Lateinamerika | Nummer 295 - Januar 1999 | USA

Der unberechenbare Riese erwacht

Demokraten und Republikaner kämpfen um Latino-Stimmen

„Das Land, das die Mexikaner vor 150 Jahren an die Gringos verloren haben, erobern wir uns jetzt zurück: nicht mit Waffen – mit Chromosomen.“ Ursprünglich ironisch gemeint, faßt der Spruch heute die Hoffnungen vieler Latinos zusammen. Mitte des nächsten Jahrhunderts werden US-Bürger hispanischer Herkunft die größte Minderheit der Vereinigten Staaten sein. Damit gewinnen Sie auch politisch enorm an Gewicht. Mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2000 versuchen die Parteien deshalb, die Latinos auf ihre Seite zu ziehen.

Ann-Catherine Geuder

Am 3. November richteten sich in den USA viele Augen auf den „schlafenden Riesen“, wie die Latinos seit ein paar Jahren genannt werden. Es war der Tag der Gouverneurswahlen, der letzten Wahlen vor dem großen Run auf das Weiße Haus. Das Ergebnis fiel in den einzelnen Bundesstaaten sehr unterschiedlich aus, doch eins dürfte auch dem letzten Politiker klar geworden sein: für die Präsidentschaftswahl gilt es, den Giganten zu wecken und seine Gunst zu gewinnen. Während die Wahlbeteiligung insgesamt sehr niedrig war, gingen mehr Latinos als je zuvor zu den Urnen. Zum einen gibt es immer mehr wahlberechtigte Bürger hispanischer Herkunft (32 Mio.), zum anderen wuchsen durch die umstrittene Immigranten- und Minderheitenpolitik der letzten Jahre politisches Bewußtsein und Aktivität der Latinos. In Bundesstaaten mit dichter hispanischer Bevölkerung wie Kalifornien, Texas, Florida und New York spielten sie diesmal eine Schlüsselrolle. Gemeinsam stellen diese vier Staaten die Mehrheit der Stimmen, die im Jahr 2000 zur Wahl des Präsidenten notwendig sein wird.
Doch mit welcher Politik ist der Riese zum Wählen der eigenen Partei zu bewegen? Latino ist nicht gleich Latino: Die mexikanisch-amerikanische Bevölkerung in Kalifornien wählt anders als die in Texas, Puerto Ricaner in New York haben andere Interessen als Exil-Kubaner in Miami, und selbstverständlich gibt es innerhalb dieser Gruppen wiederum unterschiedliche Strömungen. Im Bundesstaat Florida, mit seiner eher konservativen kubanisch-amerikanischen Bevölkerung, gewann zum Beispiel der amtierende demokratische Senator Bob Graham überraschende 65 Prozent der Latino-Stimmen. Er hatte einen für Demokraten ungewöhnlich harten Anti-Castro-Kurs eingeschlagen und konnte damit Wähler gewinnen, die weniger für die Republikaner, als einfach gegen Castro waren.
In Kalifornien unterstützten drei Viertel der Latino-Wähler Gray Davis, der nach 16 Jahren der erste demokratische Gouverneur des Bundesstaates wurde. Seine Parteigenossin Cruz Bustamante, die schon vor vier Jahren Golden State-Geschichte schrieb, als sie als erste Latina zur Sprecherin des Parlaments gewählt wurde, stieg nun (mit 84 Prozent der Latino-Stimmen) zur Stellvertretenden Gouverneurin auf und ist
damit die zweitmächtigste Politikerin Kaliforniens. Die Latinos besitzen jetzt im Parlament ein Drittel, im Senat sogar fast die Hälfte der Sitze und werden somit bei zukünftigen Entscheidungen mehr als ein Wort mitzureden haben.

Anti-Latino-Politik

Der Blick auf die Wahlergebnisse der Latinos muß die Republikaner beunruhigen. Schließlich wird Kalifornien mit dem 2000-Zensus wegen der ansteigenden Bevölkerungsrate wahrscheinlich sieben Mitglieder mehr im Repräsentantenhaus stellen. Zudem werden die Wahlbezirke für die Sitze im Kongreß das nächste Mal von den Demokraten aufgeteilt, die dabei versuchen werden, neue, „sichere“ Sitze einzurichten. Die Republikaner könnten so die Kontrolle über das Repräsentantenhaus verlieren. Sie müßten sich jetzt sehr anstrengen, um die Latinos noch zum Lagerwechsel zu bewegen. Zuviele Sympathien haben sie mit ihrer Latino-feindlichen Politik der letzten Jahre verspielt. Die Erinnerungen an Pat Buchanans Anti-Immigranten-Hetze 1992 sind genauso lebendig wie die an die minderheitenfeindliche Politik des ehemaligen Gouverneurs Pete Wilson. „Wilson ist immer noch Gift unter den Hispanics“ meint der Meinungsforscher William Schneider und bezweifelt, daß sich die Republikaner davon jemals erholen können.
Ob man den angerichteten Schaden in den nächsten zwei Jahren wieder gut machen können wird, darüber scheiden sich auch innerhalb der Grand Old Party die Geister. Die Republikanische Partei hatte die verschiedenen Immigranten- und Minderheitenfeindlichen Propositions (Anträge auf Verfassungszusätze) in Kalifornien unterstützt, die Startschüsse für nationale Kampagnen waren. So hatte sie 1994 die Proposition 187 befürwortet, welche die staatliche Unterstützung für „illegale“ Immigranten einschränkt und deshalb auf großen Widerstand bei den Einwanderergruppen gestoßen ist. Sie hatte mit ihrer Polemik die mexikanischen Migranten zum Sündenbock gemacht, der für die ökonomische Krise Kaliforniens verantwortlich sein soll. Die von Clinton abgesegnete Militarisierung der Südgrenze, „Operation Gatekeeper“, ging in die gleiche Richtung.

English Only

Die Proposition 209 beendete 1996 die staatlichen Affirmative-Action-Programme, durch die erreicht werden sollte, daß Minderheiten im öffentlichen Sektor verstärkt eingestellt werden. Die Republikaner vermittelten in der hitzigen Debatte vielen Latinos das Gefühl, daß sie sie am liebsten gar nicht im Land hätten. Auch die Medien wie das Time Magazine schürten die Ängste der WASP (White Anglo-Saxon Protestants)-Bevölkerung vor dem „Farbenwechsel“ Amerikas, der apokalyptisch für das Jahr 2056 angekündigt wird.
Weniger rassistisch angelegt, aber ebenso umstritten war die Proposition 227-Kampagne, die im Sommer 1998 mit 61 Prozent – und relativ großer Latino-Beteiligung – angenommen wurde. Ihr Initiator, der Software-Millionär Ron Unz, hatte sich letztlich durchgesetzt gegen die Meinung Bill Clintons, der vier Regierungskandidaten beider großen Parteien und der hispanischen Medien, welche mit einem Etat von 1,5 Millionen US-Dollar doppelt soviel wie Unz für den Stimmenkampf ausgegeben haben.
Mit der Proposition 227 ist der bilinguale Unterricht an den öffentlichen Schulen Kaliforniens abgeschafft. Bis dahin wurden Schüler, die kein oder nur unzureichend Englisch sprechen – zur Zeit ungefähr 1,4 Millionen Kinder –, in bilinguale Klassen gesteckt, in denen sie sowohl in ihrer Muttersprache den normalen Unterrichtsstoff als auch Englisch lernten. Von nun an gehen sie ein Jahr lang in englischsprachige Sonderklassen, nach dem Motto „sink or swim“. Danach sollen sie am regulären Unterricht teilnehmen, ungeachtet fortbestehender Verständnisschwierigkeiten.
Immerhin 37 Prozent der Latinos votierten für diesen Antrag. Hauptgrund für die Zustimmung ist die allgemeine Unzufriedenheit mit dem bestehenden Erziehungssystem. Viele Eltern klagen, daß ihre Kinder nicht schnell genug bzw. unzureichend Englisch lernen würden. Schließlich sollen ihre Kinder es besser haben. Und das Beherrschen der englischen Sprache gilt als wichtigste Vorraussetzung für eine schnelle Assimilierung in die US-amerikanische Gesellschaft und damit für wirtschaftlichen Erfolg. In der Tat hätte das praktizierte System Reformen nötig gehabt. Die Abbruchrate unter Latino-Schülern ist immer noch besonders hoch; einige Schüler bleiben in den bilingualen Klassen „hängen“ und lernen in keiner der beiden Sprachen ausreichend Lesen und Schreiben. Den Befürwortern des bilingualen Unterrichts waren diese Probleme zwar seit langem bekannt; sie fürchteten jedoch, daß das System ganz eingestellt würde, wenn sie diese thematisierten. Überlegungen, mit welchen Methoden Kinder am besten Englisch lernen könnten, gingen im Lärm der Kampagne unter.

Die Gebrüder Bush

In Texas schaute man dieser Entwicklung mit einem weinenden und einem lachenden Auge zu. Immerhin erhoffte man sich, die in Kalifornien nun aufgabelos gewordenen Lehrer an die eigenen Schulen locken zu können. Dort herrscht ein akuter Mangel an geeignetem Lehrpersonal. Nur wenige der angeschriebenen Lehrer sind diesen Werbungen bisher gefolgt; das Land der Rednecks und Klapperschlangen ist wohl für Kalifornier nicht besonders einladend. Der texanische Gouverneur und potentielle Präsidentschaftskandidat George W. Bush kann das gar nicht verstehen. Schließlich hat er einen Latino-freundlicheren Kurs als sein Parteigenosse Wilson eingeschlagen: „Wenn ein bilinguales Programm dazu beiträgt, daß Kinder Englisch lesen und verstehen können, dann sollten wir applaudieren und sagen: Gut gemacht.“ Mit solchen Sätzen kitzelte er den Riesen wach. Am 3. November erzielten er und sein Bruder Jeb in Florida große Erfolge. Seitdem gelten die Söhne des ehemaligen Präsidenten als Modellstrategen für die Rückeroberung des Weißen Hauses. George W. Bush hatte sich durch seinen Widerstand gegen die immigrationsfeindliche Rechtsgebung des von seiner Partei angeführten Kongresses bei den Latinos beliebt gemacht. Im Wahlkampf hatte er diese Zielgruppe mit spanischsprachigen TV-Spots und „amigo“-Floskeln umworben. Jeb Bush hatte diesmal eine spanischsprachige Website eingerichtet, sich unermüdlich an seine Jahre in Venezuela erinnert und auch sonst den Kurs seines Bruders übernommen. Belohnt wurden seine Anstrengungen mit dem Gouverneursstuhl in Florida.

Endspurt auf hispanisch

Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß die Republikaner diese Latino-Politik auf nationaler Ebene aufgreifen werden. Schließlich bilden in den USA immer noch die Gringos die Mehrheit, und mit denen will man es sich auf keinen Fall verscherzen. Also fährt man etwas zweigleisig, im Fall des Falles aber eindeutig auf der rechten Spur. Vordergründig hat die Partei zwar ein Hispanic-“outreach“-Programm geschaffen, um die Beziehungen zu den Latino-Wählern wieder zu verbessern, und ehemals radikale Kongreß-Advokaten der English-Only-Bewegung lassen heute ihre wöchentlichen Berichte ins Spanische übersetzen. Gleichzeitig führen die Republikaner jedoch ihren Feldzug gegen Affirmative-Action-Programme und bilingualen Unterricht fort. Zudem versuchen sie, eine Stichprobenerhebung im nächsten Zensus zu verhindern, welche eine Unterschätzung von Minderheiten vermeiden soll. Sie möchten Latinos und andere Minderheiten als notwendiges Übel kleinhalten. So scheint das Wählerverhalten vorhersehbar zu sein: Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, daß 52 Prozent der Latinos die Demokraten und nur 32 Prozent die Republikaner wählen würden.
Doch die Demokraten sollten sich nicht zu früh freuen. Eine andere Untersuchung warnt, daß Latinos keine enge Parteibindung hätten und daher durch Latino-freundliche (Wahl)Politik noch zu beeinflußen seien. Latinos also als Spielball des politischen Wettkampfs? Die Republikaner wollen Steuererleichterungen, Förderung des Bildungswesen und Verbrechensbekämpfung zu ihren Hauptthemen machen. Die Demokraten konzentrieren sich auf das Bildungs- und Gesundheitswesen, sind ansonsten jedoch vor allem den Republikanern für ihre Fettnäpfchen-Politik dankbar. So prophezeit die Staatssekretärin des Weißen Hauses Maria Echaveste, daß ihre Partei im Jahr 2000 die meisten Latino-Stimmen erhalten wird: „Die Republikaner fahren mit ihrem Anti-Immigranten-, Anti-Hispanic-Kurs fort. Das macht unsere Aufgabe, die Hispanic-Unterstützung zu festigen, wesentlich einfacher.“ Ohne diese Unterstützung, soviel ist heute schon sicher, läuft gar nichts im Jahr 2000.

KASTEN:
Das Zünglein an der Waage

Welches Gewicht die Latino-Stimmen in die politischen Waagschalen werfen können, dämmerte den Demokraten und Republikanern spätestens seit den Viva-Kennedy-Kampagnen 1960. Damals verhalfen die hispanischen Texaner dem Demokratischen Präsidentschaftskandidaten zum Sieg: Während sich die Anglo-Stimmen in Texas auf Nixon und Kennedy aufteilten, stimmten in einigen Wahlbezirken alle Tejanos für Kennedy. Doch obwohl es in den folgenden Jahren erste Ämter für Latinos zu besetzen gab, blieb das ungute Gefühl, daß beide großen Parteien zwar immer mehr bereit waren, hispanische Kandidaten zu unterstützen, jedoch nur in Bezirken, in denen der Anteil lateinamerikanischer Bevölkerung besonders hoch war und ein Politiker aus diesen Reihen einen sicheren Sieg versprach. Ein größerer Einfluß blieb ihnen verwehrt.
In den stürmischen 60ern entluden sich Wut und Enttäuschung der mexikanisch-amerikanischen Bevölkerung schließlich im Chicano Movement. Gemeinsam mit anderen Minderheiten und der Friedensbewegung kämpfte man für ein besseres Amerika. Doch schon Mitte der 70er Jahre schlug das politische Klima um: Der Vietnamkrieg war vorbei, die Protestler durch staatliche Zugeständnisse besänftigt. Militante Gruppen brachen zusammen – ihre Anführer saßen häufig im Knast –, aus Aktivisten wurden Politiker. Man strebte nach Integration in das politische System, nicht nach dessen Veränderung. Forderungen nach Reformen wichen einer anpassungsorientierten Wahlurnenpolitik.
Doch die Hürden, die den Einzug von Latinos in die politische Arena erschweren, sind seitdem kaum niedriger geworden: Viele potentielle Kandidaten scheitern schon an den Wahlkampfkosten. Zudem sind die Wahlkreise oft ungünstig aufgeteilt, so daß Latinos ihre Politiker nicht gemeinsam unterstützen können. Die größten Hindernisse liegen jedoch innerhalb der Gemeinschaft: Das Wir-Gefühl der 60er ist der Einzelkämpfermentalität der „Viva-Yo-Generation“ gewichen. Politiker reiben sich in internen Zwistigkeiten auf. Zudem dienen sie häufig als „Schrankenwächter des Status Quo“. Oben angekommen, vergißt manch einer, wer ihn dort hingewählt hat. Wenn er gewählt wird. Denn das Gefühl, sowieso nichts bewirken zu können, hält viele von den Urnen fern. Mitarbeiter von Wähler-Registierungs-Projekten gehen deshalb in die Latino-Gemeinden, motivieren und begleiten potentielle Wähler zur Registrierung und achten darauf, daß die Stimmzettel auch zum entscheidenen Zeitpunkt abgegeben werden. Heute gehen tausende Latinos ins Rennen für Ämter auf allen politischen Ebenen. Und mit diesen Erfolgen wächst auch das Vertrauen der Bevölkerung in ihre politische Stärke. „Con voto latino el pueblo jamás será vencido.“

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