Deutsches Exil in Lateinamerika
Kulturtelle und politische Aktivitäten nach der Flucht
Lateinamerika stand bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Deutschland an führender Stelle. Etwa 20 Prozent aller EmigrantInnen fanden dort zumindest für eine gewisse Zeit Zuflucht vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Für viele war Lateinamerika anfangs jedoch nur ein Exil zweiter Wahl, was sich deutlich an der Chronologie der Emigration in die mittel- und südamerikanischen Staaten zeigt. In den Jahren 1933-1937 sind wohl höchstens ein Viertel aller Lateinamerika-Flüchtlinge aus Deutschland eingewandert. Vor al-lem die auch früher als Einwanderungsländer bevorzugten Staaten des “Südgürtels”, also Argentinien, Chile, Uruguay und das südliche Brasilien, waren bis etwa 1937 eine Art Geheimtip für EmigrantInnen, während in die übrigen Länder nur vereinzelte Personenkreise sickerten. Auch die meisten in diesem Zeitraum von einigen Staaten unternommenen Aktionen zur Aufnahme von EmigrantInnengruppen betrafen in der Regel nur kleine Zahlen, die nur in Einzelfällen die 100 überschritten, – so die Ansiedlung saarländischer EmigrantInnen in Paraguay.
Die Erklärung für dieses Phänomen liegt darin, daß Lateinamerika kaum im Motivationsspektrum von Hitler-Flüchtlingen angesiedelt werden konnte. Wer nach dem erhofften Sturz der NS-Herrschaft nach Deutschland zurückkehren wollte, blieb nach Möglichkeit in einem Nachbarland, jedenfalls in Europa. Wer als Jude Deutschland den Rücken kehrte und endgültig mit der angestammten Heimat brach, bemühte sich um die Ausreise nach Palästina. Auch Emigrationsbewegungen in die USA oder UdSSR waren in jener Zeit spärlich. Wer vor 1939 nach Lateinamerika emigrierte, war trotz des politischen Hintergrundes seiner Motive meistens auch eine Art Auswanderer, der sich in der Ferne eine von Bedrohungen und Repressalien freie Existenz aufbauen wollte. Die bevorzugte Wahl der typischen Einwanderungsländer des Südgürtels bestätigt diese Beobachtung.
Mit der weiteren Expansion des Dritten Reiches im Jahre 1938 und mit Restriktionen der europäischen Asylländer, welche die Flüchtlingsströme nicht mehr aufnehmen konnten oder wollten, begann die Massenemigration in überseeische Länder, vorzugsweise nach Lateinamerika. Sie hielt mit kriegsbedingten Unterbrechungen bis etwa 1942 an. Da die meisten lateinamerikanischen Staaten daraufhin die Einwanderung bremsten und zeitweilig die Grenzen völlig sperrten oder nur unter besonderen Bedingungen öffneten, richtete sich der Flüchtlingsstrom auch in “weniger attraktive” Länder. Wer unter größter Gefahr sein Leben retten wollte, ging auch nach Honduras oder Bolivien, obwohl er eigentlich nach Palästina oder Nordamerika emigrieren wollte. Manche Länder nahmen den Charakter von Wartesälen an, in denen Flüchtlinge bis zu ihrer möglichen Weiterreise vorübergehend Zuflucht nahmen. Wer in Kuba oder in der Dominikanischen Republik Asyl gefunden hatte, wartete meist auf die Weiterreise in die USA, wer nach Paraguay oder Bolivien verschlagen worden war, zog oft nach Argentinien, Chile oder Uruguay.
Fluchtwege und Fluchthelfer
Die Wege, auf denen deutsche Flüchtlinge nach Lateinamerika gelangten, wurden im wesentlichen vom Zeitpunkt der Emigration und von den Emigrationsmotiven bestimmt. Es gab vom Februar 1933 bis zum Oktober 1941 eine vom NS-Regime geduldete legale Auswanderung aus Deutschland. Ihr Zahlenverhältnis zur fluchtartigen Emigration schwankte erheblich und stand 1939 zu dieser im Verhältnis von 7:1. Von den rund 78.000 jüdischen EmigrantInnen dieses Jahres gingen etwa 13.000 nach Lateinamerika, in der Regel von Hamburg aus. EmigrantInnen, die von einem europäischen Exil-Land aus weiterfuhren, schifften sich gewöhnlich in den Niederlanden, in den französischen Atlantik-Häfen und in Marseille oder aber in Genua ein. Nach Ausbruch des Krieges änderten sich die Routen, zumal Belgien, die Niederlande und die französische Atlantik-Küste besetzt wurden. Marseille wurde zeitweilig der wichtigste Ausreisehafen, gefolgt von Lissabon, das aber nur über Spanien erreicht werden konnte. 1940-42 waren Spanien und Portugal wichtige Transitländer. In der Zeit vom Herbst 1939 bis Juni 1941 emigrierten zahlreiche Flüchtlinge über Sibirien nach Wladiwostok und von dort weiter nach Shanghai in die USA und nach Lateinamerika. Ab November 1941 durften Juden aus dem deutschen Machtbereich nicht mehr ausreisen – die Entscheidung über die sogenannte “Endlösung” war gefallen. Mit der Besetzung Südfrankreichs durch deutsche Truppen im November 1942 wurden die letzten Ausreisemöglichkeiten blockiert. Die Emigrationsbewegung kam fast vollständig zum Stillstand.
Besonderes Interesse verdienen in diesem Zusammenhang die Organisationen, durch deren Aktivitäten die in der Regel mittellosen Flüchtlinge überhaupt nach Lateinamerika gelangen konnten. Der Erwerb von Visa und anderen Dokumenten, die Bezahlung der Schiffspassagen und sonstigen Reisekosten, Quartiere und Kleidung, Kurse zur beruflichen Umschulung sowie die Ausrüstung mit Werkzeug – alles dies waren Probleme, die die EmigrantInnen gewöhnlich aus eigener Kraft nicht bewältigen konnten. Eine Reihe von Vereinigungen hat hier beträchtliche Summen aufgebracht, die selbst wiederum größtenteils aus Spenden stammten. Zu nennen sind vor allem die jüdische Hilfsorganisation HICEM, die selbst wiederum ein Dachverband anderer Verbände war, und das “American Jewish Joint Distribution Committee”. Diese beiden Organisationen hatten für die Fluchthilfe und für die Starthilfe in den Exilländern eine große Bedeutung. Dagegen richteten sich die Unterstützungen anderer Hilfsorganisationen nur auf einen kleinen und speziellen Teil der Emigration. Andere wichtige Vereinigungen waren die sozialdemokratische Flüchtlingshilfe, sowie die von der Liga für Menschenrechte getragene Demokratische Flüchtlingsfürsorge (beide waren bis 1938 in Prag, danach in London).
Unter den Umständen der NS-Diktatur nahmen gelegentlich auch solche Organisationen den Charakter von Fluchthelfern an, deren eigentliche Zielsetzung nichts oder wenig mit Emigration zu tun gehabt hatte. Die JCA (Jewish Colonisation Association) verfolgte ursprünglich den Gedanken jüdischer landwirtschaftlicher Siedlungen in Argentinien und Brasilien, vermittelte aber – teilweise im Rahmen der HICEM – zahlreichen bedrohten Juden eine Zuflucht in Lateinamerika. Der St. Raphaelsverein unterstützte seit den 1890er Jahren katholische AuswanderInnen durch soziale und seelsorgerische Betreuung, konzentrierte sich aber in den 1930er Jahren immer mehr auf bedrohte Personen aus Deutschland, insbesondere auf die sogenannten “getauften Nicht-Arier”. Auch die ihm nahestehende “Gesellschaft für Siedlung im Ausland” ermöglichte vielen katholischen Hitler-GegnernInnen eine Auswanderung und Ansiedlung in Brasilien, wobei hier die Grenzen zwischen Emigration und Auswanderung verschwimmen. Die Zahl der genannten Organisationen muß noch ergänzt werden um weitere jüdische, christliche, politische und humanitäre Vereinigungen, die innerhalb und außerhalb Deutschlands Fluchthilfe leisteten; der Hilfsverein der Juden in Deutschland, die Quäker und andere. Dagegen war die Hilfstätigkeit einzelner Staaten, zwischenstaatlichen und internationalen Einrichtungen wie dem Völkerbund erbärmlich gering. EmigrantInnen, die sich nach Übersee retten konnten, verdankten dies fast ausschließlich privater Initiative.
Die Anzahl der deutschen beziehungsweise deutschsprachige EmigrantInnen in Lateinamerika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grobschätzung von rund 100.000 ausgehen. Es besteht allenfalls weitgehend Klarheit in der quantitativen Reihenfolge der Aufnahmeländer:
Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dom. Rep. 2.000
Mexiko 1.200
Die übrigen Länder, angeführt von Paraguay nahmen EmigrantInnen nur in dreistelliger, einige karibische und mittelamerikanische Staaten nur in zweistelliger Höhe auf. Über 90 Prozent aller Flüchtlinge fanden Zuflucht in jenem Südgürtel, der sich von Rio de Janeiro über Montevideo und Buenos Aires bis nach Santiago de Chile erstreckt. Dort lagen daher auch die wichtigen EmigrantInnenzentren. Einen Sonderfall bildete Mexiko, das zwar hinsichtlich der Aufnahmezahl eines der Schlußlichter bildete, aber wegen der hochkarätigen politischen und literarischen EmigrantInnen sowie wegen der von ihnen getragenen Verlage, Zeitschriften und Vereinigungen ein Exilzentrum von besonderer Bedeutung war.
Soziale und kulturelle Integration
Die berufliche Qualifikation der EmigrantInnen in Lateinamerika war nicht auf die Gesellschaften der Asylländer zugeschnitten, so daß die berufliche Eingliederung meistens große Probleme verursachte. Exakte Zahlen liegen nur für einzelne Länder und Städte vor, aber sämtliche Indizien verweisen darauf, daß kaufmännische und andere mittelständische Berufe, Selbständige und Angestellte, sehr stark vertreten, HandwerkerInnen, ArbeiterInnen und Landwirte unterrepräsentiert waren. Aber gerade sie, insbesondere die Landwirte, waren besonders gefragt. Viele Exilländer hatten die Einreiseerlaubnis nur mit der Verpflichtung zu landwirtschaftlicher Siedlung erteilt, worauf aber die wenigsten vorbereitet waren. Von den etwa 1.000 Emigranten, die in Argentinien, Brasilien, Paraguay, Bolivien, Ecuador und Santo Domingo kleine Bauernhöfe gründeten, sind die meisten gescheitert.
Die mittelständischen Berufe stießen deswegen auf besondere Schwierigkeiten, weil für sie zunächst kein Bedarf bestand. Wegen der für lateinamerikanische Gesellschaften seit langem notorischen Unterbeschäftigung in Handel und Dienstleistung bildeten die EmigrantInnen eher einen Störfaktor und stießen oft auf Konkurrenzneid und Fremdenfeindlichkeit, nicht selten mit antisemitischem Akzent. Einige Länder verboten oder behinderten die Ausübung bestimmter Berufe. Leichter hatten es FacharbeiterInnen und HandwerkerInnen, die wegen ihrer im allgemeinen beträchtlichen Überlegenheit an Berufs- und Allgemeinbildung gefragt waren. Dagegen standen VertreterInnen künstlerischer und geisteswissenschaftlicher Berufe vor besonderen Schwierigkeiten, weil ihre Tätigkeiten nicht gefragt und teilweise engstens auf die deutsche Sprache fixiert waren.
Die soziale Integration aus einem Abstand von 50 Jahren betrachtet zeigt, daß nach einer mehrjährigen Durststrecke die meisten EmigrantInnen und ihre Nachfahren wirtschaftlich heute nicht schlecht gestellt und in der Regel in relativ wohlhabende Mittel- und Oberschichten aufgerückt sind.
Die Gründe für diese überwiegend gelungene soziale Integration liegen in dem beruflichen und allgemeinen Bildungsvorsprung der meisten EmigrantInnen vor einheimischen Arbeitskräften. Aber wesentlich war wohl der Zusammenhalt der EmigrantInnen über gemeinsame Zeitschriften, Clubs, Vereinigungen und Einrichtungen, der trotz ideologischer, politischer und anderer Differenzen zumindest in den Zentren des Exils eine wechselseitige Kommunikation ermöglichte. Vor allem müssen hier die deutsch-jüdischen Gemeinden, Verbände und Institutionen erwähnt werden, die – soweit Informationen vorliegen – oft einen hohen Organisationsgrad hatten. Ihre Arbeit dürfte in hohem Maße soziale Notfälle aufgefangen und eine Marginalisierung und Verelendung von EmigrantInnen verhindert haben.
Politische Organisationen im Exil
Die politischen Organisationen deutscher EmigrantInnen waren, gemessen an der Zahl ihrer aktiven Mitglieder, recht klein. Aber sie standen stärker im öffentlichen Rampenlicht und beanspruchten einen höheren Repräsentationsgrad als etwa deutsch-jüdische Sportvereine. Aus der Perspektive der deutschen Geschichte sind sie freilich interessanter, weil sie gewissermaßen “mit dem Blick nach Deutschland” arbeiteten, während ein großer Teil der jüdischen EmigrantInnen mit ihrer alten Heimat innerlich gebrochen hatte und vielfach kein Interesse mehr an Deutschland zeigte. Andererseits wurden rund 50 von den Organisationen herausgegebenen Blätter und Zeitschriften, von denen allerdings einige nur einmal oder nur sehr selten erschienen oder aber über das Format hektographierter Rundbriefe nie hinausgelangten, doch auch von einem breiteren Spektrum innerhalb der Emigration gelesen; sie bezogen somit auch politisch weniger engagierte Personen in die Diskussionen und Kontroversen ein. Wie in der gesamten Exilszenerie waren die EmigrantInnen in Lateinamerika untereinander heillos zerstritten und befehdeten sich aufs heftigste. Die Bedingungen für politische Aktivitäten variierten von Land zu Land und waren stark von den inneren Verhältnissen abhängig. So waren irgendwelche Aktivitäten unter der blutrünstigen Herrschaft des dominikanischen Diktators Rafael Trujillo überhaupt nicht und in dem von Getulio Vargas autoritär regierten Brasilien nur eingeschränkt möglich. Dagegen boten demokratische Länder wie Chile und Uruguay, das gemäßigt autoritäre Argentinien sowie das nachrevolutionäre Mexiko günstige Voraussetzungen. Während aber in Chile auf amtlichen Druck die politischen EmigrantInnenvereinigungen fusionieren mußten, blühte in Bolivien ein Chaos der Verbände, Clubs und Organisationen.
Das politische Spektrum der EmigrantInnenorganisationen läßt sich grob in drei Richtungen einteilen. Die älteste von ihnen war auch zugleich die kleinste, die aber zeitweilig lautstark auftrat: die Strasser-Bewegung. Bereits 1934 war ein Netz von Organisationen in fast allen lateinamerikanischen Staaten nachweisbar, geführt von einem “Kampfleiter” mit Sitz in Paraguay. In Buenos Aires erschien ab 1935 das Zentralorgan der Bewegung “Die Schwarze Front”. Leser des Blattes und Mitglieder der gleichnamigen Organisation waren größtenteils dissidente Nazis sowie antinazistische, aber gleichwohl rechtsextreme Kreise – Auslandsdeutsche wie auch EmigrantInnen.
Zu den bedeutenden politischen Stimmen des deutschen Exils in Lateinamerika gehörten Zeitschrift und Bewegung “Das Andere Deutschland”. 1938 aus einem gleichnamigen Hilfskomitee in Buenos Aires hervorgegangen, wurde die Zeitung bald das führende Organ einer zunächst breiten linken und demokratischen Leserschaft. Erst infolge der Kontroversen um den Hitler-Stalin-Pakt schieden die KPD-Anhänger aus und gründeten ihre eigene Zeitschrift “Das Volksblatt”. Unter der Schriftleitung des Gründers und Herausgebers August Siemsen vereinigten sich im “Anderen Deutschland” in immer stärkerem Maße SozialdemokratInnen und VertreterInnen anderer nicht-kommunistischer linker Gruppen. Aus Lesezirkeln entstanden in mehreren Ländern Lateinamerikas kleinere Gruppierungen und Vereinigungen, die in loser organisatorischer Verbindung zur Zentrale in Buenos Aires standen und im wesentlichen nur durch die Zeitschrift zusammengehalten wurden. Diese lockere Organisationsform hatte den Nachteil, daß die Bewegung “Das Andere Deutschland” in nur eingeschränktem Maße eine regelmäßige Verbandsarbeit leisten konnte; sie hatte den Vorteil, daß sie nicht von politisch dissidenten EmigrantInnengruppen unterwandert und umfunktioniert werden konnte. Ihre Schwerpunkte hatte die Bewegung im südlichen Lateinamerika, also in Argentinien, Uruguay, Chile, Brasilien, Paraguay und Bolivien. Doch gelang dem “Anderen Deutschland” nicht, über einen längeren Zeitraum eine Mehrheit der politisch denkenden deutschen EmigrantInnen zu vereinen.
Der große Konkurrent der Bewegung “Das Andere Deutschland” war die Bewegung “Freies Deutschland”, die mit Blick auf die Namensähnlichkeit nicht mit Strassers “Frei-Deutschland-Bewegung” verwechselt werden darf. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt hatten sich in mehreren lateinamerikanischen Staaten die politischen EmigrantInnengruppen gespalten, wobei die der KPD angehörenden oder nahestehenden Mitglieder in der Regel eigene Gruppierungen bildeten. Diese Spaltungen blieben, auch als mit dem Überfall auf die Sowjetunion ihr äußerer Grund entfallen war. Die Gruppierungen waren auf die Sammlung eines möglichst breiten politischen Spektrums angelegt und vereinigten in sich auch bürgerliche, christliche, konservative, ja sogar monarchistische EmigrantInnen. Ihre Programmatik und Phraseologie war verschwommen antifaschistisch und ließ zahllose Interpretationen zu, jedoch blieben die Schlüsselpositionen fest in den Händen von KPD-FunktionärInnen. In Mexiko, wo sich 1941/42 eine meist aus dem besetzten Frankreich geflüchtete relativ starke Gruppe kommunistischer SchriftstellerInnen und FunktionärInnen niedergelassen hatte und wo sich mit einer kleinen Ausnahme keine anderen deutschen Exil-Organisationen bildeten, wurde im November 1941 die Zeitschrift “Freies Deutschland” gegründet. Um dieses politisch-literarische Blatt scharte sich bald eine gleichnamige Vereinigung mit Ablegern in anderen Ländern. Im Mai 1943, vier Monate nach dem Kongreß des “Anderen Deutschland” in Montevideo, wurde unter Führung der mexikanischen EmigrantInnenorganisation das KPD-gelenkte “Lateinamerikanische Komitee Freies Deutschland” gegründet, dem in der Folgezeit kleinere Organisationen beitraten. Man hatte Heinrich Mann für das Amt des Ehrenpräsidenten und für den Vorstand Hubertus Prinzen zu Löwenstein und den konservativen böhmisch-österreichischen Schriftsteller Karl v. Lustig-Prean gewonnen, aber die tatsächliche Leitung hatte Ludwig Renn als amtierender Präsident, Anna Seghers sowie der KPD-Funktionär Paul Merker als Generalsekretär. Der Name des Komitees und andere Indizien verweisen auf die Bewegung “Freies Deutschland” in europäischen Exilländern sowie auf das gleichnamige Nationalkomitee in Moskau und lassen es als Instrument der damaligen sowjetischen Deutschland-Politik erscheinen.
In Kuba, Ecuador und den kleineren mittelamerikanischen und karibischen Republiken nahm die Bewegung “Freies Deutschland” bald eine dominierende Stellung ein, in Brasilien, Argentinien, Bolivien, Uruguay und Chile machte sie dem “Anderen Deutschland” Konkurrenz. In Uruguay und Chile fusionierten die beiden Bewegungen, in Chile aufgrund staatlichen Drucks, in Uruguay auf freiwilliger Basis. Insgesamt waren die “Freien Deutschen” erfolgreicher in der Ausdehnung ihrer Bewegung, allerdings dürfen Vereinsattrappen und Briefkastenorganisationen vor allem in einigen mittelamerikanischen Staaten nicht über ihre tatsächliche Stärke hinwegtäuschen. Die Bewegung verlor an Einfluß, als sie gegen Kriegsende kritiklos die sowjetischen Konzeptionen für Nachkriegsdeutschland übernahm und beispielsweise die Abtretung der deutschen Ostgebiete befürwortete, was bei allen anderen EmigrantInnenorganisationen auf heftigsten Widerspruch stieß. 1946 lößte sich das lateinamerikanische Komitee “Freies Deutschland” auf. Neben diesen überregionalen politischen Bewegungen gab es noch Zusammenschlüsse von EmigrantInnen, die sich auf einzelne Länder oder Städte beschränkten und sich auch nicht einer der genannten Organisationen zuordnen ließen.
Politische Aktivitäten im Exil
Neben den Aktivitäten in den politischen Organisationen deutscher EmigrantInnen gab es noch weitere Betätigungsfelder, die sich mit den Vereinigungen nicht völlig deckten und in denen auch nicht organisierte Hitler-GegnerInnen aktiv werden konnten. Dazu gehörte der Kampf gegen die sogenannte Fünfte Kolonne. Das Dritte Reich hatte mit geringem propagandistischem Aufwand einen großen Teil der in Lateinamerika ansässigen Volks- und Auslandsdeutschen gleichgeschaltet. Fast überall gab es NS-Organisationen, die das auslandsdeutsche Vereinsleben sowie Schulen und Presse beherrschten und durch Hetzpropaganda und teilweise auch durch Gewaltakte die EmigrantInnen drangsalierten. Hinzu kam, daß die diplomatischen und konsularischen Missionen die EmigrantInnen observierten und zu diesem Zweck meistens ortskundige auslandsdeutsche Spitzel mobilisierten. In einigen Ländern, so etwa in Argentinien und Bolivien, verfügten sie durch Unterstützung einheimischer Nazi-SympathisantInnen in Polizei, Militär und Wirtschaft über einigen Einfluß. Es lag daher im ureigenen Interesse der EmigrantInnen, sich gegen diese Bedrohung zur Wehr zu setzen und die einheimischen Regierung durch Sprach- und Sachkenntnisse und andere Mittel zu unterstützen. Nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und den meisten lateinamerikanischen Staaten wurden die meisten NS-Organisationen verboten. In einigen Ländern allerdings hatte es nie eine nennenswerte Fünfte Kolonne gegeben.
Ein weiteres Aufgabengebiet, an dem sich auch nichtorganisierte EmigrantInnen beteiligten, waren Nachkriegskonzeptionen für Deutschland. Einige der interessantesten Überlegungen stammen vom früheren liberalen Reichsinnen- und -justizminister Erich Koch-Weser, der im brasilianischen Bundesstaat Paraná sein Asyl gefunden hatte. Die der Bewegung “Freies Deutschland” nahestehenden EmigrantInnen äußerten sich nur sehr allgemein über Verfassungsfragen und wollten neben recht verschwommenen Forderungen nach Ausrottung von Nazismus und Antisemitismus die konkrete Gestaltung Deutschlands den Alliierten überlassen. Verbreitet war eine antikapitalistische Grundstimmung und die Absicht, mit einer weitgehenden Sozialisierung auch die gesellschaftlichen Ursachen antidemokratischer Entwicklung zu beseitigen. Die meisten Konzeptionen hielten am Nationalstaat fest, plädierten aber für eine Aussöhnung der ehemaligen Kriegsgegner und für einen losen Verbund der europäischen Staaten. In den Bereich der politischen Aktivitäten gehören auch größtenteils die kulturellen Leistungen der deutschen EmigrantInnen, da sie auch dort, wo sie inhaltlich nicht unmittelbar politische Fragen ansprachen, indirekt darauf eingingen. Das war deutlich in der Presse und in den von einigen EmigrantInnenorganisationen regelmäßig gestalteten Rundfunksendungen der Fall, vor allem aber in den von Organisationen unabhängigen Zeitschriften und Verlagen. Zu erwähnen ist hier vor allem die in Santiago de Chile herausgegebene, auch in Nordamerika und Europa gelesene Monatsschrift Deutsche Blätter, deren hohes Niveau und solide Aufmachung von allen politischen Richtungen respektiert wurde.
Emigration nach 1945
Mit der Niederlage des Dritten Reiches endeten weder Exil noch Folgeprobleme der Emigration, vielmehr tauchten neue Probleme auf. Die Frage nach der Rückkehr ließ sich von EmigrantInnen in keinem einzigen Falle leicht beantworten. Viele jüdische EmigrantInnen hatten mit Deutschland gebrochen und somit kein Interesse mehr an einer Rückkehr. Sie hatten in Lateinamerika Wurzeln geschlagen oder aber bemühten sich um eine Weiterwanderung nach Palästina/Israel oder in die USA. Die Faustregel, derzufolge politische EmigrantInnen im allgemeinen zurückkehren wollten, die jüdischen EmigrantInnen aber nicht, gilt tendenziell auch für Lateinamerika, wenngleich hier stark differenziert werden muß. Aus den Jahren 1945-1949 sind etliche Anfragen an den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher erhalten, ob man als Jude inzwischen wieder nach Deutschland zurückkehren dürfe. Und umgekehrt entschlossen sich manche der politischen EmigrantInnen, dort wo ihre Kinder und teilweise auch sie selbst heimisch geworden waren, zu bleiben. Hinzu kamen objektive Schwierigkeiten, zu denen einmal die Reisekosten und zum andern Einreisesperren der Alliierten gehörten. Am leichtesten hatten es Kommunisten, die – sofern sie gebraucht wurden – mit sowjetischer Hilfe in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehren konnten. Andere betraten erst 1948/49 wieder deutschen Boden oder kehrten sogar erst in den 60er Jahren aufgrund bestimmter politischer Ereignisse zurück – so Boris Goldenberg aus dem inzwischen kommunistisch gewordenen Kuba. Für viele, die sich zum Bleiben entschlossen, war es aber eine unangenehme ワberraschung, daß nach 1945 eine gewisse “Emigration” ehemaliger NS-Funktionäre nach Lateinamerika einsetzte. Deren Vertreter – wie beispielsweise Eichmann oder Mengele – wollten unter anderem Namen untertauchen und teilweise aber auch mit Hilfe einheimischer Gesinnungsfreunde ihre unrühmlichen Aktivitäten fortsetzen.
In den Jahren 1946-1949 lösten sich aber die meisten der politischen Organisationen auf. Unterschiedliche Auffassungen über die Zukunft Deutschlands und vollends der Kalte Krieg entzogen ihnen die gemeinsame Plattform. Bemerkenswert ist, daß sich in drei Ländern – Mexiko, Brasilien und Bolivien – Nachfolgeorganisationen als sozialdemokratische Landesverbände konstituierten, nachdem während der NS-Zeit die SPD als Partei oder als parteinaher Verband im lateinamerikanischen Exil überhaupt nicht existiert hatte. Diese Organisationen bemühten sich einerseits um materielle Hilfe für ihre ausgeblutete frühere Heimat, und veranstalteten – wenigstens im Falle Brasiliens – Sammlungen. Sie bekämpften nach wie vor reaktionäre Strömungen unter den Auslandsdeutschen und attackierten teilweise heftig die junge Bundesrepublik, weil sie die diplomatischen und konsularischen Missionen in Lateinamerika hauptsächlich mit erzkonservativem Personal besetzte.
Lateinamerika hat die deutsche Literatur in vielfältiger Weise beeinflußt. Ludwig Renn und Hilde Domin haben in ihren Memoiren ihr mexikanisches bzw. dominikanisches Exil ausführlich beschrieben; Anna Seghers griff gelegentlich lateinamerikanische Motive auf; Egon Erwin Kisch veröffentlichte noch in Mexiko eine brillant geschriebene Sammlung mit Episoden aus der mexikanischen Geschichte und Paul Zech gab Indianermärchen aus dem Chaco heraus, die sich aber nachträglich offensichtlich als seine Erfindung herausstellten. Manche EmigrantInnen vermittelten auf andere Weise den Deutschen ein differenziertes Lateinamerika-Bild, entweder durch Sachbücher über ihr jeweiliges Exilland oder durch Presseberichte. Erwähnt sei hier der langjährige Südamerikakorrespondent der Frankfurter Rundschau in Montevideo, Hermann P. Gebhardt. Aus den Reihen ehemaliger EmigrantInnen sind aber auch bedeutende WissenschaftlerInnen und VertreterInnen des öffentlichen Lebens in ihren Exilländern hervorgegangen. Der gegenseitige Kulturtransfer bildet vielleicht den erfreulichsten Aspekt des Exils, das mit Verfolgung und Flucht so leidvoll begonnen hatte.