Dossier | Solidarität

INSPIRATIONSQUELLE WIDERSTAND

Notizen über Solidarität sozialer Bewegungen in und aus Lateinamerika

Internationale Solidaritätsbewegungen bestehen nicht nur im globalen Norden, sondern auch innerhalb Lateinamerikas. Der argentinische Bewegungsforscher Juan Wahren schlägt eine Brücke von den historischen Anfängen zur Aktualität und benennt die Besonderheiten lateinamerikanischer Solidarität

Juan Wahren; Übersetzung: Caroline Kim

Unter den zahlreichen Beispielen lateinamerikanischer Solidarität, die mit der Solidarisierung der Arbeiter*innenkämpfe in Europa und den USA Ende des 19. Jahrhunderts begannen, sind die beiden vielleicht wichtigsten historischen Beispiele der Spanische Bürgerkrieg (1936 bis 39) und die Kubanische Revolution (1953 bis 59). Während des Spanischen Bürgerkriegs zeigte Lateinamerika, besonders Mexiko, Argentinien und Uruguay, Solidarität durch die Aufnahme tausender republikanischer Flüchtlinge. Auch an den Fronten kämpften lateinamerikanische Brigaden gegen das Fortschreiten des spanischen Faschismus. Die Kubanische Revolution inspirierte ebenfalls Gruppen auf dem ganzen Kontinent, sich mit dem bewaffneten Widerstand zu solidarisieren und die revolutionären Kämpfe in den eigenen Ländern zu intensivieren. Im Spanischen Bürgerkrieg waren die solidarischen Aktivitäten eher „traditioneller“ Art gewesen: Es ging darum, Diskurse zu verbreiten und die Prozesse mit Geld oder Brigaden zu unterstützen. Im Gegensatz dazu begannen die Solidaritätsgruppen im Fall der Kubanischen Revolution bald damit sich zu radikalisieren. Dieser Prozess führte zur Übernahme der Praktiken und Ziele der Revolution, um diese in den eigenen Ländern umzusetzen. Dies ist eine „erweiterte“ Form der Solidarität: Hier gehen Gruppierungen vom Bekanntmachen und Unterstützen dazu über, sich die Widerstandsmethoden, Ziele und Forderungen der politischen Prozesse zu eigen zu machen. Die interessanteren Prozesse sind dabei jene, bei welchen die besonderen lokalen Eigenschaften, die verschiedenen politischen Konjunkturen und strukturelle Bedingungen beachtet werden, statt dogmatische Rezepte linear auf eigene Territorien zu übertragen. Wenn Solidaritätsgruppen die Erfahrung, mit der sie sich solidarisiert haben, als Inspirationsquelle nutzen, um sie entsprechend der eigenen Forderungen, Kontexte und Subjekte zu (re)kreieren, werden ausgehend von diesen Prozessen zukünftige Kämpfe entworfen.
Ein Großteil der Solidaritätserfahrungen, die sich nach der Kubanischen Revolution in und von Lateinamerika aus ergeben haben, nahmen diese Form der „erweiterten“ Solidarität an. Die Gruppen „traditioneller“ Solidarität bestehen bis auf Ausnahmen nicht lange fort. Denn der solidarische Widerstand dient als Inspiration für die Herausforderungen, denen sich die Personen und Gruppen in ihren eigenen Kontexten gegenübersehen. Solidaritätsgruppen verwandeln sich so in Resonanzräume für die Schaffung neuer Organisationen und nähren dadurch den Widerstand der eigenen lokalen sozialen Bewegungen, die sich Strategien aus anderen Regionen als Beispiel nehmen. Kuba ist das Paradebeispiel dieser Logik. Ähnliches konnte man während der Sandinistischen Revolution 1979 in Nicaragua sehen, in jüngerer Zeit bei den Protestbewegungen von Indigenen und Landwirt*innen in Bolivien, Ecuador und Kolumbien oder dem bolivarianischen Prozess in Venezuela, vor allem aber bei der zapatistischen Rebellion in Mexiko.
Eine Besonderheit sozialer Bewegungen und solidarischer Gruppen in Lateinamerika ist die Fähigkeit, Netzwerke des Widerstands „von unten“ zu erschaffen, in denen Begegnungsräume für das Wissen und die Erfahrungen des Widerstands entstehen, sowie Kampagnen für punktuelle Forderungen koordiniert werden, die soziale Bewegungen und Subjekte verbinden. Beispiele hierfür sind eine Vielzahl von sozialen Bewegungen, die im Jahr 1992 zur Kampagne „500 Jahre indigener, schwarzer und populärer Widerstand“ aufkamen und sich den offiziellen 500-Jahres-Feierlichkeiten der „Entdeckung Amerikas“ durch Europa entgegenstellten. Diese Kampagne machte die Kämpfe und Forderungen der Indigenen, Schwarzen und Landwirt*innen in ganz Lateinamerika sichtbar und vernetzte die Bewegungen untereinander, die bis dahin zerstreut und unsichtbar gewesen waren.
Die Treffen, die Mitte der 1990er Jahre von den Zapatistas „Für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus“ ins Leben gerufen wurden, brachten die Solidarität von tausenden Aktivist*innen und sozialen Bewegungen Lateinamerikas und der ganzen Welt ins aufständische zapatistische Gebiet im südmexikanischen Chiapas. Diese waren auch unmittelbarer Vorläufer des Weltsozialforums in Porto Alegre. Seit den 2000er Jahren vernetzen sich dort tausende soziale Bewegungen aus der ganzen Welt. Diese Begegnungen begünstigten wiederum die Schaffung der Lateinamerikanischen Koordinationsstelle der Kleinbäuerlichen Organisationen (CLOC), die sich auf globaler Ebene im Netzwerk Vía Campesina artikuliert, in dem sich hunderte kleinbäuerliche Organisationen der Welt im Kampf um Ernährungssouveränität und die Integrale Agrarreform zusammenfinden.
Diese Verkettung zeigt der „globalen Gesellschaft“, dass in Lateinamerika konkrete Alternativen zum kapitalistischen hegemonialen System existieren. Auch wenn diese bisher nur lokal in Erscheinung treten, haben sie durch die Netzwerke des Widerstands das Potenzial zu wachsen und sich zu globalisieren. So hat die Parole „Besetzen, Widerstand leisten, Produzieren“ der brasilianischen Landlosenbewegung MST die Methodologie des Widerstands im urbanen Raum in Ländern wie Argentinien, Mexiko und Brasilien inspiriert. Auch die Räte der Guten Regierung und die praktizierte Autonomie in den zapatistischen Territorien reproduzieren sich in marginalisierten Stadtvierteln und kleinbäuerlichen und indigenen Territorien an verschiedenen Orten Lateinamerikas.
Der Widerstand gegen die Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA hat zur Gründung des Netzwerks „ALBA der sozialen Bewegungen“ geführt, in dem sich einige der wichtigsten sozialen Bewegungen der Region miteinander verbinden. Darunter die brasilianische MST, Teile der piqueter@s in Argentinien und die urbanen und ländlichen Bewegungen in Venezuela. Die Artikulation fand hier zwischen den sozialen Bewegungen statt, aber auch mit den Regierungen, die von sich selbst und von den Bewegungen als „populare Regierungen“ charakterisiert wurden. Mit der Stärkung des auf Rohstoffausbeutung gestützten Wirtschaftsmodells in fast allen diesen Ländern, haben sich jedoch die Widersprüche zwischen Regierungen und sozialen Bewegungen verschärft.
Gegen die Megaprojekte der „regionalen Integration“ wie der IIRSA oder dem Plan Puebla Panamá und die mit dem Agrobusiness verbundenen multinationalen Extraktivismuskonzerne kommen aktuell verschiedene Netzwerke von sozialen Bewegungen von Landwirt*innen, Indigenen, Umweltgruppen, Jugendlichen und Studierenden, engagierten Künstler*innen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteur*innen zusammen. Sie schlagen konkrete Alternativen vor, um die strittigen Gebiete, die von den Firmen geplündert werden sollen, zu bewohnen, zu kultivieren und umzudeuten.
Diese Meilensteine der Solidarität haben eine sehr starke politische Kultur hinsichtlich eines regionalen und globalen Blickwinkels auf die Kämpfe der verschiedenen sozialen Bewegungen Lateinamerikas geprägt. Nicht ohne Schwierigkeiten haben sie sich mit anderen regionalen und globalen Bewegungen solidarisiert und versuchen – in den Worten des portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos – eine Art „Ökologie des Wissens“ zu erschaffen, die es ihnen ermöglicht, sich gegenseitig zu unterstützen und ihre Kämpfe durch den Austausch von Wissen und Organisationsformen zu potenzieren.
Unter den Bewegungen der letzten Jahrzehnte hat der Neozapatismus in Mexiko, ausgehend vom Aufstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) im Jahr 1994, die größte Solidarität in Lateinamerika und der restlichen Welt geweckt. In der Folge spielten Internet und soziale Netzwerke für die Verbreitung eine ausschlaggebende Rolle. Die jüngst verstorbene argentinische Agrarsoziologin Norma Giarraca pflegte – die Idee des „kurzen Jahrhunderts“ von Eric Hobsbawn paraphrasierend – zu sagen, dass das 20. Jahrhundert für Lateinamerika mit der Mexikanischen Revolution von 1910 begonnen und mit der Zapatistischen Rebellion von 1994 geendet hat. Die Zapatistas haben die Hoffnung der sozialen Kämpfe Lateinamerikas und der Welt wiederhergestellt, die durch die erlittenen Zusammenbrüche zwischen den 1960er und 80er Jahren in verschiedenen Regionen der Welt zerschlagen schienen. Denn der Zerfall des „Realsozialismus“ und die Hegemonie des Neoliberalismus hatten Alternativen zum Freien Handel, der Privatisierung des Öffentlichen, der Flexibilisierung der Arbeit und der fortschreitenden Rohstoffausbeutung weitgehend unmöglich erscheinen lassen.
Mit seinem „Ya basta“ („Es reicht“) hat der Zapatismus breite Teile der Linken und der populären Bereiche der Gesellschaft aufgerüttelt. Ihr radikales Programm kritisierte auch die eigenen Organisationsformen und setzte Köpfe und Herzen in Bewegung, wie es schon lange nicht mehr auf unserem Kontinent geschehen war. Dies gilt sowohl für die organisatorische Logik, die an eine größere Horizontalität in der Entscheidungsfindung gebunden ist, als auch für die mehr oder weniger radikalen Ideen rund um die Autonomie von Staat und politischen Parteien. Es geht darum, den Begriff der Würde umzudeuten, „gehorchend zu befehlen“ und um die Schaffung von möglichen Alternativen zum Kapitalismus – im Hier und Jetzt. Das bedeutet, nicht auf die „Stunde der Revolution“ zu warten, die allen Unterdrückungen ein Ende setzen wird, sondern dass jede*r gemäß Ort und Zeit die Möglichkeit sucht, diese zukünftigen Welten umzusetzen.

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