Paradies der Kaltherzigkeit
Interview mit Antonio Skármeta über seine Rolle als Schriftsteller und Dinge, die Deutschland und Chile voneinander lernen könnten
Herr Skármeta, Chile hat eine Reihe großer Autor_innen hervorgebracht: Mistral, Neruda, Donoso, Bolaño, Edwards, Sie selber, Zurita und andere. Kann man sagen, dass diese chilenischen Autor_innen eine Art „Chilenischer Literatur” geprägt haben? Wie könnte man diese Literaturströmung charakterisieren?
Einige ihrer Themen sind obsessiv chilenisch. Insbesondere die Darstellung des Verhältnisses zwischen den sozialen Klassen zeigt bei einigen dieser Autoren eine geradezu frontal direkte oder auch metaphorische Lesart auf. So dramatisch bis tragisch die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen in Chile war und ist, so allgegenwärtig ist sie in der zeitgenössischen Literatur – sowohl in der Poesie als auch in Prosa, Kino und Theater. Einige Autoren haben eine eher konservative und etwas apathische Vision dieses Dramas, während andere sich mit enormer Vorstellungskraft in schmerzhaften und libertären Visionen ergehen.
Wie würden Sie Ihre Rolle als Schriftsteller in der Gesellschaft definieren? Hat sich diese Rolle seit dem Ende der Diktatur verändert?
Als Schriftsteller versuche ich, die Gefühle meiner Helden mit dem Rhythmus der chilenischen Gesellschaft zu synchronisieren. Meine Literatur ist weder emblematisch noch symbolisch noch programmatisch. Ich bringe meine Protagonisten lediglich in Situationen, in denen sie ihr Leben zu meistern haben: Das kann während des Versuchs des demokratischen Sozialismus von Allende sein (Ich träumte, der Schnee brennt), die Flucht ins Exil (Nixpassiert), die Repression unter Pinochet (Die Tage des Regenbogens) oder die Rückkehr zur Demokratie. Einige dieser „chilenischen” Obsessionen haben auch Werke von mir beeinflusst, die von der europäischen Vergangenheit handeln, wie zum Beispiel Die Hochzeit des Dichters.
In Ich träumte, der Schnee brennt haben Sie den Alltag in Chile kurz vor dem Militärputsch beschrieben. Welche Bedingungen träfe ein erfolgshungriger Jugendlicher vom Land heutzutage in Santiago de Chile an?
Optimale Bedingungen: In der chilenischen Gesellschaft, die mit der Genauigkeit eines Schweizer Uhrwerks eingestellt ist, triumphieren hauptsächlich individualistische Jugendliche. Rücksichtslos wurde hier eine Politik in die Praxis umgesetzt, die ihre Kinder zu Produzenten oder Konsumenten erzieht. Der ganze Rest – Kunst, Philosophie, Literatur – wird als überflüssig betrachtet. Immerhin hat die inspirierende Studentenbewegung die konservative und lächerlich pragmatische Agenda der Politiker und ihrer schlafenden Institutionen aufgewühlt.
2011 und 2012 wurde Chile von verschiedenen Protesten erschüttert; nicht nur in Santiago, sondern auch in Araukanien und Aysén im Süden des Landes. Einige dieser Proteste, wie die Studierendenbewegungen, wurden durch große Teile der chilenischen Gesellschaft unterstützt. Andere, wie die Erhebung der Mapuche im Süden, erhielten weniger Unterstützung. Denken Sie, dass diese Konflikte auf eine Spaltung der chilenischen Gesellschaft hinweisen, oder zeigt sich hier eher der Graben zwischen Gesellschaft und politischer Klasse?
Beides. Grundlegende Staatspolitik sollte sein, den Mapuche die Möglichkeit zuzugestehen, in ihrer traditionellen Kultur zu leben. Die verschiedenen Regierungen haben sich den Forderungen der Mapuche lediglich sporadisch angenommen, und auch nur als Reaktion auf deren Proteste. Es wurde eine Politik der „kalten Umschläge” angewandt, welche die Temperatur absenken, aber nicht das Fieber beenden. Die Mapuche wiederum müssen wachsam, aktiv, vereint sein und ihre überlieferte Weisheit nutzen, um nicht in terroristische Akte verwickelt zu werden. Diese könnten früher oder später dazu führen, dass die wachsende Unterstützung durch die chilenische Bevölkerung schwindet.
Was halten Sie als Schriftsteller für das größte Hindernis einer Einigung der chilenischen Gesellschaft?
Die zynische und leichtfertige Ignoranz, mit welcher die Bedürfnisse der anderen nicht anerkannt werden, da wir uns im Paradies der Kaltherzigkeit eingerichtet haben. Nach dem Putsch von Pinochet hat das Juwel „Solidarität” in Chile seinen Glanz verloren. Die jüngsten sozialen und studentischen Bewegungen haben nun dazu beigetragen, dessen „schlafende Seele” wieder zu wecken.
Warum haben die großen Proteste der letzten Jahre erst jetzt begonnen, obwohl sich die sozialen Bedingungen seit der Regierungszeit der Concertación nicht verändert haben?
Die „sozialen” Bedingungen haben sich kaum verändert, dafür aber der politische Rahmen. Das chilenische Volk, das während der Diktatur unter Pinochet als Oberbefehlshaber der Streitkräfte und auch unter deren „spiritueller” Erbschaft enorm gelitten hat, bewies viel Fingerspitzengefühl, um die noch ungefestigte Demokratie nicht zu riskieren. Als die Demokratie allerdings etabliert war, brachen die sozialen Bewegungen während der Regierungszeit von Michelle Bachelet hervor.
Es wurde weniger Pragmatismus und die Vertiefung der erkämpften Demokratie gefordert, die mit Änderungen der Verfassung beginnen sollten. Diese beherrscht uns nach wie vor, da sie vom Diktator festgeschrieben wurde, um zu verhindern, dass durch progressive Kräfte Gesetze zugunsten des Volkes verabschiedet würden.
Sie kennen sowohl Chile als auch Deutschland. Was könnte Deutschland von Chile in der momentanen europäischen Krise lernen?
Nichts. Deutschland kann in dieser Krise nichts von Chile lernen, da das unbarmherzige neoliberale Rezept lautet, den Sozialstaat zu pulverisieren, wie es in unserem Land geschehen ist. Ich würde dem schönen Deutschland trotz der Krise nicht empfehlen, den mit viel Anstrengung und Disziplin vieler demokratischer Generationen erlangten Sozialstaat zu verletzen. Denn trotz seiner hohen Kosten ist es unerlässlich, diesen zu erhalten.
Und was könnte Chile von Deutschland lernen?
Die Deutschen könnten uns Chilenen erklären, wie sie es schaffen, sich in einer Krise zu befinden und gleichzeitig den Motor der europäischen Wirtschaft zu bilden.
Infokasten:
Antonio Skármeta
ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein bekanntester ist Mit brennender Geduld, der in der Verfilmung Il Postino (1994) weltbekannt wurde. 1973 musste Skármeta als Anhänger Salvador Allendes nach dem Militärputsch Chile verlassen und lebte im Exil in Westberlin. Er kehrte 1989 wieder nach Chile zurück.