Nummer 349/350 - Juli/August 2003 | Peru

Der Präsident in seinem Labyrinth

Soziale Proteste stürzen die Regierung in eine Dauerkrise

Nach dem Ausstand kam der Ausnahmezustand: Die peruanische Armee vertrieb die Streik- und Protestbewegung mit scharfen Schüssen von der Straße und sorgte für einen Monat Ruhe. Präsident Toledo hat diese Zeit nicht genutzt. Kurz bevor die Soldaten sich in ihre Kasernen zurückziehen, ist die Situation auswegloser denn je.

Rolf Schröder

Alejandro Toledo ist ein Fußballfan, der sich auf Trainerweisheiten versteht. „Ein Spiel dauert 90 Minuten!“ wusste er kürzlich bei der Einweihung eines Sportplatzes und begann, wie im Gewerbe üblich, in der Du-Form zu reden: „Leider gibt es einige, die nicht fair spielen. Da willst du deine Mannschaft nach vorne bringen, und sie reißen an deinem Trikot oder treten dir ans Schienbein. Aber wir werden trotzdem gewinnen!“ Übersetzt heißt das: Die peruanische Regierung rackert und schafft, während ihre politischen Gegner sabotieren und zerstören. Toledo findet die Situation paradox: Das Bruttoinlandprodukt wächst zum zweiten Mal in Folge um fünf Prozent, die Handelsbilanz ist seit längerer Zeit wieder positiv, und trotzdem hat eine breite Streik- und Protestbewegung die Regierung ins Wanken gebracht. Und zwar so kräftig, dass der Präsident Ende Mai den Ausnahmezustand verhängte.

Das Land im Ausstand

Ein Blick zurück auf die letzten Tage vor dem Ausnahmezustand: 280.000 LehrerInnen befinden sich in einem unbefristeten Streik. Ein paar Hundert von ihnen, Mitglieder der Einheitsgewerkschaft Erziehung (SUTEP), blockieren seit Wochen die vierspurige Fahrbahnhälfte vor dem peruanischen Kongress. Mit einer Flüstertüte versucht ein übergewichtiger, schwitzender Funktionär den tosenden Verkehr zu übertönen, den die DemonstrantInnen auf den verbleibenden Fahrspuren zum Kollaps gezwungen haben. Er begründet mit heiserer Stimme die Forderungen der Protestierenden und fasst zusammen: „Kein Schritt zurück! Der Streik wird fortgesetzt.“ Die DemonstrantInnen recken ihre Fäuste empor und skandieren: „SUTEP, SUTEP, SUTEP!“ So geht es etwa zehn Parolen lang weiter, bis das Ritual mit einem Gesang ausklingt: „Und er wird stürzen, und er wird stürzen, der Lügner, er wird stürzen!“
Mit dem Lügner ist Alejandro Toledo gemeint, der den LehrerInnen im Wahlkampf eine Verdoppelung ihrer Gehälter und des Bildungshaushalts versprochen hatte. Alfredo Orellana, einer der DemonstrantInnen, entrüstet sich: „Der Präsident sollte nicht so viel reden, er sollte handeln. Unser Gehalt reicht vorn und hinten nicht! Wenn ich mittags mit der Schule fertig bin, muss ich als Klempner und Taxifahrer arbeiten.“ Zur Vorbereitung des Unterrichts bleibt da keine Zeit. Kein Wunder, dass Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder schon seit langem auf private Schulen schicken. Alfredo hat sich ein Transparent mit einer Rangfolge verschiedener Monatsgehälter umgehängt: „Staatspräsident: 42.000 Soles, Minister 35.000 Soles, Abgeordnete 25.000 Soles, Lehrer und Polizisten: 600 Soles.“ Mit 600 Soles Gehalt, etwa 150 Euro, kommt man in einer Stadt wie Lima nicht weit.
In diesen letzten Maitagen wird die Situation für die Regierung immer bedrohlicher. Zehntausende LehrerInnen ziehen täglich durch Lima und die Provinzhauptstädte. Auf anderen Routen sind Angestellte der staatlichen Krankeneinrichtungen und der Justiz unterwegs, die ebenfalls in einen unbefristeten Streik getreten sind, um für eine Erhöhung ihrer armseligen Gehälter zu kämpfen. Aus allen Landesteilen reisen Landwirte in die Hauptstadt an und protestieren gegen eine geplante Privatisierung der Wasserversorgung, die Präsident Toledo im Wahlkampf noch entschieden abgelehnt hatte. Der völlige Stillstand der Agrarproduktion steht unmittelbar bevor, da 1,5 Millionen Bäuerinnen und Bauern einen Ausstand vorbereiten, um die Herabsetzung der Mehrwertsteuer für Agrarprodukte durchzusetzen. BauarbeiterInnen, entlassene öffentliche Angestellte und PolizistInnen bereiten sich auf Protestaktionen vor.
Toledos Problem: Zweieinhalb Jahre nach dem Ende der neoliberalen Fujimori-Diktatur wollen sich die sozialen Bewegungen in Peru nicht mehr länger vertrösten lassen. Sie erinnern sich, dass der Kandidat Toledo im Wahlkampf für Sozialreformen und eine Umverteilung von oben nach unten stand. Nicht nur den Bildungs- und Gesundheitssektor wollte er ausbauen. Der verarmten Agrarbevölkerung sicherte er Billigkredite zu, vergessenen Regionen den Anschluss ans Straßennetz. Doch im Mai 2003 hat die Regierung noch nicht einmal ein Konzept zur Finanzierung solcher Projekte vorgelegt. Schlimmer noch, Ministerpräsident Luís Solari verhöhnt die Protestbewegung, indem er erklärt, die Regierung habe ihre Aufgaben bereits zu 95 Prozent erledigt. Und der Wirtschaftsboom beschert zwar Branchen wie der Minenindustrie traumhafte Gewinne, doch für mehr Scheine im Portmonee der Bevölkerung hat er bislang nicht gesorgt.

Die Todesschüsse von Puno

Die Regierung sah sich zum Eingreifen veranlasst, als die Protestbewegung begann, wichtige Verkehrsverbindungen im Land zu blockieren. Erst zwei Wochen zuvor hatten streikende TransportunternehmerInnen die Panamericana gesperrt und für beträchtlichen Schaden um die 100 Millionen US-Dollar gesorgt. Unter anderem mussten mehrere Millionen Liter Milch vernichtet werden – in einem Land, in dem ein großer Teil der Bevölkerung unter chronischer Mangelernährung leidet. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands gelang es Präsident Toledo, die Proteste zu ersticken. Dank einer Armee, die bereits am ersten Tag in Puno auf Steine werfende DemonstrantInnen schoss. Ein Student starb mit einer Kugel im Rücken, Dutzende schwer Verletzte wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Seitdem ist es auf Straßen und Plätzen ruhig. Aber möglicherweise ist es die Ruhe vor dem Sturm. Denn am letzten Juniwochenende kehrte die Armee nach Ablauf des Ausnahmezustands in die Kasernen zurück. Und Toledo hat die Ruhe nicht genutzt.

Eigentor

Dabei sah es zu Beginn des Ausnahmezustands noch gut für den Präsidenten aus. Die Regierung konnte eine drohende Eskalation nach den Todesschüssen verhindern, obwohl Armeeminister Aurelio Loret de Mola diese mit einem Hinweis auf angebliche subversive Elemente unter den protestierenden StudentInnen sogar gerechtfertigt hatte. Als ein bewaffnetes Kommando unter angeblicher Führung des Sendero Luminoso kurz darauf in der Urwaldortschaft Tocate 62 Geiseln nahm, durfte sich die anrückende Armee wieder als Institution zur Verteidigung des Rechtsstaats präsentieren und war rehabilitiert. Unabhängig davon, dass kein einziger Schuss fiel und die Geiseln vermutlich durch Lösegeldzahlung freikamen.
Der Regierung gelang es außerdem, die streikenden LehrerInnen zur Rückkehr in die Schulen zu bewegen. Zwar fiel deren Gehaltsaufbesserung mit 100 Soles bescheiden aus, doch Toledos Wahlversprechen, die Löhne bis 2006 zu verdoppeln, war nun vertraglich abgesichert. PolizistInnen und anderen Staatsangestellten wurde ebenfalls eine Gehaltserhöhung in Aussicht gestellt. Damit musste aber auch ein Finanzierungskonzept her: Ende Juni schnürte Wirtschaftsminister Javier Silva Ruete ein drastisches Steuerpaket und kürzte die üppigen Gehälter staatlicher Spitzenfunktionäre und MinisterInnen um 30 Prozent.
Das Steuerpaket erwies sich als Eigentor für die Mannschaft des Präsidenten. Silva Ruete plante, Bankzinsen, Telefonanrufe, Kabelfernsehen, Busfahrten, sportliche und kulturelle Veranstaltungen, ja selbst Kinogänge, zu besteuern. Auch die Alkohol- und Tabaksteuern wollte er heraufsetzen. Damit reichte der Minister die Rechnung für die berechtigten Gehaltserhöhungen an die Mittelschicht weiter. Doch am Ende traf das Steuerpaket mit voller Wucht die Regierung selbst. Denn der Kongress lehnte mit den Stimmen zahlreicher Abgeordneter der Regierungskoalition einen Teil der Maßnahmen ab. Der Abgeordnete Javier Diez Canseso forderte höhnisch, an Stelle des Gerstensaftes doch lieber Whisky mit blauem Etikett zu besteuern – die Lieblingsmarke des Präsidenten. Ministerpräsident Luís Solari zeigte sich ob der Kritik am Steuerpaket erstaunt, glaubte er doch nach eigenen Angaben bis dato, dass es in Peru gar keine Mittelschicht gäbe. Immerhin trat Solari nach der Abstimmungsniederlage zurück.

Die Zeit von Cabana

Präsident Toledo will jetzt die Gelegenheit nutzen, um mehrere MinisterInnen auszuwechseln. Die Kandidaten für die verschiedenen Kabinettsposten, deren Namen jetzt kursieren, sind allerdings rechts-konservativer Herkunft oder gehören Unternehmerverbänden an. Und ausgerechnet zwei Männer dürfen wahrscheinlich bleiben: Armeeminister Loret de Mola, der die Mörder von Puno deckt, und Wirtschaftsminister Javier Silva Ruete, der die Mittelschicht schröpfen will. Der Präsident bleibt in seinem Labyrinth.
Toledo und seine Mannschaft drücken sich um die Lösung des Kernproblems: In Peru machen die Steuereinnahmen nur zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts aus und liegen damit deutlich unter dem Schnitt der Nachbarländer. Die nationale Steuerbehörde arbeitet schlicht und einfach ineffizient.
Gravierender noch: Ex-Präsident Fujimori hat Peru zu einem Steuerparadies für transnationale Unternehmen gemacht, die vor allem in der Gold-, Holz- und Gasbranche unbeschränkt Ressourcen ausplündern und traumhafte Gewinnmargen einstreichen dürfen. Recherchen des Wirtschaftsjournalisten Humberto Campodónico ergaben, dass fünfzehn der größten Unternehmen im Land, die zusammen im Jahre 2002 etwa 130 Millionen Dollar Gewinn erwirtschafteten, im selben Jahr – unglaublich, aber wahr! – keinen einzigen Cent Einkommensteuer zahlten. Die Abzahlung der Auslandsschulden, die fast 25 Prozent des Staatshaushalts auffrisst, ist für die Regierung ebenfalls kein Thema. Weder drängt sie auf Umschuldungsverhandlungen, noch macht sie sich für eine gemeinsame Initiative betroffener Staaten stark.
Der Präsident kann sich inzwischen kaum noch in der Öffentlichkeit sehen lassen. Wo er auch hinkommt, wird er ausgebuht. Nur noch zehn Prozent der Bevölkerung stimmen Meinungsumfragen zufolge seiner Politik zu. Über 80 Prozent lehnen ihn als Präsidenten ab. Toledos Hauptproblem ist seine mangelnde Glaubwürdigkeit. Aber er hat auch kein Konzept, um die anstehenden Probleme zu lösen. Der Präsident agiert nicht, sondern er reagiert. Und das meistens zu spät. Deswegen, und weil Alejandro Toledo auch sonst im Leben nicht pünktlich ist, haben die PeruanerInnen eine so genannte Zeitrechnung von Cabana eingeführt, benannt nach dem Geburtsort des Präsidenten. Sie liegt mindestens eine Stunde hinter der Uhrzeit von Lima zurück und ist zu einem festen Begriff im ganzen Land geworden. In der gegenwärtigen Situation wäre Toledo gut beraten, wenn er sich nicht nach der Zeit von Cabana richtete.
Denn die Regierung muss sich beeilen. Solange keine Steuerreform verabschiedet ist, können die Forderungen der sozialen Bewegungen nicht erfüllt werden. Dann wird es nach dem Ausnahmezustand auf den Straßen so zugehen wie vor dem Ausnahmezustand.


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