Brasilien | Nummer 584 - Februar 2023 | Sport

DAS SPIEL DES RASSISMUS GEWONNEN

Pelés sportliches Vermächtnis bleibt unumstritten – seine politische Positionierung nicht

Am 29. Dezember 2022 verstarb mit Edson Arantes do Nascimento, bekannt als Pelé, der für viele größte Fußballspieler aller Zeiten. So unantastbar seine Leistungen auf dem Spielfeld waren, so kontrovers blieben Zeit seines Lebens die Diskussionen über seine distanzierte Haltung zu politischen Fragen. Für die einen ist „O Rei“ (Der König) bis heute Wegbereiter und leuchtendes Vorbild für den gesellschaftlichen Aufstieg der marginalisierten Schwarzen Bevölkerung. Andere kritisierten vor allem seine Rolle im Kampf gegen Rassismus als zu zögerlich und teilnahmslos.

Von Dominik Zimmer

Kuss von Legende zu Legende Der Streetartkünstler Luis Bueno lässt Pelé in seiner Reihe Pelé Beijoqueiro so manche Persönlichkeit küssen (Foto: Second-Half Travels via Flickr , CC BY-NC 2.0)

Es war ein Mittwoch im Februar 1958, als aus einem Jungen aus den Armutsvierteln im Bundesstaat São Paulo der König des größten Landes in Lateinamerika wurde. Pelé – so der Spitzname, der dem 17-Jährigen vom FC Santos nur aus Spott verpasst worden war, weil er als Kind den Namen eines Spielers seines Lieblingsteams falsch aussprach – nahm an diesem Tag America Rio de Janeiro im Alleingang auseinander und wurde geadelt. Auf den Thron hob ihn Nelson Rodrigues, Theaterschriftsteller und das, was man heute wohl einen unverbesserlichen Fußball-Nerd nennen würde. Seine regelmäßige, vor Polemik und Pathos triefende Kolumne in der Sportzeitschrift Manchete Esportiva trug am nächsten Tag den Titel:„Seine Hoheit Pelé“. Und wie ein echter König gab der Junge aus Santos den Titel nie wieder ab. Es waren andere Zeiten im Fußball, vor allem in Brasilien. Dass ein Schwarzer Spieler von einem Weißen Journalisten als König bezeichnet wurde, war außergewöhnlich in einem Land, das die Monarchie und mit ihr die Sklaverei gerade erst 70 Jahre hinter sich gelassen hatte. Zwar wurden Schwarze Fußballer in den 1950er Jahren geduldet und bestäubten sich nicht mehr, wie noch 20 Jahre zuvor, das Gesicht mit Reismehl, um als Weiße durchzugehen. Aber Niederlagen des Nationalteams wurden der „Unreife“ und „Disziplinlosigkeit“ vor allem der Schwarzen Spieler zugeschrieben: Ihnen fehle im Vergleich mit den Europäern die Widerstandsfähigkeit.

Das alles sollte beim Weltturnier in Schweden 1958 besser werden. Um des gefühlten Mentalitätsproblems Herr zu werden, engagierte die Führung des brasilianischen Fußballverbands einen Psychologen und in der Startformation befand sich neben zehn Weißen nur noch der Superstar Didi. Der musste allerdings schon allein deshalb spielen, weil der einzige Ersatzmann für seine Position ebenfalls Schwarz war. Auf der Bank: Pelé und Garrincha, zwei Namen, die die Fußballwelt in den nächsten 15 Jahren in Angst und Schrecken versetzen sollten. Die Erkenntnis, dass ein Fußballspiel nicht durch die Hautfarbe entschieden wird, setzte sich bei Trainer Vicente Feola aber schließlich doch noch durch. Als Brasilien vor dem letzten Gruppenspiel mit dem Ausscheiden konfrontiert war, stellte er Pelé und Garrincha auf. Brasilien gewann die restlichen vier Spiele dieser WM und wurde auch wegen der sechs Tore von Pelé zum ersten Mal Weltmeister.

Der Rest ist Geschichte. Mit Pelé und Garrincha gemeinsam auf dem Platz sollte die Nationalelf, die Seleção, in den nächsten acht Jahren kein einziges Spiel mehr verlieren. Brasilien stieg mit Pelé zum Rekordweltmeister auf und er selbst wurde zum überragenden Spieler des Weltfußballs. Acht-Monats-Präsident Jânio Quadros ernannte ihn 1962 gar offiziell zum nationalen Kulturgut. Dadurch untersagte er Pelé per Gesetz für zehn Jahre einen Wechsel ins Ausland, in dem vergeblichen Versuch, seine eigenen Popularitätswerte vor dem totalen Verfall zu retten. Pelé akzeptierte diese eigentlich unerhörte Beschneidung seiner Persönlichkeitsrechte klaglos und gab an, er sei „glücklich, weiter für Santos zu spielen“.

Das passte ins Bild von Pelés Umgang mit der Autorität. Seine auch weltweit immer größer werdende Popularität nutzte er, wenn überhaupt, nur sehr vorsichtig, um sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse Schwarzer oder gar gegen die 1964 beginnende Militärdiktatur einzusetzen. Es gibt Fotos, die ihn gemeinsam mit den Diktatoren Geisel und Medici zeigen. Äußerungen, wonach durch harte Arbeit auch Schwarze den Aufstieg schaffen könnten, kamen in der politisierten Black Community Brasiliens nicht gut an – die strukturelle Diskriminierung war allgegenwärtig. Sein Mitspieler Paulo Cezar Caju, der mit Pelé 1970 Weltmeister wurde, warf ihm vor, er benehme sich „wie ein unterwürfiger Schwarzer, der alles akzeptiert und gegen nichts kämpft“. Andere verglichen Pelé mit der brasilianischen Frucht Jabuticaba: Eine Art Kirsche, die außen schwarz, aber innen weiß ist und einen schwer verdaulichen Kern hat.

Pelé war sich bewusst, dass zu klare öffentliche Positionierungen seine Karriere gefährden könnten

Um die Position von Pelé zu verstehen, hilft ein Zitat der Historikerin Ynaê Lopes dos Santos: „Pelé wusste genau, wie er als Schwarzer Mann das Spiel des Rassismus in Brasilien spielt. Und er hat es gewonnen. Es war das Ergebnis einer sehr intelligenten Lektüre davon, wie das Land Brasilien funktioniert.“ Von klein auf war Pelé mit härtestem Rassismus, strukturell wie direkt, konfrontiert. Wie für unzählige brasilianische Kinder seiner Zeit bestanden seine ersten Fußbälle aus mit Zeitungspapier ausgestopften Socken. Seine erste weiße Freundin wurde von ihrem Vater öffentlich verprügelt, als dieser von ihrem Verhältnis erfuhr. Bei einer weiteren Beziehung zu einer Weißen – Pelé war zu diesem Zeitpunkt schon ein bekannter Fußballstar – durfte er immer nur in Begleitung eines Familienmitglieds seiner Freundin mit ihr ins Kino gehen. Bevor er als König gefeiert wurde, hatte er sich schon jahrelang in Stadien und Medien rassistisch beschimpfen lassen müssen. „Wenn ich wegen jedem Affenlaut unterbrochen hätte, hätte ich kein einziges Spiel zu Ende bringen können“, erzählte er vor zwei Jahren in einem Fernsehinterview. Auch dafür wurde er kritisiert, denn heutzutage gilt die Regel, dass ein Match bei anhaltenden rassistischen Schmährufen abgebrochen werden muss.

Pelé war sich immer bewusst, dass zu klare öffentliche Positionierungen seine einzigartige Karriere gefährden könnten. Widerstand hätte sein sportliches und gesellschaftliches Vorankommen verzögert, vielleicht sogar verhindert. Deshalb erduldete er alle Beleidigungen und Diskriminierungen klaglos und zahlte dort zurück, wo ihm niemand etwas anhaben konnte: auf dem Fußballfeld. Der Vorwurf, er hätte sich sozialem Engagement und politischen Äußerungen zeitlebens verweigert, wird ihm allerdings nicht gerecht. Ganz abgesehen von der Vorbildfunktion, die er für Millionen Schwarze Menschen in Brasilien und der ganzen Welt bis heute erfüllt, brachte er bei einigen Gelegenheiten eine klare politische Haltung zum Ausdruck. Das prominenteste Beispiel ist seine Absage, auf Druck der Militärs die WM 1974 zu spielen, worauf ihm die Diktatur eine würdige Abschiedsfeier zu seinem Karriereende verweigerte. Bekannt ist auch das ikonische Foto, auf dem er sich 1984 in einer Favela mit Hut und einem mit den riesigen Buchstaben Diretas Já! (Freie Wahlen jetzt!) bedruckten Trikot des Nationalteams Seleção für die Titelseite der Sportzeitschrift Placar ablichten ließ, womit er die Kampagne zur Beendigung der Militärdiktatur unterstützte. Und schließlich hielt er 1995 im brasilianischen Kongress eine Rede, in der er mit deutlichen Worten einen höheren Anteil Schwarzer Abgeordneter in der Kammer forderte. Im Ausland war Pelé ohnehin eine gefeierte Symbolfigur der Schwarzen Bewegung. Als Bob Marley Brasilien besuchte, trug er Pelés Trikot mit der Nummer 10. Und bei seiner Totenwache im Stadion von Santos sagte der ivorische Konsul Tibe bi Gole Blaise: „Afrika hat einen großen Sohn verloren!“

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