Nummer 317 - November 2000 | Peru

Der peruanische Rasputin

Aufstieg und Fall eines Präsidentenberaters

Vladimiro Montesinos war nicht nur der persönliche Berater Präsident Fujimoris. Er war der Mann im Hintergrund des Regimes. Ihm hat es der Präsident zu verdanken, dass er sich über zehn Jahre in seinem Amt halten konnte. Jetzt ist Montesinos gestürzt. Das Ende der Ära Fujimori war damit besiegelt.

Rolf Schröder

In den frühen Morgenstunden des 24. September landete auf dem Flughafen von Panama-Stadt ein Privatjet aus Lima. Der Passagier, der zusammen mit einem Leibwächter und einer Sekretärin aus der Maschine stieg, stellte einen Antrag auf politisches Asyl. In einem persönlichen Brief an die panamaische Präsidentin Mireya Moscoso schrieb er: „Wie öffentlich bekannt ist, bin ich Opfer einer politischen Verfolgung, die meine physische Integrität bedroht und mich zwingt, mein Land zu verlassen.“ Der Reisepass des Antragstellers ist peruanischer Herkunft und auf den Namen Vladimiro Lenin Montesinos Torres ausgestellt.
Der Ankömmling selbst hätte sich diesen Namen vermutlich nicht gegeben, denn den Kommunismus hat er zeitlebens bekämpft. Sein russischer Spitzname charakterisiert ihn besser. Der lautet Rasputin und ist dem unheilvollen Einfluss dieses Mannes auf die peruanische Politik geschuldet. Denn Vladimiro Montesinos war über ein Jahrzehnt der Schatten des peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori. In den Achtzigerjahren betreute er Fujimori als Anwalt, und nach dem überraschenden Wahlsieg seines Mandanten im Jahre 1990 übernahm er als persönlicher Berater des Präsidenten die Leitung des Geheimdienstes SIN. Seine jetzige Flucht nach Panama markiert den Anfang vom Ende der Ära Fujimori.

Zehn und fünf macht fünfzehn

Montesinos stolperte über einen Videostreifen, dessen Schlüsselszene aus einem Kriminalfilm stammen könnte: Zwei dunkel gekleidete Männer verhandeln. Der eine ist offenbar der Boss. „Wie viel wollen Sie?“ fragt er und fügt hinzu: „Hier sind Zehntausend.“ Dabei zieht er ein Kuvert aus der linken Hosentasche und zählt ein paar Dollarscheine ab. Doch der andere besteht auf Fünfzehntausend. Lässig und ohne viel Aufhebens greift der Boss in seine rechte Hosentasche und befördert einen zweiten Umschlag hervor: „Gut. Zehn und fünf macht fünfzehn.“ Das Geld wechselt den Besitzer.
Der Boss ist Vladimiro Montesinos selbst. Das Video zeigt nämlich, wie Montesinos den Oppositionsabgeordneten Alberto Kouri besticht. Dieser lief als Gegenleistung für die ausgezahlten Dollars ins Regierungslager über. Als einer von insgesamt siebzehn Oppositionsabgeordneten. Und sicherte damit Fujimoris Liste, die bei den Wahlen nur 52 von 120 Sitzen errang, eine solide absolute Mehrheit. Der Geheimdienstchef wurde verraten, denn das Video ist durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangt. Die Opposition behauptet sogar, sie könne mit weiteren Videoaufnahmen belegen, dass Montesinos auch die anderen Überläufer bestochen hat.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Videos demonstrierten Zehntausende im ganzen Land für die sofortige Verhaftung des Geheimdienstchefs. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die US-Regierung hatten schon vorher das Ausscheiden der grauen Eminenz gefordert. Sie werfen Montesinos unter anderem vor, den offensichtlichen Wahlschwindel im Mai koordiniert zu haben. Präsident Fujimori hatte keine andere Wahl: Er gab im Fernsehen die Entlassung seines Beraters bekannt. Inoffiziellen Berichten zufolge hatte Montesinos sich aber zuvor geweigert zurückzutreten. Deshalb zog der Präsident nach japanischer Kamikaze-Tradition seinen letzten, entscheidenden Trumpf aus dem Ärmel. Er kündigte in der gleichen Fernsehansprache mit der baldigen Ausschreibung von Neuwahlen seinen eigenen Rückzug an. Erst damit war Montesinos erledigt.

Vladimiro ist überall

Montesinos und Fujimori waren einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der Geheimdienstchef konnte seine Fäden nur so lange im Hintergrund spinnen, wie der Präsident ihn deckte. Andererseits verfingen sich die Gegner des Fujimori-Regimes im dichten Netz der Verbindungen, die Montesinos geknüpft hatte. Der Präsident wusste: Montesinos war durch niemanden zu ersetzen.
Der ehemalige Hauptmann Montesinos sorgte für die Loyalität der Streitkräfte. Er schaffte es, die Armeespitze fast vollständig mit seinen Gefolgsleuten zu besetzen. Obwohl er einst wegen Urkundenfälschung ein Jahr im Militärgefängnis saß und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde. Neun von dreizehn Generälen aus dem heutigen Oberkommando der Streitkräfte haben Montesinos ihre Ernennung zu verdanken. Fast die gesamte militärische Führungsriege hat gemeinsam mit ihm die Offiziersschule besucht.
Die Kontakte aus seiner Anwaltszeit nutzte Montesinos für die Gleichschaltung von Justiz und Polizei. Schon in den Achtzigerjahren war es ihm gelungen, sich durch ausgezeichnete Verbindungen zu Polizei, Richtern und Staatsanwälten einen Namen als erfolgreicher Strafverteidiger zu machen. Seine Mandanten waren fast ausschließlich Drogenhändler. Von den heutigen Richtern und Staatsanwälten amtieren kraft eines Regierungsdekretes 80 Prozent auf Zeit. Sie werden von einer Regierungskommission ernannt, die ihre Anweisungen offenbar vom SIN erhält. So berichtete die Zeitung La República, dass nach Bekanntwerden des Videoskandals eine offene Panik unter Richtern und Staatsanwälten ausbrach, weil sie ohne die schützende Hand des Geheimdienstchefs um ihren Job fürchteten.
Auch die Gleichgeschaltung der Medien, der Fujimori einen Teil seiner Popularität verdankt, wurde von Montesinos gesteuert. Mit Ausnahme eines Kabelkanals liegen alle Fernsehprogramme und fast die gesamte Boulevardpresse auf Regierungslinie. Verschiedene Redakteure mussten sich ins Ausland absetzen, weil sie jene Institution beim Namen nannten, die offen in die Programmgestaltung und das Redigieren von Zeitungsartikeln eingreift: den Geheimdienst SIN.
Im „kleinen Pentagon“, dem Amtssitz des Geheimdienstchefs, liefen am Ende mehr Fäden zusammen als im Präsidentenpalast. In dem Gebäude von 46000 Quadratmetern arbeiteten 200 Funktionäre der Streitkräfte, 1.000 Polizisten und 350 Zivilisten. Montesinos, der auch als ehemaliger Mitarbeiter der CIA gehandelt wird, koordinierte für das Regime die Drecksarbeit hinter den Kulissen und organisierte einen Spitzeldienst nach dem Vorbild der Stasi. In unzähligen Witzen, die über den Geheimdienstchef kursierten, geht es genau darum: Vladimiro sieht alles. Vladimiro hört alles. Vladimiro weiß alles. Vladimiro ist überall.

Das System Montesinos

„Seit neun Jahren lebe ich hier, 24 Stunden am Tag. Das weiß auch Präsident Fujimori. Wir Männer vom Geheimdienst arbeiten immer im Stillen. Das ist unsere Mission.“ Diese Worte sprach Vladimiro Montesinos im April 1999 vor laufenden Fernsehkameras in seinem Büro. Doch er arbeitete nicht nur für das Regime. Sein Wissen und seine Kontakte nutzte er intensiv für private Zwecke. Seit seiner erfolgreichen Anwaltskarriere wird er immer wieder mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht. Und eine ganze Reihe von Indizien deuten darauf hin, dass führende Offiziere in Armee und Geheimdienst in Waffenschiebereien verwickelt sind.
Der neueste Waffenskandal, der Weiterverkauf von 10.000 Kalaschnikow-Gewehren aus Jordanien an die kolumbianischen FARC (siehe LN 315/316), brachte Montesinos und den Heereschef Villanueva Truesta sogar selbst in Bedrängnis. Auch bei Beförderungen von Offizieren soll der Rasputin des Regimes laut Zeugenaussagen regelmäßig die Hand aufgehalten haben.
Überhaupt ist die Liste der Verbrechen lang, mit denen Montesinos in Verbindung gebracht wird. Dazu zählen die Verschleppung und Hinrichtung von neun Studenten und einem Dozenten der Universität La Cantuta im Jahre 1993, das Massaker von Barrios Altos, einem Stadtteil von Lima, bei dem ein Jahr zuvor vierzehn Menschen starben, und die Ermordung des Gewerkschaftsführers Pedro Huilca. Zwei Agentinnen des militärischen Geheimdienstes, Mariela Barreto und Leonor de la Rosa, versuchten Einzelheiten der Verbrechen des SIN an die Öffentlichkeit zu bringen. Barreto wurde daraufhin gefoltert und ebenfalls ermordet. De la Rosa gelang es, nach schwerer Folter ins Ausland zu entkommen. Sie ist heute gelähmt und sitzt im Rollstuhl.
Das System Montesinos schien perfekt. Wer gegen den Geheimdienstchef aussagen wollte, wurde bedroht oder verschwand. Oder die Justiz griff selbst ein. Als der Oppositionsabgeordnete Jorge del Castillo aufdeckte, dass Montesinos auf einem seiner Konten Einnahmen von 2,6 Millionen US-Dollar pro Jahr verbuchte, leitete die Staatsanwaltschaft nicht etwa Ermittlungen über die Herkunft des Geldes ein, sondern sie brachte del Castillo selbst auf die Anklagebank – wegen Verletzung des Bankgeheimnisses.
Und als der landesweit bekannte Drogenhändler Demetrio Chávez vor Gericht gestand, monatlich 50.000 US-Dollar an den Geheimdienstchef für die Landeerlaubnis seiner Flugzeuge gezahlt zu haben, wurde er in Isolationshaft gesteckt und mit Elektroschocks behandelt. Seitdem leidet er unter Gedächtnisschwund.
Die Generalstaatsanwältin Blanca Nélida Colán, die schon mehrfach Anzeigen gegen Montesinos wegen Drogenhandel abgewehrt hatte, spurte noch bis zum Schluss. Sie vernahm den Geheimdienstchef kurz vor dessen Abflug nach Panama wegen des Videoskandals. Doch sie legte den Fall umgehend zu den Akten, weil Montesinos aussagte, er hätte dem Abgeordneten Kouri die strittigen 15.000 Dollar für den Kauf eines Lastwagens geliehen. Was machte es schon, dass der wahre Grund der Geldübergabe aus dem aufgezeichneten Gespräch zwischen Montesinos und Kouri eindeutig hervorgeht.
Der Geheimdienstchef scheiterte am Ende daran, dass er alles selbst in die Hand nahm. Und sich so sicher fühlte, dass er sich bei seinen Delikten sogar filmen ließ. Das wäre ihm fast schon einmal zum Verhängnis geworden. Der Journalist Fabián Salazar brachte kurz vor den Wahlen Videobänder in seinen Besitz, auf denen ein brisantes Gespräch zwischen dem Geheimdienstchef und dem Vorsitzenden der obersten Wahlbehörde über die Organisation des Wahlbetrugs aufgezeichnet war. Salazar wurde überfallen, bevor er sein Material veröffentlichen konnte. Mit einer elektrischen Säge zertrennten ihm die Täter mehrere Sehnen seiner Hand und verschwanden mit den Bändern.

Die Ratte geht von Bord

Montesinos Verbündete in der Armee hielten ihm bis zum Schluss die Treue. Sie schützten ihn noch eine Woche in seinem Büro, damit er Akten vernichten oder Festplatten löschen konnte. Nach seinem Abflug in Richtung Panama wollten Gerüchte nicht verstummen, eine Gruppe von Offizieren bereite einen Putsch vor, um Montesinos die Rückkehr zu ermöglichen. Der entlassene Berater selbst soll noch in Lima mit einem Staatsstreich gedroht haben. Für den Fall, dass er nirgendwo Asyl bekäme. Ernst kann Montesinos das nicht gemeint haben. Denn er weiß, dass seine Zeit ohne Fujimori unwiderruflich abgelaufen ist. Eine Militärregierung Montesinos würde den Volkszorn zum Kochen bringen.
Die Regierung in Panama hat noch nicht über Montesinos Asylantrag entschieden. Derweil wurde der Geheimdienstmann im Ruhestand von panamaischen Demonstranten als Mörder, Delinquent und Ratte beschimpft. Der Vergleich mit dem Nagetier trifft schon insofern zu, als Montesinos als Erster von Bord des sinkenden Regierungsschiffs ging und damit in Sicherheit ist. Falls es mit dem Asyl in Panama wider Erwarten nicht klappt, geht es voraussichtlich weiter nach Marokko oder Tunesien.
Bislang hat Montesinos aus Peru nichts zu befürchten. Denn solange seine Gefolgsleute dort die führenden Positionen in den Streitkräften, der Regierung und der Justiz besetzen, wird es keinen Auslieferungsantrag geben. Trotz aller Anträge und Forderungen der Opposition. Die peruanische Regierung sprach dem Mann im Exil sogar offiziell ihren Dank aus. Für seine besonderen Verdienste bei der Bekämpfung des Drogenhandels und des Terrorismus.

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