Brasilien | Nummer 454 - April 2012

Straflosigkeit juristisch austricksen?

Brasilianische Staatsanwält_innen versuchen, das seit 1979 geltende Amnestiegesetz auszuhebeln

Das brasilianische Amnestiegesetz verhindert die juristische Aufarbeitung aller Straftaten, die zur Zeit der Militärdiktatur von Militärs und Oppositionellen begangen worden sind. Die Bundesstaatsanwaltschaft verlangt jetzt die Anklage gegen einen Oberst der Reserve, dem sie die Entführung von fünf Oppositionellen im Jahre 1974 vorwirft. Sie argumentiert, da die Opfer nie aufgetaucht seien, halte die Entführung an – und das Amnestiegesetz schütze den Oberst deswegen nicht vor der Strafverfolgung.

Christian Russau

Sebastião Rodrigues Curió, Oberst der Reserve, könnte der erste Militärangehörige in Brasilien werden, der sich wegen seiner Taten aus der Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) strafrechtlich verantworten muss. Dies beabsichtigen zumindest fünf Bundesstaatsanwält_innen, die gegen ihn Klage erhoben haben. Begleitet von großem Medieninteresse reichten sie die Klageschrift gegen Oberst Curió ein, dem sie die Entführung von fünf Mitgliedern der Guerrilha do Araguaia im Jahre 1974 vorwerfen. Da die sterblichen Überreste der Betroffenen nie gefunden wurden, sei die juristische Schlussfolgerung eindeutig. „Das Verbrechen der Entführung wird weiterhin begangen“, so der Bundesstaatsanwalt Sérgio Gardenghi Suiama Mitte März bei der Einreichung der Klageschrift. Wäre zweifelsfrei bewiesen, dass eine mutmaßliche Ermordung der Guerrilha-Kämpfer_innen bereits damals erfolgte, dann würde die Tat unter das Amnestiegesetz von 1979 fallen. Aber da es diesen Beweis nicht gebe, dauere das Verbrechen der Entführung an – deshalb müsse der Richter die Klage gegen Curió vor dem für den Fall zuständigen Gericht in Marabá im Süden des Bundesstaates Pará zulassen.
„Dies ist eine historische Entscheidung“, beglückwünschte Criméia Almeida die Klage der Staatsanwaltschaft. Almeida war Anfang der 1970er Jahre Mitglied der Guerrilha do Araguaia, ihr Mann ist seither verschwunden. „Das straflose Verschwinden von Personen bedeutet ein fortwährendes Verbrechen an uns Angehörigen“, erläutert Criméia Almeida. Sie hatte 2008 zusammen mit ihrer Familie in einem Aufsehen erregenden Fall die erste Zivilklage gegen einen Folterer in Brasilien gewonnen: Seither darf sie von Gerichts wegen ihren Folterer Folterer nennen (siehe LN 405).
Im nun von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafprozess geht es um das Verschwinden von Maria Célia Corrêa, Hélio Luiz Navarro Magalhões, Daniel Ribeiro Callado, Antônio de Pádua Costa und Telma Regina Cordeira Corrêa, die im Jahr 1974 im Bundesstaat Pará, in der Region des Rio Araguaia. Teil der gleichnamigen Guerrilha waren. Diese war Anfang der 1970er Jahre von Mitgliedern der damals verbotenen Kommunistischen Partei von Brasilien (PcdoB) gegründet worden und operierte bis Ende 1974 im Süden Parás. Die geschätzt siebzig bis achtzig Mitglieder der Guerrilha do Araguaia sowie eine unbekannte Zahl von Bewohner_innen der Region, denen das Militär „Kollaboration mit den Subversiven“ vorgeworfen hatte, sind seither verschwunden. 2010 wurden die sterblichen Überreste von zehn der bis heute „Verschwundenen“ im Araguaia-Gebiet gefunden, nachdem Militärangehörige gegenüber der Presse Aussagen über mögliche Fundstellen der verscharrten Opfer gemacht hatten (siehe LN 445/446).
Die fünf Mitglieder der Guerrilheira do Araguaia, auf deren Verschwinden sich die jetzige Anklage der Bundesstaatsanwaltschaft bezieht, zählen zu denen, deren Schicksal nie geklärt wurde. Sie wurden zwischen Januar und September 1974 von Militärs gefangen genommen und in eine Kaserne verbracht, die unter Aufsicht von Oberst Curió stand. Dort wurden sie gefoltert – und danach nie wieder gesehen. Deshalb sei es „fundamental, dass die Justiz die Fälle analysiert, die Beweislage ermöglicht und die Geschichte der Opfer ans Tageslicht bringt“, so die Staatsanwaltschaft. Ein juristisch geschickter Schachzug, der die Bestimmungen des Amnestiegesetzes umgehen soll.
Der für den Fall zuständige Bundesrichter, João César Otoni de Matos, sah das bei der ersten Anhörung des Falls in Marabá anders. Die Staatsanwaltschaft habe Belege vorgelegt, die darauf hindeuten könnten, dass „die Verschwundenen bis zum heutigen Tage entführt werden“, so Otoni de Matos. Es sei zu bezweifeln, so der Bundesrichter, dass die Verschwundenen „dreißig und soundsoviel Jahre später noch immer in Gefangenschaft durch den Beschuldigten gehalten würden“. Die Logik widerspreche dieser in der Klageschrift dargelegten Beweisführung. Und selbst wenn man eine Entführung als gegeben annehme, so müsse angesichts der bekannten „Fakten der extremen Wahrscheinlichkeit des Todes der Verschwundenen“ davon ausgegangen werden, dass die Betroffenen bereits damals ermordet wurden. Die Tat sei somit verjährt und falle unter das Amnestiegesetz, sagte der Richter. Erst vor knapp zwei Jahren hatte der Oberste Gerichtshof des Landes die Gültigkeit des seit 1979 bestehenden Amnestiegesetzes erneut bestätigt.
Der Anwalt der Verteidigung, Adelino Tucunduva, erklärte seine Genugtuung. „Wenn es auf der einen Seite übereifrige Staatsanwälte gibt, so gibt es auf der anderen Seite Richter, die mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen“. Nichts anderes als diese Entscheidung des Richters habe er erwartet, erklärte der Anwalt von Oberst Curió.Die Staatsanwaltschaft kündigte demgegenüber umgehend Revision an.
Zusätzliche Aufmerksamkeit erlangte der Fall, da ein Sprecher des Hohen Kommissars für Menschenrechte der Vereinten Nationen nach Bekanntwerden der gegen Curió eingereichten Klage öffentlich forderte, dass Brasilien den Fall juristisch aufzuklären habe. Ähnlichen internationalen Druck hatte es seitens des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (CoIDH) der Organisation Amerikanischer Staaten bereits vor über einem Jahr gegeben. Dieser hatte den brasilianischen Staat wegen der Verschleppung und Ermordung der verschwundenen Mitglieder der Guerrilha do Araguaia verurteilt. Die Richter_innen verlangten von Brasilien, endlich alle Verbrechen gegen die Menschheit aufzuarbeiten.
Auch der Präsident der Brasilianischen Anwaltskammer OAB aus Rio de Janeiro, Wadih Damous, kritisierte den Umgang Brasiliens mit seiner Vergangenheit der Militärdiktatur. „In keinem zivilisierten Land dieser Welt“, so Damous, „wurden die von Staatsangehörigen begangenen Verbrechen gegen die Menschheit amnestiert oder deren Verbrechen als verjährt deklariert“. Nur in Brasilien sei dies so.
Der oberste Chefankläger der Republik, der Oberstaatsanwalt des Bundes, Roberto Gurgel, äußerte sich aus Brasília zu dem Fall der Anklage gegen den Oberst Sebastião Rodrigues Curió. Zwar teile er mehrheitlich die Ansicht des Richters Otoni de Matos, dass die Verbrechen verjährt und durch das Amnestiegesetz rechtssicher gegen Strafverfolgung immun seien, aber seiner Einschätzung nach könne der offenkundig juristisch äußerst komplexe Fall letztlich nur vom Obersten Gerichtshof Brasiliens entschieden werden.


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