Chile | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

„Das Urteil ist eine gerechte Entschädigung“

Interview mit dem chilenischen Menschenrechtsanwalt Hugo Gutiérrez

Bereits als Jurastudent in Concepción engagierte sich Hugo Gutiérrez im Kampf gegen die Militärdiktatur Pinochets. Am 20. Januar 1998, am gleichen Tag der ersten Einreichung einer Klage gegen Pinochet durch die Kommunistische Partei Chiles, präsentierte Gutiérrez vor dem Berufungsgericht Santiagos den Fall Mario Silva Iriarte, eines der 72 Opfer der so genannten Todeskarawane.

Niels Müllensiefen

In seiner Klageschrift machte der Anwalt der CODEPU (Corporación de Promoción y Defensa de los Derechos del Pueblo) Pinochet erstmals als Anstifter verantwortlich. Auf Grund der vergleichsweise guten Beweislage im Fall der Todeskarawane beantragten die später insgesamt sieben Klägeranwälte in diesem Fall die Aufhebung der parlamentarischen Immunität Pinochets, die nunmehr endgültig vom Obersten Gerichtshof Chiles bestätigt wurde. Gutiérrez wurde damit zu einem der Anwaltsprotagonisten im „Fall Pinochet”.

Wie fühlten Sie sich persönlich nach der öffentlichen Bekanntgabe der unanfechtbaren Aufhebung der parlamentarischen Immunität Pinochets durch den Obersten Gerichtshof Chiles?

Ich habe das Urteil des Obersten Gerichtshofs nicht als Sieg für uns bzw. als Niederlage Pinochets empfunden, sondern vielmehr als eine gerechte Entschädigung für die tausenden von Chilenen, die unter der Militärdiktatur Menschenrechtsverletzungen erlitten haben. Das chilenische Volk, das im Ganzen unter der Diktatur gelitten hat, brauchte diese Entschädigung, um die unter der Diktatur zerstörten Gleichgewichte wiederherzustellen.

Die internationale Presse feierte das Urteil des Obersten Gerichtshofes als einen „Sieg der Gerechtigkeit über die Straflosigkeit“ und ein „Ende einer Ära der Straflosigkeit”. Sie hingegen sagten einstmals, dass der Fall der Todeskarawane nur ein wunderbares Vorspiel sein würde, um Pinochet endlich den Prozess zu machen. Glauben Sie tatsächlich an die Möglichkeit, dass Pinochet durch die chilenische Justiz verurteilt wird?

So wie ich vorausgesehen hatte, dass Pinochet die Immunität aberkannt würde, vertraue ich nun darauf, dass die chilenische Justiz ihm den Prozess macht. Nur glaube ich, dass Pinochet auf Grund des langwierigen Strafprozesses in Chile und in Anbetracht seines Alters und seines Gesundheitszustands bedauerlicherweise nicht verurteilt werden wird.

In den Verhandlungen vor dem Urteil des Obersten Gerichtshofes gab es zwei Schlüsselthemen: zum einen die juristisch sehr umstrittene Anwendung der Figur der qualifizierten Entführung auf die Fälle der Verschwundenen, zum anderen die Frage der medizinischen Untersuchungen. Können Sie die so genannte Entführungsthese und ihre Bedeutung im Prozess erläutern?

Als Vertreter der Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen vor Gericht sahen wir Menschenrechtsanwälte uns vor der Aufgabe, der Anwendung des Amnestiegesetzes in den Fällen der Verhaftet-Verschwundenen ein Ende zu bereiten. Die chilenischen Gerichte kamen uns zur Hilfe, als sie begannen auf diese Fälle eine sowohl aus der Rechtsvergleichung als auch aus der rein internen chilenischen Strafgesetzgebung gewonnene Doktrin anzuwenden: Das Delikt der Entführung als ein Dauerdelikt, das erst dann beendet ist, wenn das Opfer die Freiheit wiedererlangt. Die nach dem Militärputsch Pinochets 1973 Verschwundenen, deren Leichen nie gefunden wurden, gelten nach dieser Doktrin bis heute als Entführte. Auf diese Weise entwichen die Fälle der Verhaftet-Verschwundenen dem Anwendungsbereich des Amnestiegesetzes, der den Zeitraum von 1973 bis 1978 umfasst und es bestand endlich die Möglichkeit, die Verantwortlichen zu verurteilen.

Besteht aber nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes nach wie vor die Notwendigkeit, die „Entführungsthese“ auf diese Fälle – niemand bezweifelt ernsthaft den Tod der Opfer – anzuwenden? Das Urteil wurde doch von einem Großteil der chilenischen Juristen dahingehend ausgelegt, dass es dem zuständigen Ermittlungsrichter Juan Guzmán grünes Licht gibt, nun auch wegen der Delikte Mord, Verbot der terroristischen Vereinigung und illegaler Bestattung zu ermitteln.

Ganz richtig. Ich bin mir sicher, dass diese drei Delikte in die Ermittlungen des Richters Guzmán eingehen werden. Nach den Urteilen zur Immunitätsaufhebung Pinochets gibt es meiner Meinung nach in der chilenischen Justiz die gefestigte Ansicht, dass auf alle während des Kriegszustands in Chile zwischen 1973 und 1978 begangenen Delikte die Genfer Konventionen anzuwenden sind. Der Nächste und nur folgerichtige Schritt unserer Justiz wird sein, diese Delikte – eben auf Grund ihres internationalen Charakters – als nicht amnestiefähig und unverjährbar anzusehen.

Dies würde dann letzlich die Nichtigkeit des Amnestiegesetzes wegen des Verstoßes gegen übergeordnete völkerrechtlicher Normen bedeuten – ein juristischer Befund, den Völkerrechtler seit langem proklamieren.

Oder sagen wir es so: das Amnestiegesetz wird in seinen richtigen Rahmen gerückt. Nach wie vor unterfallen ihm — nennen wir sie — gewöhnliche nationale Delikte. Alle internationalen Delikte, also insbesondere die Verbrechen gegen die Menschheit wie das Verschwindenlassen von Personen und die Kriegsverbrechen, verlassen indes den Rahmen des nationalen Gesetzgebers und können damit auch nicht dem chilenischen Amnestiegesetz unterfallen.

Die Verteidigung Pinochets berief sich im Laufe der Verhandlungen vor dem Obersten Gerichtshof wiederholt auf die Implikationen des Runden Tisches. Entsprechend der Übereinkunft des Runden Tisches vom 13. Juni 2000 sei den Militärs die exklusive Aufgabe übertragen worden, das Schicksal der Verschwundenen zu ermitteln. Damit bliebe schlicht kein Raum mehr für richterliche Ermittlungen. Was wurde auf diese – rein politische – Argumentation von Seiten der Klägeranwälte erwidert?

Wir Klägeranwälte haben im Rahmen der gerichtlichen Verhandlungen ganz bewusst jede Bezugnahme auf den Runden Tisch vermieden, auch wenn die Verteidigung Pinochets sich auf dessen Ergebnisse berief. Vor den Verhandlungen hatten wir, mehr oder weniger als geschlossene Gruppe der Menschenrechtsanwälte Chiles, unsere Meinung zum Runden Tisch öffentlich bekannt gegeben. Es treffen hier zwei konträre Ansätze aufeinander: der Runde Tisch will das Thema der Verhaftet-Verschwundenen auf politisch-administrative Weise lösen und führt letztlich zu nichts anderem als Straflosigkeit. Wir hingegen akzeptieren einzig und allein die juristische Lösung durch die chilenische Justiz. Die Immunitätsaufhebung Pinochets durch den Obersten Gerichtshof stärkt uns natürlich den Rücken.

Das Urteil des Obersten Gerichtshofes spricht keinerlei Empfehlung an den Ermittlungsrichter Guzmán bezüglich der Durchführung medizinischer Untersuchungen Pinochets aus. Handelt es sich bei den in der chilenischen Strafprozessordnung vorgesehenen Untersuchungen um solche der rein geistigen oder – wie oft behauptet wurde – auch der physischen Gesundheit?

Art. 349 der chilenischen Strafprozessordnung spricht allein von Untersuchungen der geistigen Gesundheit, denen jeder Angeklagte über 70 Jahre zu unterziehen ist. Es gibt keinerlei gesetzlichen Hinweis auf körperliche Untersuchungen, d.h. die physische Gesundheit des Angeklagten wirkt sich nicht auf seine Prozessfähigkeit aus.

Marco Antonio Pinochet, der Sohn Augusto Pinochets, verkündete kurz nach der endgültigen Immunitätsaufhebung, dass sich sein Vater womöglich der Durchführung medizinischer Untersuchungen verweigern wird. Könnte Pinochet in diesem Fall zu den Untersuchungen gezwungen werden, würde er in Beugehaft genommen?

Ich denke, dass im Rahmen des Strafprozesses kein Angeklagter zu etwas gezwungen werden kann. Dies gilt umso mehr für medizinisch-geistige Untersuchungen, die eine gewisse Kooperation des Angeklagten verlangen. Folglich ist es zwar eine Pflicht des Richters anzuordnen, dass medizinische Untersuchungen durchgeführt werden, jedoch ist es keine Pflicht des Angeklagten, diese über sich ergehen zu lassen. Es ist ja ganz klar: wenn Pinochet die Untersuchungen verweigert, dann ja nur deshalb, weil es tatsächlich keinerlei Anhaltspunkte für eine etwaige Demenz gäbe. Pinochet ist – wie seine Verteidigung selbst mehrfach bestätigte – bei guter geistiger Gesundheit und davon wäre dann auch im Strafprozess auszugehen. Jedenfalls kann Richter Guzmán auch im Fall der Verweigerung der Untersuchungen ein Verhör Pinochets anordnen.

Verlassen wir den nationalen Rahmen Chiles. Vielleicht ist dies das freundschaftliche Gesicht der Globalisierung: die internationale Völkergemeinschaft – angeführt von Richtern wie Baltasar Garzón – entwickelt sich zum neuen Garanten der Einhaltung der Menschenrechte. Welche Erwartungen und Hoffnungen verbinden Sie als Anwalt für Menschenrechte mit der Internationalisierung des Strafrechts und insbesondere mit der Verabschiedung des Statuts des neuen Internationalen Strafgerichtshofs?

Ich denke, dass die jüngst vor der chilenischen Justiz erreichten Erfolge auf einem Fundament der universellen Justiz gründen. Ohne die Intervention Báltasar Garzóns, die Festnahme Pinochets durch die englischen Behörden sowie die juristischen Aktivitäten der anderen europäischen Staaten wären diese Erfolge in Chile nicht zu feiern gewesen. Das sehe ich ganz klar. Tatsächlich fehlt dem universellen Rechtsraum ein internationales Strafgericht, wie es jetzt in Rom gegründet wurde, das schwere internationale Verbrechen wie jene gegen die Menschheit verfolgt und bestraft. Insbesondere fehlt dieser Strafgerichtshof auch im Hinblick darauf, dass die nationalen Gerichte sich oftmals, etwa auf Grund der nationalen Gesetzeslage, nicht in der Lage sehen, Gerechtigkeit in ihrem Land zu schaffen: Früher flohen einstmalige Diktatoren aus ihrem Land, heutzutage schaffen sie sich vor der Machtübergabe eine Gesetzeslage, die sie vor einer nationalen strafrechtlichen Verfolgung bewahrt – so auch im Fall Pinochet. Insofern ist der – wohl in ein paar Jahren in Kraft tretende – neue Internationale Strafgerichtshof ein grosßer Schritt in Richtung eines globalen Menschenrechtsschutzes bzw. einer Beendigung der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen.

Sie sprachen von den „neuen“ Diktatoren – wie sehen denn die Bemühungen in den übrigen lateinamerikanischen Ländern aus, diese für ihre Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich zu belangen, etwa den noch amtierenden bolivianischen Präsidenten Hugo Bánzer?

Ich weiß von Bemühungen der Menschenrechtsorganisatione in Bolivien, Hugo Bánzer anzuklagen, in Perú, eines Tages Fujimori juristisch zu belangen und in Paraguay, Alfredo Stroessner den Prozess zu machen. Ich denke, dass all diese Anstrengungen sehr bald Erfolg haben werden: wenn beharrlich darum gekämpft wird, werden diese Verantwortlichen unzähliger Menschenrechtsverletzungen von der Justiz verurteilt werden.

Interview: Niels Müllensiefen

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