Mexiko | Nummer 529/530 - Juli/August 2018 | Wahlen

DER VERSPRECHER

Der designierte Präsident Mexikos López Obrador verkündet eine geordnete Transformation

Nie hat ein Präsident Mexikos mehr Stimmen erhalten. Auch die Wahlbeteiligung ist für mexikanische Verhältnisse hoch. Mehr als 56 Millionen Menschen (63 Prozent) gaben ihre Stimme ab und mehr als die Hälfte von diesen (53 Prozent) haben Andrés Manuel López Obrador einen historischen Wahlsieg beschert. Neben der Zustimmung für ihn sind dies deutliche Zeichen für die inzwischen breite Ablehnung der Politik der etablierten Parteien.

Von Robert Swoboda

„Die Hoffnung Mexikos“, so lautete Obradors wichtigster Wahlspruch, der auf allen möglichen Werbeträgern zu lesen war. Als selbsternannter Retter in der Not vereint er viele Hoffnungen. Für José, einen Polizisten in Mérida, bedeutet er die Wende für die schlechte Sicherheitslage und Bildung, das Ende von Korruption sowie die Erhöhung der Einkommen. Doch einigen Menschen ist die Hoffnung bereits abhanden gekommen, angesichts der Armut von fast der Hälfte der Bevölkerung, 132 Morden an Politiker*innen im Vorfeld der Wahlen, der offensichtlichen Misswirtschaft und einem wieder erwarteten Wahlbetrug.

Der wegen seiner Initialen oft AMLO genannte linke Politiker strebte bereits zum dritten Mal das höchste Amt seines Landes an. 2006 unterlag er nur sehr knapp gegen Felipe Calderón durch einen mutmaßlichen Wahlbetrug, gegen den Präsidenten, der den verheerenden „Krieg gegen die Drogen“ begann, der bis heute mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete und 35.000 Menschen verschwinden ließ. 2012 verlor AMLO gegen den äußerst neoliberalen aktuellen Präsidenten Peña Nieto von der Partei der institutionellen Revolution (PRI) mit knapp sieben Prozent Unterschied. Seine Beharrlichkeit und die Enttäuschungen der vergangenen 12 Jahre haben ihm nun die Präsidentschaft gebracht und aus seiner vor vier Jahren gegründeten Partei Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena) eine ernstzunehmende Alternative zu den Altparteien gemacht. Deren Koalition „Gemeinsam schreiben wir Geschichte“ mit der Arbeiterpartei PT und der konservativen PES hat zudem eine komfortable Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses. Im Senat wird die Parteienkoalition 68 von 128 Sitzen für die nächsten sechs Jahre innehaben, im Abgeordnetenhaus 307 Sitze von 500 für die nächsten drei Jahre. Wie das Wahlinstitut mitteilte, werden außerdem zu Beginn der Legislaturperiode am 1. September zum ersten Mal mehr Frauen als Männer im Kongress vertreten sein.

Die anderen Präsidentschaftskandidaten schnitten ebenfalls nahe an ihren Umfragewerten vor der Wahl ab. Der konservative Ricardo Anaya von der Koalition zwischen PAN, PRD und Movimiento Ciudadano erhielt 22 Prozent, der neoliberale José Antonio Meade erhielt in der Koalition von PRI, PVEM und Nueva Alianza 16 Prozent, und der Parteiunabhängige Kandidat Calderon nur ein halbes Prozent der Stimmen. Der Wahlausgang bedeutet damit zudem den Beginn einer neuen Rollenverteilung im politischen System. Nachdem die Partei der institutionellen Revolution (PRI) 71 Jahre an der Macht war, übernahm die zweitgrößte Partei der Nationalen Aktion (PAN) von 2000 bis 2012 das Präsidentenamt. Nun gibt es mit Morena eine weitere mehrheitsfähige Partei, die es in der Hand hat, die politischen wie sozialen Verhältnisse zu verändern.

AMLO spricht von einer geordneten Transformation der mexikanischen Republik und beschreibt eine Demokratisierung des Landes, bei der die ärmere und die indigene Bevölkerung besondere Berücksichtigung finden würden. Im Programm wird eine „nación pluricultural“, einer plurikulturellen Nation versprochen.

Auch ein anderes Wirtschaftsmodell steht zur Debatte. Wie AMLO den Freihandelsvertrag mit Kanada und den USA, NAFTA, neu verhandeln will, ist noch ungewiss. Feststeht aber, dass er den mexikanischen Binnenmarkt stärken will. Dazu gehört eine eventuelle Subventionierung der Landwirtschaft, um mit den Produkten der USA konkurrieren zu können – die, ebenfalls subventioniert, oftmals billiger sind als lokal hergestellte Lebensmittel. Auch, was Energie angeht, soll Mexiko unabhängiger werden. Geplant sind eigene Erdölraffinerien, um nicht von teuren Importen abhängig zu sein und die Ölpreise selbst regulieren zu können. Im Programm von Morena ist auch die Rede vom Ende der Privatisierung der ehemals staatseigenen Ölfirma Pemex die Rede. Befürworter*innen sehen darin die Möglichkeit einer Befreiung von kolonialen Abhängigkeiten und Strukturen. Kleine und mittelgroße Unternehmen sollen leichteren Zugang zu Finanzierung bekommen, um den Binnenmarkt anzukurbeln, während große Firmen höhere Steuern zahlen sollen. Medikamente und Nahrungsmittel sollen außerdem von der Mehrwertsteuer befreit werden. Ob diese Wahlversprechen auch wirklich umgesetzt werden, wird sich zeigen. Von links wiederum wird kritisiert, dass AMLOs Wirtschaftsprogramm keine strukturelle Wende für den Neoliberalismus bedeutet.

Tatsächlich äußerten sich auch große Unternehmensverbände wie Bimbo und Salinas, staatliche Wirtschaftskammern und andere Verbände positiv über den Wahlsieg AMLOs. Sie hoffen auf die Einhaltung der Versprechen des designierten Präsidenten zur Investition in die Infrastruktur Mexikos.

Für die Neuverhandlung von NAFTA dürfte es außerdem schwierig werden. In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die das neoliberale Projekt juristisch absichern. Obrador wiederholte am Abend seiner Wahl die Ankündigung, Verträge zur staatlichen Auftragsvergabe auf Anomalien, soll heißen auf Korruption, zu überprüfen. Betreffen wird das unter anderem den Bau des neuen internationalen Flughafens von Mexiko-Stadt und die Konzessionen für die Ausbeutung der Erdölfelder.

In der Wahlnacht löste sich die Anspannung auf dem großen Platz in Mexiko-Stadt. „Ja, es war möglich“ und „Es ist eine Ehre für Obrador zu sein“, ruft ihm die Menge entgegen. AMLO macht in dieser Nacht weitreichende Versprechungen. Ab dem Tag der Amtsübernahme am 1. Dezember würden die Pensionen für alte Menschen verdoppelt, eine universelle Rente für Arme und Behinderte würde eingeführt und junge Menschen bekämen das Recht auf ein Studium und auf einen Arbeitsplatz. Auch symbolisch versucht sich Obrador von der politischen Elite zu distanzieren und teilte wiederholt mit, er werde das Präsidentenflugzeug nicht für Auslandsreisen benutzen, sondern wie bisher mit Charterflügen reisen.

Tatsächlich bieten sowohl die Mehrheit im Kongress als auch die Ergebnisse der Gouverneurswahlen die Möglichkeit einer Neuausrichtung mexikanischer Politik. In Mexiko-Stadt gewann Claudia Sheinbaum von Morena die Wahl und wird neue Regierungschefin, zudem gibt es in vier Bundesstaaten (Chiapas, Morelos, Tabasco und Veracruz) Gouverneure der Koalition „Gemeinsam schreiben wir Geschichte“, die auch den regionalen Einfluss von Morena stärken werden. Allein in Guanajuato und Puebla gewannen Kandidaten der PAN, die PRI konnte nicht einen Gouverneur stellen. In Jalisco gewann der Kandidat für die Partei Bürgerbewegung (Movimiento Ciudadano), welche mit der PRD und PAN koaliert.

Im Vorfeld der umfangreichen Wahlen, die nicht nur den Präsidenten, den Kongress und Gouverneure in neun Bundesstaaten ermittelten, sondern auch tausende weitere Ämter auf regionaler Ebene vergeben, war AMLOs Vorsprung in Umfragen bereits sehr deutlich. Doch die Umfragen waren mit ebenso deutlichen Zweifeln verbunden, denn an einen entsprechenden Wahlausgang glauben konnten viele Mexikaner*innen wie auch internationale Beobachter*innen noch nicht. Zu deutlich waren die Erinnerungen an vergangene Wahldesaster und allseits bekannt die Fähigkeiten der etablierten Parteien wie PRI und PAN, sich die Macht zu sichern. Vereint standen sie gegen Obrador und malten in den Medien Zukunftsbilder in den Farben Venezuelas und Kubas, um der Bevölkerung Angst vor einem bevorstehenden wirtschaftlichen Einbruch sozialistischer Prägung zu machen. Auch westliche Medien griffen das Bild des neuen Chávez auf. Entsprechend nervös reagierten einige auf die Frage nach dem, was auf einen Wahlbetrug folgen könnte. So manche*r hielt eine nationale Bewegung für ebenso denkbar wie die darauf folgende Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, denn die ist seit 1968 und der blutigen Niederschlagung der Studierendenproteste eine wiederkehrende Erfahrung.

Auch lief vieles andere in der Vorbereitung ähnlich wie in vergangenen Wahlperioden. Denn Wahlen bieten für Wähler*innen zwei Möglichkeiten, die in der Zeit danach rar werden können, nämlich Geld und Arbeit. Für eine entsprechende Stimmabgabe an der Wahlurne werden bis zu 500 Pesos (etwa 25 Dollar) bezahlt. Manchmal dient auch die Aussicht auf einen ruhigen Posten im Falle des Sieges der unterstützten Partei als Bezahlung. Sogar die Teilnahme an Demonstrationen für Parteien wird mit ein- oder zweihundert Pesos (5 oder 10 Dollar) pro Person vergütet, wie ein Taxifahrer berichtet, während die Menge in den Farben der PRI in der kleinen Stadt Ticul im Bundesstaat Yucatán vorbeizieht. Derartiger Wahlbetrug und bezahlte Unterstützung einer Partei gehören zum politischen Alltag und dienen den Politiker*innen als probates Mittel zur Steigerung der eigenen Popularität. Wie zum Beweis geht im selben Moment der zur Demonstration gehörende Bürgermeisterkandidat des Ortes, ein Mittvierziger in weißem Hemd und steifem Lächeln, unvermutet und mit ausgestreckter Hand auf den offensichtlich einzigen Ausländer am Rand der Veranstaltung zu, nur um sich aus Prestigegründen irgendwie mit ihm ablichten zu lassen.

Arbeit ist bei Wahlen der andere wichtige Aspekt. Für Unterstützungsnetzwerke werden Angestellte gebraucht, die in den kleineren Städten und Gemeinden an die Türen klopfen, um zu erfahren, ob den Anwohner*innen bereits von einer anderen Partei etwas angeboten wurde, bevor sie Eintritt erhalten. Auch für die Auftragslage kleiner und mittelständischer Unternehmen sind Wahlen hilfreich und Selbstständige in entsprechenden Branchen haben für ein paar Monate ein geregeltes Einkommen. Es werden moderne Wahl-Pop-Songs komponiert, Wahlplakate gedruckt, Werbespots gedreht und viele Fotos für Online-Kampagnen gemacht. Ein sehr professioneller Wahlkampf, für den viel Geld ausgegeben wird und der selbst vor Werbung auf Booten auf dem Meer nicht halt macht. Dieser Wahlkampf war der teuerste in der Geschichte Mexikos mit fast 2,2 Milliarden Pesos, die vom Wahlinstitut INE an Parteien und selbstständige Kandidatinnen (ungefähr 1,2 Milliarden Dollar) ausgezahlt wurden.

Die Onlinezeitung Sin Embargo schreibt ein paar Tage vor der Wahl, dass Wahlbetrug im großen Stil heute quasi nicht mehr möglich wäre. Der Autor argumentiert, dass bis in die 1980er Jahre die Parteien ihre Techniken für den Wahlbetrug derart verfeinert hätten, dass ihnen Journalist*innen schon anschauliche Namen gaben. Beispielsweise stand die „Verrückte Maus“ für eine plötzliche Verlegung des Wahllokals bei einer vermuteten mehrheitlichen Stimmabgabe für die gegnerische Partei, die „Schwangeren Urnen“ waren schon vor der Wahl voll und das „Karussell“ beschrieb Wähler*innen, die ihre Stimme in mehreren Wahllokalen abgaben. Doch seit 1988 gebe es Reformen, so das Argument, die derartige Betrügereien verhindern würden. Die oben beschriebenen Stimmenkäufe und Wahlbeeinflussungen werden nicht geleugnet, aber deren Effizienz im Vergleich angezweifelt.

Morena schien zumindest vor den Wahlen einen Unterschied zu machen. Beispielsweise waren während der dritten Fernsehdebatte der Präsidentschaftskandidaten in Mérida Anhänger*innen der in Umfragen führenden Partei nur vereinzelt und mit teilweise selbst gebastelten Schildern vor dem Austragungsort zu sehen. Im Kontrast dazu haben Unterstützer*innen des parteilosen und aussichtslosen Präsidnentschaftskandidaten Calderon, alias „Bronco“, mit vielen Fahnen, Plakaten und eigener Samba-Gruppe ein kleines Spektakel veranstaltet. Selbst ein paar Indigene wurden hingefahren, um den Schein breiter Unterstützung zu wahren. „Wir stehen es durch“, lautet sinngemäß deren kurzer Kommentar zur Teilnahme an dem Theater.

Obrador, selbst einmal PRI-Politiker gewesen, konnte sich und seine Partei Morena erfolgreich als Alternative vorstellen. Doch auch Morena ist nicht frei von Kritik, wird in linken Kreisen kritisiert und ist vor internen Konflikten nicht gefeit. Es gibt Berichte, wonach Posten in der Partei an ehemalige Politiker*innen aus den etablierten Parteien vergeben wurden, anstelle treue Parteigänger*innen zu bevorzugen. Zudem beruht die Wahl AMLOs durch gut 30 Millionen Mexikaner*innen nicht nur auf Zustimmung, sondern ebenso auf Wut und Enttäuschung über die ausufernde Gewalt, Korruption, weit verbreitete Armut und soziale Ungleichheit.

Bei dem Treffen zwischen dem gewählten und dem aktuellen Präsidenten Peña Nieto zwei Tage nach der Wahl stellte sich letzterer hinter AMLOs Vorhaben einer geordneten Transformation und versprach, ihn dabei zu unterstützen. Ein Team Obradors wird an den Vorbereitungen für den Wirtschaftsplan für 2019 teilnehmen.

AMLO wird nun zeigen müssen, was er unter der versprochenen Transformation praktisch versteht. Es steht ihm und seiner Partei neben der Exekutive auch die Legislative im Kongress zur Verfügung. Zweifel sind angebracht, ob neben Sozialprogrammen auch tiefgreifende Veränderungen zu erwarten sind. Victor, Kampagnen-Fotograf einer eben gewählten Senatorin für Morena, meint pragmatisch: „Auf jeden Fall werden es spannende sechs Jahre“.

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