„Das Organisierte Verbrechen ist Teil des Staates”
Interview mit der Menschenrechtsaktivistin Imelda Marrufo und der Anwältin Andrea Medina
Erst seit 1993 werden in Ciudad Juárez Gewalttaten gegen Frauen systematisch erfasst. Handelt es sich bei den sogenannten Feminiziden um individuell motivierte Straftaten oder um ein strukturelles Phänomen?
Andrea Medina: Wir verstehen Feminizide als die strukturelle Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. In Mexiko existiert eine Kultur, in der das Leben von Frauen weniger wert ist als das von Männern. Das heißt nicht, dass es zum Mord kommen muss, sondern dass das Leben der Frauen in Gefahr gebracht wird. Die Gewalt äußert sich zwar auch auf individueller Ebene. Aber in erster Linie existieren Strukturen, die die Morde nicht nur ermöglichen, sondern auch begünstigen.
Welche Strukturen sind das?
Imelda Marrufo: Bei den Opfern handelt es sich meist um junge Arbeiterinnen aus den maquilas (Weltmarktfabriken). Der Staat hat in den letzten vierzig Jahren im Norden große Investitionen zugunsten der ausländischen Exportindustrie getätigt, die Arbeitsbedingungen der oft armen Migrantinnen sind schlecht.
Medina: Auf der anderen Seite existiert eine Zusammenarbeit zwischen Regierungs- und Kommunalpolitik, die von der Exportindustrie, aber auch vom Drogen-, Waffen- und Menschenhandel profitiert.
Und dabei kaum einen Mordfall strafrechtlich verfolgt.
Marrufo: Das ist richtig. Selbst wenn die Täter und ihre Aufenthaltsorte bekannt sind und klare Beweise gegen sie vorliegen, unternehmen Polizei und Justiz keine Anstrengungen, die Mörder ins Gefängnis zu bringen.
Medina: Straflosigkeit ist in Mexiko ein generelles Problem, nicht nur in Bezug auf die Feminizide. Die Angehörigen haben keinen Zugang zum Justizsystem und die zuständigen Behörden ermitteln nicht. In nur vier Prozent der Fälle wird ein Urteil gesprochen. Meist werden jedoch nicht einmal die ersten Untersuchungen eingeleitet.
Ciudad Juárez ist nicht die einzige Stadt in Mexiko, die unter einer solch extremen Situation leidet. Gibt es ähnliche Netzwerke wie eures in anderen Städten?
Marrufo: Der Runde Tisch von Ciudad Juárez ist Teil eines Netzwerkes, in dem insgesamt zehn Organisationen tätig sind. Jede dieser Organisationen hat wiederum Verbindungen zu etlichen anderen Organisationen im Land. Diese Artikulationsprozesse, diese Gegenwehr gibt es. Wir verstehen uns aber auch als Teil einer globalisierten Gesellschaft und wollen gemeinsam mit anderen Ländern Strategien gegen Diskriminierung und Gewalt gegenüber Frauen entwickeln. Es gibt Möglichkeiten, die Zustände in unserem Land anzuprangern, zum Beispiel über die Massenmedien, über internationale Konventionen und Vorschriften.
Wie effektiv ist die Arbeit der Frauenorganisationen?
Marrufo: Es gibt große Unterschiede in den zivilgesellschaftlichen Bewegungen, auch Initiativen in Chiapas und Oaxaca haben viel erreicht. Die Frauenbewegung von Ciudad Juárez ist aus dem Prozess entstanden, über zwanzig Jahre hinweg die Verbrechen zu dokumentieren und anzuprangern. Diese Art der Intervention gibt es woanders nicht. In Mexiko-Stadt befindet sich zwar der Großteil der Fraueninitiativen, aber nicht mit dem gleichen Niveau der Systematisierung.
Medina: Ciudad Juárez ist nicht deshalb bekannt, weil es dort die meisten Morde an Frauen gibt, andernorts ist die Situation noch schlimmer. Die internationale Beachtung für Ciudad Juárez ist seiner Bürgerbewegung und deren jahrzehntelanger Arbeit geschuldet. Ohne eine starke Zivilgesellschaft gäbe es diese Aufmerksamkeit nicht.
Aktivistinnen und Anwältinnen werden immer wieder bedroht. Im letzten Jahr wurden drei Menschenrechtlerinnen aus Ciudad Juárez ermordet.
Medina: Die Forderung nach Gerechtigkeit bzw. Rechtssprechung macht die Arbeit der Aktivistinnen besonders gefährlich. Der Staat fühlt sich davon attackiert. Dadurch, dass er über unsere Lage Bescheid weiß, uns aber keine Sicherheit garantiert, erlaubt er den anonymen Tätern, diese Morde zu begehen.
Marrufo: Die Kriminalität in Mexiko und speziell in Ciudad Juárez hat sich verselbstständigt. Es gibt keinen Schutz: Niemand weiß, wer als nächstes getötet wird. Aber wir wissen, dass der mexikanische Staat in Komplizenschaft mit den Morden steht. Wir haben keinen Zweifel daran, dass der Staat die Verantwortung dafür trägt.
Am 6. November 2009 hat der Interamerikanische Gerichtshof im Fall Campo Algodonero (siehe Kasten) den Tatbestand des Feminizids als Menschenrechtsverbrechen zum ersten Mal in einem Urteil anerkannt und den mexikanischen Staat in drei Fällen schuldig gesprochen.
Medina: Ja, der mexikanische Staat wurde schuldig gesprochen, die Sicherheit, Integrität und Freiheit der drei ermordeten Frauen sowie ihrer Mütter und Familienangehörigen nicht garantiert zu haben.
Warum hat auch dieses Urteil nicht dazu geführt, dass die Täter gefasst wurden?
Medina: Die Internationalen Gerichtshöfe ermitteln nicht gegen individuelle Täter, sie prüfen die Verantwortung des Staates in Bezug auf die Verletzung von Menschenrechten. Mexiko wurde aufgefordert, unmittelbar die Ermittlungen gegen die tatsächlichen Täter einzuleiten. Dieser Aufforderung ist Mexiko bis heute nicht nachgekommen. Auf der internationalen Bühne tut unsere Regierung so, als würde das Urteil umgesetzt. Wir vor Ort sehen aber, dass das nicht wahr ist. Der erste Indikator für eine tatsächliche Strafverfolgung wäre die Verringerung der Mord- und Entführungsraten von Frauen. Aber im Gegenteil: Ein Jahr nach der Urteilsverkündung sind die Zahlen weiter angestiegen. Deshalb brauchen wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.
Inwiefern kann das Urteil trotzdem helfen, die Menschenrechte der mexikanischen Bevölkerung in Zukunft durchzusetzen?
Medina: Schon vor dem Urteil haben Vertreter internationaler Organisationen Ciudad Juárez besucht. Es gibt Hunderte Empfehlungen, um Mexiko zur Erfüllung der Auflagen zu bewegen. Mit dem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs haben wir erstmals ein konkretes Werkzeug in der Hand, um die Menschenrechte in Mexiko umzusetzen. Aber ich betone noch einmal: Das wird nur mit interna-tionalem Druck möglich sein.
Haben Sie Hoffnung für die Zukunft?
Marrufo: Die Hoffnung leitet unsere Arbeit, das ist die Voraussetzung. Wenn wir nicht glauben würden, dass unsere Arbeit von heute für die zukünftigen Generationen nützlich wäre, würden wir sie nicht machen. Zu sehen, dass die lokale Arbeit hilfreich ist, dass die Frauen wieder Motivation, Selbstbewusstsein und Kraft zum Weiterleben entwickeln, das ist eine große Belohnung für mich. Auf der strukturellen Ebene ist diese Arbeit sicherlich nur ein Teil von historischen Prozessen. Vielleicht werden wir die großen Veränderungen nicht mehr erleben. Aber ich bin stolz, Teil dieses Prozesses zu sein.
(Download des gesamten Dossiers)
Imelda Marrufo arbeitet als Anwältin in Ciudad Juárez. Sie ist Präsidentin des Netzwerks Red de Mujeres de Ciudad Juárez, Mitglied des Gremiums zur Beobachtung von Frauenrechten in Mexiko, des nationalen Bürgerrats zur Beobachtung von Feminiziden und des nationalen Rats zur Sicherstellung des Rechts von Frauen auf ein gewaltfreies Leben.
Andrea Medina engagierte sich schon während des Jura-Studiums für die Strafverfolgung von Sexualstraftätern. Sie arbeitet mit sozialen Bewegungen an Gesetzes-initiativen und bildet Justizbeamtinnen in Genderfragen aus. Sie hat an Kampagnen zu wichtigen Fällen von Frauenmorden teilgenommen, unter anderem dem Fall Campo Algodonero.
FRAUENMORDE IN CIUDAD JUÁREZ
Seit Mitte der 1990er Jahre wird vom „Phänomen“ der Frauenmorde gesprochen und nicht mehr von einzelnen Mordfällen. Amnesty International zählte 2010 über 300 Frauenmorde, denen mindestens in 30 Fällen schwerste Folterungen und sexuelle Übergriffe vorausgegangen sind. Viele der Ermordeten verschwanden zunächst; ihre Leichen wurden erst wesentlich später an abgelegenen Orten, häufig im kargen Wüstengebiet um Ciudad Juárez, gefunden.
Wichtiger Aspekt der Frauenmorde von Ciudad Juárez ist die fast völlige Straflosigkeit: Die Polizei konnte, obwohl die Mordserie seit über 15 Jahren anhält, kaum Täter ermitteln. Wegen der geringen Aufklärungsquote wird vermutet, dass Polizisten und Beamte höherer Verwaltungsebenen, direkt in die Verbrechen verwickelt sind. Sogar eigens für die Aufklärung der Morde eingesetzte Personen sind mutmaßlich in die Mordfälle verstrickt. Die militarisierte Politik Felipe Calderóns hat die Zahl der Frauenmorde nach Meinung von Menschenrechtsorganisationen seit 2006 weiter in die Höhe getrieben. In Ciudad Juárez ist die allgemeine Mordrate auf circa 3.000 pro Jahr angestiegen. 230.000 Menschen haben die 1,3 Millionen EinwohnerInnen-Stadt seit 2009 verlassen.
Aufgrund der sehr hohen Zahl bis dato ungeklärter Morde gibt es eine Reihe von Theorien. Die Spekulationen über Motive stehen in Zusammenhang mit Überlegungen zu grundlegenden gesellschaftlichen Ursachen wie Machismo und Frauenhass oder sexuellen Beweggründen. Mögliche Täter werden u.a. mit dem Juárez-Kartell in Verbindung gebracht oder könnten aus den einflussreichen Familien der Stadt sowie lokalen Banden stammen.
RUNDER TISCH VON FRAUEN IN CIUDAD JUÁREZ
Das Netzwerk Red de Mujeres de Ciudad Juárez besteht aus zehn lokalen Frauenrechtsorganisationen und wurde 2001 ins Leben gerufen. Anlass für die Gründung war der Fund von acht Frauenleichen in einem Baumwollfeld, bekannt unter dem Namen Campo Algodonero. Nach Bekanntwerden dieses Massenmordes beschlossen verschiedene soziale Organisationen, einen Zivilreport zu erstellen. Im März 2002 wurde der Fall vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CIDH) präsentiert. Der Fall war die Geburtsstunde des Netzwerks. Heute arbeitet es auf nationaler und internationaler Ebene. Es hat erreicht, dass die Frauenmorde von unterschiedlichen internationalen Instanzen und Menschenrechtsinitiativen, unter anderem dem UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW), verurteilt werden und der mexikanische Staat zunehmend dazu aufgefordert ist, die Feminizide aufzuklären und für mehr Schutz von Frauen zu sorgen. Weitere Infos zu Campo Algodonero unter: www.campoalgodonero.org.mx