erste Arbeitskämpfe für einen Betriebsrat und den 8-Stunden-Tag an und organisierten sich fortan in der basisdemokratischen Gewerkschaftsgruppe „Orangene Liste“, die sich der organisierten rechten Gewerkschaftsbürokratie der „Grünen Liste“ widersetzt. Es folgten Streiks für Lohnerhöhungen und für die Übernahme von Leiharbeiter*innen in die Stammbelegschaft. Sie führte jedoch nicht nur Kämpfe um betriebsinterne Angelegenheiten. An Solidaritätsstreiks und gemeinsame Demonstrationen mit anderen Gewerkschaften wie „Kraft Foods“, den Eisenbahner*innen von Roca oder den Erdölarbeiter*innen von „Las Heras“ nahmen sie ebenso teil. Nach schweren Überschwemmungen beteiligte sich die Gewerkschaft an dem Wiederaufbau der benachbarten Armenviertel.
Auch in der sexuellen Gleichberechtigung konnten sie einige Verbesserungen durchsetzen. Das Unternehmen beschäftigte in der Produktion aus Prinzip nur Männer. Doch 2012 wurde durch ein Versehen die Transfrau Tamara eingestellt. Nur als Mann verkleidet hätte sie die Arbeitsstelle bekommen. Der Betriebsrat solidarisierte sich mit ihrem Kampf für Gleichberechtigung. Neben einem erfolgreichen Abbau von Vorurteilen in der Belegschaft konnten sie gemeinsam durchsetzen, dass Tamara in der von ihr gewünschten Kleidung zur Arbeit kommen kann. Mit Rock und Handtasche.
Die kämpferische und politische Gewerkschaftsströmung wurde der Chefetage schnell ein Dorn im Auge. Im Jahre 2012 verlangten die Arbeiter*innen eine Lohnerhöhung, um die rasant steigende Inflation auszugleichen. Die Unternehmensleitung lehnte Verhandlungen ab. Sie argumentierte, das Unternehmen sei in „ökonomischer Schieflage“ und müsse sich auf die nächste Krise vorbereiten. Zahlen legte sie jedoch nicht vor. Kurz darauf beantragte das Unternehmen staatliche Hilfeleistungen aus dem „Repro-Fonds“. Schwächelnde Firmen werden durch dieses Programm zur Wiederherstellung der Produktivität (Programa de Recuperación Productiva) vom argentinischen Staat mit 2.000 Pesos, circa 190 Euro, pro Arbeiter*in subventioniert. Im Gegenzug verpflichten sich die Arbeitgeber*innen, einstweilig auf unbegründete Entlassungen zu verzichten.
„Wir haben beanstandet, dass sich das Unternehmen die Repro-Gelder erschlichen hat. Das Unternehmen war nicht in finanzieller Schieflage!“ Bobby beugt sich auf seinem Holzstuhl leicht nach vorne und beginnt, heftig zu gestikulieren. „Der Staat subventioniert so eine Lohnsenkung. Der Repro diente einzig dazu, Entlassungen vorzubereiten und die Gewerkschaft zu zerschlagen!” Aber keine staatliche Stelle schenkte den Beschwerden der Arbeiter*innen Aufmerksamkeit.
Seit Anfang 2014 bemerkten die Arbeiter*innen dann, wie der Druck der Unternehmensleitung auf sie wuchs. Immer wieder verlangten die Chefs – unter Androhung von Entlassung – das Tempo der schon zu schnell laufenden Maschinen weiter zu erhöhen. Die Techniker weigerten sich. Die Stimmung wurde immer angespannter und offen feindselig. Im Mai verbarrikadierte das Unternehmen die Fabrik und ihre Büros mit Gittern. Alle Arbeiter*innen erwarteten eine bevorstehende Entlassungswelle.
Mitte Juni legte die Unternehmensleitung auf einer Betriebsversammlung die Kündigungspläne auf den Tisch. „Sie wollten 123 Arbeiter entlassen.“ Christian wird laut und energisch: „Doch wir entgegneten: Wenn sie einen von uns angreifen, greifen sie uns alle an. Und dass hier niemand entlassen wird!“ Es folgten viele Versammlungen der Belegschaft, auf denen sie diskutierten, wie die Entlassungspläne abgewehrt werden könnten. Im Falle einer möglichen Schließung wurde eine Übernahme durch die Arbeiter*innen diskutiert. Doch kaum eine*r konnte sich vorstellen, dass Donnelley so weit gehen würde. Verblüfft waren sie, als die Morgenschicht am Sonntag, den 10. August 2014 vor verschlossenem Tor stand. Der im Fenster hängende Brief schien sie alle verhöhnen zu wollen. Die Unternehmensleitung verkündete in drei Sätzen die Schließung der Fabrik und die fristlose Entlassung aller Angestellten. Sofort organisierten sie eine Wache, um den Abtransport der Maschinen zu verhindern. Die Vollversammlung am nächsten Tag beschloss, die Fabrik weiterzuführen. Unter Kontrolle ihrer Arbeiter*innen.
Übernahmen dieser Art haben in Argentinien eine gewisse Tradition. Während der großen Wirtschaftskrise 2001 wurden über 160 Fabriken von ihrem Personal übernommen und in Kooperativen umgewandelt. Die meisten mussten jedoch wegen zu hohem ökonomischen Druck im Laufe der Jahre schließen oder wurden von ihren alten Eigentümer*innen zurückgewonnen. Der Keramikhersteller Zanon gehört zu den Ausnahmen. Nach einem langen Kampf enteignete das Provinzparlament 2009 den alten Eigentümer der Fabrik und überschrieb sie der Kooperative.
Mit dieser Keramikfabrik standen die Arbeiter*innen von Donnelley seit dem ersten Tag der Übernahme in regem Austausch. Raúl Godoy – Gewerkschaftsführer von Zanon und Abgeordneter der PTS (Partei der Sozialistischen Arbeiter) – besuchte die Arbeiter*innen von Donnelley mehrfach. Der gemeinsame Erfahrungsaustausch bekräftigte diese, die Fabrik in eine Kooperative umzuwandeln, jedoch als Ziel eine Verstaatlichung unter Arbeiter*innenkontrolle zu fordern. „Warum fordern wir die Verstaatlichung? Weil wir die Möglichkeit haben, Bücher zu drucken. Für die arme Bevölkerung unseres Landes. Wir können gratis Schreibhefte an den Schulen der armen Stadtteile verteilen.“
Nachdem der Eigentümer von Donnelley die Fabrikschließung bekannt gab, meldete sich die argentinische Präsidentin Christina Fernández de Kirchner zu Wort. In einer TV-live-Übertragung beschuldigte sie die Eigentümer des Betruges und drohte das Anti-Terrorgesetz gegen sie anzuwenden. Von den radikalen Drohungen, welche selbst die Arbeiter*innen von Donnelley verurteilten, rückte die Regierung schnell wieder ab. Stattdessen wurde das Insolvenzverfahren weitergeführt, die Lohnzahlungen eingefroren und die Schaffung der Kooperative durch die Insolvenzverwaltung lange verhindert.
Ohne eine breite Solidaritätskampagne, die vor allem die Frauen der Arbeiter organisierten, wäre es wohl so gekommen. Zwar sprangen Abgeordnete der PTS schnell mit großzügigen Spenden für die Streikkasse ein, doch der finanzielle Bedarf konnte damit nicht gedeckt werden. Das Frauenkomitee ging von Universität zu Universität, hielt dort Vorträge und sammelte Spenden. Sie warben um Solidarität bei anderen Gewerkschaften und gingen in Großmärkte, um kollektiv Essen zu kaufen. Immer wieder diskutierten sie untereinander und mit den Männern die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Fabrik. Ohne sie hätte die Arbeiter*innenkontrolle wohl keinen Monat durchgehalten. Denn von welchem Geld sollten die hungrigen Mäuler zu Hause gestopft werden?
Von den Universitäten kam – neben Sach- und Geldspenden – viel intellektuelle Hilfe. Wirtschaftsstudent*innen der Universität von Buenos Aires führten die Arbeiter*innen von Donnelley in die Buchführung ein. In Mendoza bewirkten Studierende und Lehrende, dass künftig alle Publikationen der Universität bei Donnelley gedruckt werden. Ähnliche Abkommen wurden auch mit einzelnen Lehrer*innenverbänden getroffen.
Die Kooperative gewann so einige neue Kunden. Gewerkschaftliche Solidarität hilft ihr, ihre wichtigsten Alt-Kunden zu halten: die Drucker*innen aller anderen Großdruckereien weigern sich, Erzeugnisse der Ex-Donelley-Kunden zu produzieren.
Bobby und seine Kolleg*innen fragen sich jetzt, für was sie ihre Maschinen eigentlich nutzen wollen. Nur um mit ihnen Geld zu machen? Oder auch um mit ihnen Probleme ihres Landes zu lösen? 10.000 kostenlosen Schreibhefte haben sie bereits an den Schulen der ärmsten Nachbarbezirke verteilt.
Er ist sichtlich stolz auf das, was sie geschaffen haben. Sie zeigen, dass Produktionsmittel nicht per se privat sein müssen. Und vielleicht auch, dass es Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise gibt.
Ohne Hektik nimmt Bobby dicke Stapel einer Broschüre vom Fließband und legt sie auf eine Palette. Ein Kollege, der die Palette auswechseln will, stellt sich kurz mit ihm ans Band und hilft. Sie witzeln und verabschieden sich mit einem Lachen. Bobby lehnt sich an die Maschine, um kurz zu verschnaufen. Mit dem Ärmel wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Weißt du, die Fabrik soll doch nicht dazu da sein, uns auszubeuten. Sondern um uns allen ein besseres Leben zu gewährleisten!“