Der letzte Tanz
Ein Nachruf auf den alternativen Radiosender Horizonte
„Hasta Siempre“ sagt die Frauenstimme im Radio, dann läuft das letzte Lied. Alle schweigen. Die Runde ist klein, ein paar Freund_innen, die sich an einem Montagabend treffen und nur durch Zufall auf die Ansage bei Radio Horizonte geachtet haben. Nach dem Lied kommt das Rauschen, lauter als jede Melodie, unerträglich und stundenlang. Danach – Stille.
Es ist das letzte Lied, das Mitternacht vom Montag dem 18. März 2013 auf der Frequenz 103.3 in Chile läuft. Denn Radio Horizonte gibt es von nun an nicht mehr. Nach dem Schweigen schallt eine neue Ansage aus den Boxen.
„Das Ende einer Ära“, Paulina Cabrera verzieht das Gesicht. Die Studentin sagt, ihr laufe eine Gänsehaut über den ganzen Körper und schaltet das Radio aus. Währenddessen verabschieden sich die Verantwortlichen von Radio Horizonte gemeinsam von ihren Fans mit einer großen Party im Lokal Santo Remedio im Viertel Providencia der Hauptstadt Santiago. Unter dem Titel „Last Dance“ soll der Abschied nicht allzu schwer gemacht werden.
Radio Horizonte war für viele junge Chilen_innen ein täglicher Begleiter. Hier konnten sie Bands kennenlernen, welche andere Sender aus kommerziellen Gründen nie spielten. Hier wurde über Musik, Literatur, Kunst und Mode diskutiert, am meisten schätzten die Zuhörer_innen die Originalität der Musikstile und die Abwechslung im Programm. Ziemlich unvorhersehbar war das nächste Lied: auf US-amerikanische Rockmusik der Yeah Yeah Yeahs konnte der Pop der Supremes folgen, ohne dass die Zeitreise aus den 2000ern in die 1970er Jahre seltsam klang.
Für Francsico Salinas gehörte Horizonte seit 2006 zum regelmäßigen Programm. Nico Castros Sendung El gran escape hörte der Grafikdesigner aus Iquique am liebsten. Hier erklärte der Moderator, welche Musik ihn mitriss, welche Neuigkeiten man kennenlernen und welche alten Kuriositäten man lieben lernen sollte. „Vor allem für diejenigen, die das alternative Genre mochten, war Horizonte wichtig“, erzählt Salinas. „Man erfuhr, wann welche Konzerte stattfanden. Der Sender unterstützte viele chilenische Bands, interviewte sie und organisierte Liveauftritte im Sender.“
1985 wurde der Radiosender von Julián García Reyes gegründet. Ab dem Jahr 2004 konzentrierten sich die Playlisten vor allem auf alternative Musik und Klassiker der 1980er und 1990er Jahre. In den letzten Jahren war Horizonte offizielle Radiostation bekannter Festivals, wie dem seit 2011 auch in Chile stattfindenden Lollapalooza.
Erst Anfang Februar dieses Jahres wurde bekannt, dass der Sender bald nur noch als Online Radio funktionieren würde. Der Consorcio Radial, ein chilenisches Rundfunkunternehmen, welches zur spanischen PRISA Gruppe gehört, kaufte Horizonte laut der Tageszeitung La Nación für circa zwölf Millionen US-Dollar auf. Der Medienkonzern Canal 13, einer der größten Fernsehkanäle des Landes, dominiert den Käufer und gehört zu Teilen wiederum der Luksic Gruppe. Dieser Konzern ist vor allem bekannt für seinen Namensgeber. Die Luksic-Familie ist die reichste Chiles. Mit ihrem Unternehmen sind sie Eigentümer unzähliger Firmen und Konzerne, darunter auch der Banco de Chile, der zweitgrößten Bankengruppe des Landes.
Die Konzentration und das Monopol innerhalb der Medien in Chile wird an Konzernen wie Canal 13 deutlich. Nur wenige Mächtige bestimmen, was gezeigt, gehört, gelesen wird. Die Medienlandschaft wird vor allem von reichen und wirtschaftlich sehr bedeutenden Konzernen kontrolliert. Das Radio hat es dabei am schlechtesten getroffen. Vielfalt scheint hier ein Fremdwort.
Aus der Frequenz 103.3 schallt seit dem 18. März 2013 nun „die beste Musik von Radio Top“. Nicht nur Paulina Cabrera und ihre Freund_innen drehten in jener Nacht den neuen Sender nach wenigen Minuten ab. Auf Top FM kann man nun Musik nach Massengeschmack hören. Mit neuen Moderator_innen und Programmen kommt ein Mix aus Hits, den man in Chile parilla musical, Musikgrill, nennt. Einige Programme von Horizonte wechselten auf andere Radiostationen. So zum Beispiel La venganza del Pudú, welches von nun an auf Radio Zero zu hören sein wird.
Für alternative chilenische Bands – Los Mil Jinetes, Los Ases Falsos und Astro – um nur ein paar zu nennen, bedeutete die Existenz von Radio Horizonte viel. Francsico Salinas glaubt, der alternative Musikmarkt in Chile wachse jeden Tag. Die Unterstützung von Sponsoren und Radiosendern lässt seiner Meinung nach jedoch zu wünschen übrig. Dafür war Radio Horizonte da: hier war Platz für chilenische Musikgruppen, hier fanden auch kleine Musikprojekte ihre Spielzeit.
Im Blondie, einem Club im Zentrum Santiagos, kann man neben Musik der 1980er und Britpop auch vielen alternativen chilenischen Bands lauschen. Jeden Donnerstag ist Indienacht, kostenlos bis 24 Uhr. Diego Alonso Ehijo ist Student der Rechtswissenschaft und kommt fast jede Woche hier her. Den neuen Sender Radio Top hat er noch nicht oft angeschaltet. Dass dieser auf keinen Fall dem Stil seines alten Lieblingssenders entspricht, war ihm sofort klar. Die bekannten Hits auf Top.FM repräsentieren für den 25-Jährigen nichts Neues. „Ich glaube, Horizonte war wichtig für die kleinen und unbekannten Gruppen der alternativen Musikszene“, meint Diego Alonso. „Durch die Radioprogramme hatten sie die Chance, live zu spielen. Auf Horizonte musste kein Platz für lange und große Ansagen gemacht werden.“ Hoffnung sieht er in dem Radiosender Uno. Hier wird ausschließlich chilenische Musik gespielt und neuen nationalen Künstler_innen die Chance gegeben, ihre Lieder zu verbreiten.
Die Möglichkeit, neue Melodien zu entdecken, beschränkt sich für Franscisco und Diego jetzt hauptsächlich auf das Internet. „Von jetzt an werde ich wohl wieder Musik herunterladen,“ sagt Diego. Franscico schwört auf seine Vinyl Platten, die er sich bei Needle, einem chilenischen Plattenladen besorgt.
Ein kleiner Trost: Radio Horizonte wird im Internet weiter Melodien und Playlisten veröffentlichen, jedoch ohne Moderation und Liveaufnahmen. Die Vielfalt auf der chilenischen Frequenzskala wird fehlen. „Hasta la vista Baby“, ist der letzte Eintrag des Senders auf Twitter.