Der Schlächter und sein Henker
Der chilenische Film “Amnesia” von Gonzalo Justiniano
“Weißt du, Ramírez, wichtig ist nicht, was man erlebt hat, sondern woran man sich erinnert. Es ist mir schwer gefallen, aber ich habe es gelernt. Es ist so eine Art kontrollierter Gedächtnisverlust. Viele machen es hier so.” Der alte Mann schaut sich mit jovialem Blick in der Kneipe um. “Wir waren alle verrückt damals, im Lager Teufelsstraße.” – Zwei Militärveteranen, die sich nach zwanzig Jahren wiedergetroffen haben, gießen sich gemeinsam einen hinter die Binde.
Ramírez hatte gewußt, daß er seinen ehemaligen Vorgesetzten Zúñiga eines Tages finden würde. Aber ausgerechnet an seinem Hochzeitstag! Gerade kommt er mit seiner Frau vom Markt und freut sich auf ein romantisches Essen zu zweit, als er vom Bus aus eine halb vermummte Gestalt erblickt. Er verfolgt die Person, bis diese sich im Gassengewirr verliert. Zum Glück besitzt Ramírez ein vergilbtes Foto, das den Gesuchten in der Uniform eines Sergeanten zeigt. Ja, dieser Mann ist im Viertel bekannt, allerdings unter anderem Namen…
Die Erinnerung auszulöschen und in eine andere Haut zu schlüpfen, das ist Ramírez in all` den Jahren nicht gelungen. Immer noch ist er Gefangener seiner Erinnerungen an jenes Konzentrationslager in der Wüste, in das er vor zwanzig Jahren als junger Soldat abkommandiert war. Ein Ort im Nirgendwo. Die brütende Langeweile wird nur durch Erschießungen von Gefangenen durchbrochen, deren Zahl sich immer weiter dezimiert. Hier sind die Militärs genauso eingesperrt wie die politischen Häftlinge. Nacht für Nacht hängt sich der frustrierte Lagerkommandant Mandiola an das marode Funkgerät, empfängt Liquidierungsbefehle und bittet seinen fernen Vorgesetzten vergeblich, ihn an einen anderen Ort zu versetzen.
Der naiv-gutmütige Ramírez ist ein niedriger Charge, Befehlsempfänger seines Vorgesetzten Zúñiga. Dieser schwankt zwischen leutseligem, dröhnendem Humor und sadistischen Ausbrüchen. Einmal läßt er den verängstigten Ramírez mitten in der Wüste zurück, um die Leichen von erschossenen Gefangenen zu verscharren. Ramírez stellt fest, daß einer das Massaker überlebt hat.
Chilenische Vergangenheitsbewältigung zwischen “Amnestie” und “Amnesie”: Mehr als fünf Jahre nach der offiziellen Demokratisierung ist Ex-Diktator Pinochet immer noch Chef der Armee. Nach wie vor gilt groteskerweise die Generalamnestie für Verbrechen der Militärs, welche diese sich Ende der siebziger Jahre selbst ausstellten. Ähnlich wie in anderen ehemaligen Diktaturen Lateinamerikas gibt es in der chilenischen Öffentlichkeit lauthalse Forderungen, auch politisch einen Schlußstrich unter die Menschenrechtsverletzungen zu ziehen.
In “Amnesia” verzichtet der Drehbuchautor und Regisseur Gonzalo Justiniano, der selbst während der Diktatur jahrelang im Exil lebte, auf direkte Bezüge zur chilenischen Realität. Der Film ist in einem oft klaustrophobisch und absurd wirkenden, zeitlich und räumlich vagen Ambiente angesiedelt. “Was in Chile passierte, passierte auch in Europa, und zwar weitaus schlimmer, und ist in der Geschichte der Menschheit oft passiert. Mir war es wichtig, dieses ständige Vergessen-Wollen zu beschreiben, dieses Vorwärtsgehen, ohne hinter sich zu schauen, um sich ja nicht wieder zu verirren.”
“Wir sind das Heer der Schatten”, lallt Zúñiga, als er mit Ramírez durch die nächtlichen Straßen torkelt. Ramírez bringt einen außerplanmäßigen Bus zum Stehen, in dem nur der Fahrer sitzt. Dieser schließt die Tür hinter den beiden, tritt auf`s Gaspedal und trällert, scheinbar gedankenversunken, eine Melodie. “Woher kenne ich dieses Lied, woher kenne ich diesen Mann?”, fragt Zúñiga mit plötzlicher Beunruhigung. Er kann sich nicht erinnern. Die Amnesie hat sich seiner bemächtigt.
“Amnesia”
Chile, 1994, 90 Minuten
Regie: Gonzalo Justiniano