Nummer 391 - Januar 2007 | Queer

„Der Homosexuelle ist akzeptiert, sogar erwünscht – aber nur, wenn er weit weg ist“

Der brasilianische Pädagoge, Schauspieler und Regisseur Flavio Sanctum im Gespräch über jugend­liche Homosexualität, Stereotype und die Angst der Gesellschaft vor den „ganz normalen“ Schwulen

Flavio Sanctum arbeitet u.a. beim Zentrum Theater der Unterdrückten in Rio de Janeiro, wo er auch in verschiedenen soziokulturellen Projekten mitwirkt. Gegenwärtig ist er Regisseur der Gruppe Artemanha und Direito de Ser (Das Recht zu Sein). In seinen Stücken geht es um die Unterschiedlichkeit sexueller Orientierung. Er hat unter anderem ein Buch über die praktische Arbeit des Theaters der Unterdrückten mit homosexuellen Jugendlichen in den Communities Rio de Janeiros geschrieben. Vor kurzem ist sein erster Roman Nada mais do que isso (Nicht mehr als das) veröffentlicht worden.
Barbara Kastner traf sich für die LN mit ihm zum Knödelessen und zum Interview.

Barbara Kastner

Flavio, du arbeitest in Rio de Janeiro mit einer Theatergruppe, die sich mit der Diskriminierung von Homosexuellen auseinandersetzt. Wovon genau handeln die Stücke?

Es geht um Vorurteile, zum Beispiel darum, dass man schlecht behandelt wird, wenn man eine Arbeit sucht, oder auch davon, wie es ist, wenn man in ein Geschäft geht, und der Verkäufer merkt, dass man homosexuell ist. Und es geht auch um Probleme mit der Familie. Das Problem, darüber mit der Familie zu reden. Manche Familien erwarten, dass man eine Freundin hat, dass man heiratet.

Glaubst du, dass es in Brasilien Unterschiede zu Deutschland?

Ich glaube schon. Weil Brasilien den Ruf hat, ein fröhliches Land zu sein. In Brasilien gibt es viele Feste und jeder scheint dort willkommen zu sein. Das ist auf der einen Seite wahr, auf der anderen ist dieses Land auch ein konservatives Land – auch Rio de Janeiro. Der Homosexuelle ist also akzeptiert, sogar erwünscht – aber nur, wenn er weit weg ist. Im Fernsehen, wenn er dieser lustige Schwule ist, der Witze macht oder über Mode erzählt. Nur in der eigenen Umgebung will ihn niemand haben. Dann ist das etwas anderes. Der Homosexuelle ist akzeptiert, bei den anderen, aber nicht in meiner Familie.

Also ist vor allem das Klischee akzeptiert.

Genau, und zwar das, was am weitesten von „Männlichkeit“ entfernt ist. Durch diese Stereotypisierung entsteht die Vorstellung, dass jeder Schwule zum Beispiel mit hoher Stimme sprechen muss. Das bedeutet, dass jeder, mein Chef, mein Nachbar, der nicht diesem Stereotyp entspricht, kein Schwuler ist. Durch Stereotypisierung fühlen sich die Menschen sicherer, weil sie den Schwulen „identifizieren“ können. Wenn sie merken, dass diese Stereotype nicht existieren, dass es völlig verschiedene Schwule gibt, genauso wie alle Menschen einen unterschiedlichen Charakter haben, dann bekommen sie Angst. Sie sind schockiert, wenn sie auf der Straße zwei Männer sehen, die sich küssen, die aber „ganz normal“ aussehen. Die aussehen wie du und ich. Das bedeutet, wenn zwei Männer schwul sein können, die so aussehen, dann könnte auch mein Bruder schwul sein. Oder vielleicht sogar ich selbst. Damit beginnen dann die Zweifel. Das ist typisch für Brasilien, die Menschen scheinen erst mal tolerant, aber im Grunde sind sie es doch nicht.

Du hast auch ein Buch über dieses Thema geschrieben: Nada mais do que isso. Es ist gerade herausgekommen. Wovon handelt es genau?

Das Buch handelt von zwei Jungen, die sich ineinander verlieben. Es geht hauptsächlich um ihre innere Auseinandersetzung, darum, dieses neue Gefühl zu akzeptieren und zu verstehen. Ich glaube, bevor du für deine Rechte kämpfen kannst, musst du verstehen, wer du bist. Ein großes Problem bei den jugendlichen brasilianischen Homosexuellen ist, dass sie keine Unterstützung haben, im Fernsehen gibt es – gerade für Jugendliche – nichts zu dem Thema. Also wachsen sie auf, ohne zu wissen, was sie tun sollen.

Wieso beschäftigst du dich mit diesem Thema?

Beim Theater der Unterdrückten ist es nicht so, dass ich da der Spezialist für Homosexualität bin. Keiner von uns ist Spezialist für bestimmte Dinge. Wir arbeiten mit unterschiedlichen Gruppen. Ich habe zu manchen Gruppen einen stärkeren Bezug als zu anderen. Ich arbeite – wie andere – auch zum Thema Homosexualität. Das Buch habe ich angefangen zu schreiben, als ich selbst noch ein Jugendlicher war. Als Jugendlicher habe ich gemerkt, dass sich meine Gefühle von denen der anderen unterscheiden. Ich wusste nicht, wie und mit wem ich darüber sprechen kann. Dann dachte ich, es wäre toll, wenn es darüber ein Buch gäbe. Und ich begann zu schreiben. Damit die Jugendlichen, die das Buch lesen, merken, dass sie vielleicht anders sind, aber nicht schlechter. Dass ihr Körper nicht vom Teufel besessen ist, dass sie nicht krank sind, dass sie nicht verrückt sind. Ich fing also als Jugendlicher an zu schreiben, aber ich musste dann aufhören, mir fehlte die Erfahrung. Zehn Jahre später schrieb ich weiter. Ich hatte schon mit unterschiedlichen Theatergruppen gearbeitet, kannte viele Leute. Das Buch ist ein Roman, eine Geschichte, die Jugendlichen in dieser Phase der Orientierung helfen soll. Es gibt zwar Sachbücher, psychologische Literatur zu diesem Thema. Das wollte ich aber nicht: In einem Roman kann man sich mit den Figuren identifizieren und versteht ein bisschen, was die Figur durchmacht. Am Schluss wünscht man sich sogar, dass die beiden Jungen zusammen sein können.

KASTEN:
Nada mais do que isso – „Nicht mehr als das“
Ist es verrückt, wenn ein Jugendlicher sich in seinen besten Freund verliebt? Nada mais do que isso ist ein Jugendbuch, das sich mit dem Thema der sexuellen Orientierung auf sensible und objektive Weise auseinandersetzt. Es erzählt spannend und einfühlsam von der Liebe zweier Jungen, mit all ihren Zweifeln und Entdeckungen.
Das Buch ist auf Portugiesisch über Barbara Kast­­ner für 10 Euro zzgl. Versandkosten (Buchsendung) erhältlich. Kontakt: barbkastner@gmx.de

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