Der Markt greift nach dem Morro
Befriedende Polizeieinheiten garantieren dem Kapital freies Geleit in die verarmten Gebiete, in die Favelas und auf die Morros von Rio de Janeiro
„Die wirtschaftliche Macht der Favela ist sehr stark“, erläutert Romualdo Ayres, Direktor der Nachhaltigkeitsabteilung der brasilianischen Vereinigung für Franchising. Er legt das mit einem Vergleich dar: „Das gesamte verfügbare Einkommen dieses Bevölkerungsteils entspricht beinah dem Umsatz aller Franchising-Aktivitäten in Brasilien“. Diese haben im Jahr 2012 rund 14 Milliarden Reais (umgerechnet fünf Milliarden Euro) umgesetzt – das Bruttoinlandsprodukt der Favelas von Rio de Janeiro liegt bei dreizehn Milliarden Reais (umgerechnet 4,68 Milliarden Euro).
Was hat das mit der Besetzung der Favelas durch Polizeikräfte zu tun? Ein Blick auf die Zahlen hinter der Realität auf dem Morro, wie die auf den Hügeln und Hängen sich erstreckenden Favelas in Rio in Anspielung auf ihre Lage oft genannt werden, offenbart die Zusammenhänge: In Rio de Janeiro lebt mehr als ein Fünftel der Bewohner_innen in diesen Favelas. Das sind rund 1,3 Millionen Personen in 763 comunidades, die im Jahr die dreizehn Milliarden Reais ausgeben – und damit mehr als etliche der brasilianischen Millionenstädte wie Florianópolis, Natal oder Cuiabá. Und der jahrelange öffentliche Diskurs über bürgerkriegsähnliche Zustände, Parallelmacht und vom Drogenhandel oder von Milizen unterjochtem Gebiet hat eine Art Übereinkunft geschaffen, die die militärische Invasion des Gebietes gutheißt. „Es gibt dort eine ganze ökonomische Struktur, die vom Drogenhandel hinterlassen wurde und die nun ersetzt werden muss“, ist Romualdo Ayres überzeugt.
Für den Universitätsprofessor Rodrigo Castelo von der Bundesuniversität des Staates von Rio de Janeiro, Unirio, bewirkt die Einsetzung der sogenannten befriedenden Polizeieinheiten (UPP), dass „das Kapital sich in diesen Gebieten mit einem gewissen Grad an juristischer Sicherheit für Hab und Gut niederlassen kann, was vorher so nicht möglich war“, erläutert Castelo.
Dabei gab es schon vor der Besetzungswelle von Rios Favelas mittels UPP-Einheiten ab dem Jahr 2008 (siehe LN 439) Erfolgsgeschichten, welche die Investor_innen animieren. Zum Beispiel der Fall der Fremdsprachenschule Yes in der Favela Rocinha, gelegen auf dem langgestreckten Hügel in der Zona Sul der Stadt, zwischen den Stadtvierteln Leblon und São Conrado, wo die Hochhäuser der gehobenen Mittelklasse mit Zäunen und Mauern verbarrikadiert sind. Bei Yes können die Schüler_innen aller Altersgruppen Englisch lernen. Bereits vor der Besetzung der Rocinha durch die Polizeieinheiten im November 2011 waren dort 750 Schüler_innen eingeschrieben, während in den anderen Sprachinstituten von Yes im Durchschnitt nur 550 Eingeschriebene studierten. Hinzu kommt, dass sie bei Yes oben in der Rocinha immer weniger Probleme mit Zahlungsrückständen oder Vertragsbrüchen hatten. Rocinha war für Yes bereits vor der Besetzung eine gute Investition.
Professor Rodrigo Castelo erinnert daran, dass die Favelas bis vor kurzem als „Hort der Kriminalität“ angesehen wurden. Und hinter dem Diskurs der öffentlichen Sicherheit tritt das ganze Interesse des Kapitals an den gut gelegenen Morros der Stadt offen zutage, aus dem heraus die Firmen derzeit so massiv in den Favelas eindringen: „Dieser Prozess, den wir hier in den comunidades populares von Rio de Janeiro erleben, zeigt klar das Interesse des Kapitals, das sich von den Interessen des Staates unterstützen läßt“, erläutert Rodrigo Castelo. Bis vor kurzem galten die Favelas den Firmen und der Mittel- und Oberschicht der Stadt als Reservoir billiger Arbeitskräfte, auf die sie nach Belieben zurückgreifen konnten.
Diese Sicht beginnt sich in dem Maße zu ändern, wie die Favelas nun vermehrt als sehr gewinnträchtige Räume angesehen werden. „So zieht es die großen Ketten dorthin, um Filialen zu errichten; ebenso wie Kinos, Supermärkte und Kreditinstitute“, beschreibt Professor Castelo. Dieser Einzug ist ihm zufolge jedoch zweischneidig. „Das schafft dort zunächst Arbeit und Einkommen. Das kann man nicht bestreiten, aber werden diese Arbeitsplätze und das Einkommen ausreichend sein, um die im gleichen Zuge steigenden Lebenshaltungskosten für die, die dort leben, zu decken?“, fragt sich der Professor. Zunächst stiege das verfügbare Einkommen der Bewohner_innen, aber dann stelle sich bald eine zunehmende Verarmung vor Ort ein. „In der Tat geschieht das, was an anderen Orten auch passierte“, meint Professor Castelo. „Die Leute werden bald nicht mehr über die finanziellen Mittel verfügen, dort wohnen bleiben zu können.“
Im November 2012 kündigte die Präfektur der Stadt Rio de Janeiro an, dem Stadtparlament einen Vorschlag zur Änderung der Grundsteuer auf Wohneigentum (IPTU) vorzulegen. Gegenwärtig sind die Besitzer_innen von Häusern in erdrutschgefährdeten Risikogebieten von dieser Grundsteuer befreit, so dass bei nur rund 40 Prozent der Häuser diese Steuer erhoben wird. Mit dem eingereichten Änderungsvorschlag sollen dem Plan nach 97 Prozent der Häuser diese Steuer zahlen.
Und diese ist nicht die einzige Quelle steigender Kosten für die Bewohner_innen der vormals verschmähten Favelas. Laut der Gewerkschaft für Wohnungsfragen in Rio, Secovi, ist der hauptsächliche Kostentreiber für die Favela-Bewohner_innen die Einrichtung der befriedenden Polizeieinheiten selbst: Nach dem Einzug der UPP stiegen die Immobilienpreise in einigen Favelas und auf den Morros um das Doppelte. Und nicht zufällig war eine der ersten Maßnahmen, die kurz nach der Besetzung der Favelas durch die Polizeieinheiten ergriffen wurde, die Regularisierung der Strom- und Wasseranschlüsse. Ohne dass die Stadt für soziale Ausgleichsprogramme gesorgt hat, müssen nun die hohen Tarife für fließend Strom und Wasser gezahlt werden – für Menschen mit geringem Einkommen eine schwere Bürde, die zur weiteren Überteuerung des Lebens auf dem Morro beiträgt.
Seit 2008 hat das für öffentliche Sicherheit zuständige Sekretariat der Stadt Rio de Janeiro in 31 Favelas die befriedenden Polizeieinheiten der UPP installiert. Im gleichen Maße schreiten die Militarisierung und die Inwertsetzung der Favela voran. Hinzu kommen die Tourist_innen und Besucher_innen. Es ist chic geworden, sich auf dem Morro ein Zimmer mit Blick auf Stadt und Strand zu mieten. Und auf dem Morro do Alemão wird die neu gebaute Kabinenseilbahn von mehr Tourist_innen benutzt als die weltberühmte Seilbahn, die hoch auf den Zuckerhut führt: im November 2012 fuhren mit der Seilbahn über den Morro do Alemão doppelt so viele Menschen wie hoch auf die Postkartenidylle des Pão de Açúcar.
Im gesamten Prozess der räumlichen Neuorganisation der Favelas spielen die Medien eine bedeutende Rolle. Professor Rodrigo Castelo sieht in der Medienberichterstattung über die neuen Schönheiten der Favelas den Versuch, den Eingriff von Staat und Markt auf den Morros zu legitimieren. „So finden diese Umstrukturierungsprozesse leichter Akzeptanz, selbst bei denjenigen, die davon den größten Schaden nehmen“, so Castelo. Romualdo Ayres von der Vereinigung für Franchising hingegen bewegt dabei etwas anderes: „Als ich vor Monaten die Information erhielt, dass die Novela des Fernsehsenders Rede Globo den Complexo do Alemão als Kulisse nehmen wolle, da dachte ich mir: Das da wird explodieren!“