“Das Vergessen ist immer auch intentional“
Interview mit der Regisseurin Eliane Caffé
Wie kam es zu dem Film Geschichten aus Javé (Narradores de Javé)?
Irgendwann habe ich von Pedro Cordeiro Braga gehört, der im Dörfchen Vau in Minas Gerais lebte und in einem Postamt arbeitete, das geschlossen werden sollte. Da es die einzige Verbindung der Dorfbewohner zur Welt war, machte Senhor Pedro aus seiner Freude am Schreiben eine Tugend. Aus Angst, das Postamt könne schließen, schrieb er allen ihm bekannten Menschen Briefe. Für mich ist diese Geschichte unglaublich. Der Gedanke an die Initiative dieses Mannes, der diesen anonymen Briefwechsel führte, mit dem Ziel das dortige Postamt zu retten, ließ mich nicht mehr los.
Und wie entstand die Idee mit dem Staudamm?
Wir überlegten also, wie es wäre, wenn ein Dorf seine eigene Geschichte schreiben wollte. Dafür müsste es natürlich einen Grund geben. Ich erinnere mich, dass Luiz Abel Abreu hier insistierte und immer wieder fragte: „Was bringt ein Dörfchen dazu, seine Geschichte zu schreiben? Wenn die orale Kultur so verbreitet ist, muss es einen Anlass geben“. Da hatten wir die Idee mit dem Staudamm. Solch ein Schicksalsschlag rechtfertigt, die Erinnerung des Dorfes entsprechend dem Kanon zu bewahren. Um geschützt zu werden, braucht man eine große Geschichte. Dafür muss alles geschrieben und dokumentiert sein.
Ist der Film an den Ort Canudos, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts der Aufstand des Wanderpredigers Antonio Conselheiro niedergeschlagen wurde, angelehnt?
Heute liegt die Stadt Canudos unter Wasser. Wenn es eine Geschichte gewesen wäre, an die erinnert werden sollte, dann hätten diese Ruinen, die vom Krieg übriggeblieben waren, geschützt werden können. Es wäre dann eine Gedenkstätte, die besucht werden könnte, um der Toten zu gedenken. Aber die Ruinen wurden nicht geschützt, sondern unter Wasser gesetzt. Dieses Vergessen ist provoziertes Vergessen. Wozu? Damit eine Version der Geschichte von Canudos zu Ende geht. Wenn sie vergessen wird, existiert sie nicht mehr. Und das Vergessen von Geschichte, von anderen Sichtweisen, hat meinen Film inspiriert. Neben der Hommage an die Geschichtenerzähler haben wir versucht zu untersuchen, wie ein historischer Text aufgebaut wird. Wenn ich heute die Geschichte Brasiliens lese, stelle ich mir vor, was alles geschehen ist, bis sie in dieser Form in den Schulen erzählt werden konnte. Wieviele Kriege hat es gegeben? Wie viele Interessen die untergegangen sind? Das Vergessen ist immer auch intentional.
Ungewöhnliche Wörter und Redensarten werden im Film eingesetzt, die in der Alltagssprache nicht immer üblich sind. Woher kommt diese besondere Art mit der Sprache zu arbeiten?
Der Gebrauch eines Wortes im Film muss Handlung beinhalten. Wir hatten bei diesem Projekt immer Angst. Es steht an einer sehr gefährlichen Grenze, da der Film in Wirklichkeit eine Arbeit mit dem Bild voraussetzt. Wir machten jedoch das Gegenteil und stellten das gesprochene Wort, die Rede, in den Vordergrund. Zum Glück schafften wir es, die Kraft und den Reichtum der Kunst der Geschichtenerzähler zum Ausdruck zu bringen. Nämlich dadurch, dass das Wort selbst das Bild generiert. Wie das geht? Wenn Antonio Biá sagt: „Das ist ein Mückensilvester“, dann liegen Witz und Komik in der Vorstellung, von einem Silvesterabend, an dem viele Mücken mit einem Glas auf das Neue Jahr anstoßen, wobei alle zur gleichen Zeit reden, ein riesiger Tumult also. Oder ein anderes Beispiel: „Exú eines Hühnerstalls“. Exú ist in der afrikanischen Tradition eine Gestalt, die manchmal ein Teufel sein und das Leben der Menschen provozieren, beunruhigen und verändern kann Wenn er von einem Exú aus dem Hühnerstall spricht, dann ist dieser so dekadent, dass er die Hühner in Aufregung versetzt, auf Menschen aber schon gar keine Wirkung mehr hat. Diese Worte suggerieren die Bilder in unseren Köpfen und in diesem Sinn ist das Wort aktiv.
Der Film ist ja insgesamt sehr ironisch. Dazu trägt auch der Balken über der Haustür des Protagonisten bei, auf dem geschrieben steht: „Eintritt für Analphabeten verboten.“ Das zeigt auch eine Überheblichkeit von Antonio Biá, nicht wahr?
Der Balken war eine Erfindung von José Dumont selbst, der ein ausgezeichneter und wunderbarer Schauspieler ist. Er ist ein Koautor dieses Films. Warum? Er hat in die dramatische Struktur der Geschichte selbst eingegriffen. Zum Beispiel hat er diese konfliktive Beziehung zwischen ihm und Maria Dalva Ladeia aus unserem Drehort Gameleira da Lapa geprägt. Sie spielte die Dona Maria in unserem Film. Er hat schnell gemerkt, wie sie ist, denn er ist ein guter Schauspieler, der scharf beobachtet. Er hatte mich zuvor gefragt, ob er sie im Film von Zeit zu Zeit provozieren könne. Ich war einverstanden, habe mir aber niemals vorstellen können, dass diese Provokation eine solche Dimension erreichen würde. Denn jedes Mal, wenn sie mit ihm zusammentrifft, beleidigt er sie. Das war allein Zé Dumonts Erfindung, ebenso wie die Inschrift des Türbalkens. Dieser Satz: „Eintritt für Analphabeten verboten“ stand nicht im Drehbuch. Ich habe ihn erst gesehen, als ich mit den Dreharbeiten anfing. Ebenso wie viele Dinge im Film seine oder die Erfindungen der übrigen Schauspieler und Bewohner von Gameleira sind. Anfangs habe ich mich nämlich in der Regie stark am Drehbuch orientiert und das Ergebnis war verheerend. Ich glaubte schon, der Film würde nichts werden, weil alles so theatralisch wirkte. Es machte alles keinen richtigen Spaß. Der kam erst, als die Schauspieler lockerer wurden, aus sich herausgingen und mir klar wurde, dass ich bei diesem Film offen sein musste für Improvisationen. So kamen viele Dinge hinzu und schließlich hat der Film eindeutig gewonnen.
Die alte Dame am Kiosk zu Beginn des Films möchte trotz des fortgeschrittenen Alters noch lesen lernen. War der Aspekt Analphabetismus bei der Enstehung des Films von großer Bedeutung?
Das ist wirklich unglaublich. Ich denke, dass Menschen, die nicht schreiben oder lesen können, sich dies besonders wünschen. Antonio Biá bringt jeden zum Schweigen, wenn er sagt: „Gut, sag erstmal deinen Namen, Nachnamen und Namenszusatz.“ Das ist der Augenblick, in dem Menschen klar wird, dass sie in das Buch kommen. Vicentino sagt dann: Vicentino Indalécio da Rocha. Da Rocha ist sein Familienname, der für ihn nicht so wichtig ist. Deshalb betont er vor allem Indalécio, um sich auf den Gründer von Javé zu beziehen. Seinen eigenen Namen geschrieben zu sehen, lässt die Faszination für die Schrift und für das Lesen sehr groß werden.
In Ihren Filmen Kenoma und Geschichten aus Javé spielt Brasilien immer eine wichtige Rolle. Könntest du dir auch vorstellen, einen Film im Ausland zu drehen?
Doch, ich hätte große Lust, bei einem Film Regie zu führen, der außerhalb Brasiliens entsteht. Entscheidend sind Thema, Geschichte und der Ort, an dem er spielt, und natürlich, was er über den Menschen und über menschliche Grundsatzfragen aussagen kann. Wenn dies in irgendeiner Form bei mir etwas auslöst, wäre ich dazu in der Lage. Es ist allerdings sehr schwer, nach langen Jahren der Berufserfahrung in denen man seine Richtung selbst gewählt hat, plötzlich Projekte zu bearbeiten, die einen überhaupt nicht ansprechen und die man nur macht um Geld zu verdienen. Ich stelle fest, dass meine Hemmschwelle immer höher liegt. Natürlich geht das, denn der Regie liegt eine Technik zu Grunde, die auf jeden Film anwendbar ist. Aber ich hätte schon Lust, einmal außerhalb von Brasilien zu arbeiten, wenn das Thema stimmt.