Die Abenteuer von Sinzapatista
Der bolivianisch-mexikanische Film Pacha begleitet einen jungen Schuhputzer durch die Wirren des Gaskrieges 2003 in La Paz
„He Junge, Schein!“ Ein Mann stößt mit seinen Schuhen den Jungen an, der auf einer Schachtel sitzt und schläft. Doch Tito wacht nicht auf. Die Skimaske, die der Junge während des gesamten Films nicht abnimmt, weist ihn als Schuhputzer aus. Er ist in einer Traumwelt, die sich immer wieder mit der Wirklichkeit vermischt.
Der Film Pacha spielt im Jahr 2003, während des Gaskrieges, als in den großen Städten Boliviens die Menschen in Massen für die Verstaatlichung der Gasreserven und gegen den amtierenden Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, demonstrierten. In den bürgerkriegsähnlichen Wirren begleitet der Film den jungen Schuhputzer auf der Suche nach seinem Arbeitsgerät und seinen Schuhen, die ihm während eines Nickerchens gestohlen wurden.
Seine Suche führt ihn durch ein revolutionäres La Paz, in dem abertausende Menschen aufbegehren gegen die unerträglichen Verhältnisse, in denen sie leben müssen. Dabei begegnet Tito einem kommunistischen Schuhmacher, der ihm ein Paar Sandalen schenkt und ihm den Spitznamen „Sinzapatista“ gibt. Wörtlich übersetzt heißt das „Ohne-Schumacher“, es ist aber auch eine Anspielung auf die mexikanischen Zapatisten. Und Tito alias Sinzapatista sieht ja auch aus wie deren Subcomandante Marcos, dessen Bild auf das T-Shirt des Schuhmachers gedruckt ist. So wie man eben dem Sub Marcos ähnlich sieht, wenn man eine Skimaske trägt.
Am verhängnisvollsten ist Sinzapatistas Begegnung mit einer scheinbar geistig verwirrten Obdachlosen. In der Traumwelt von Sinzapatista entpuppt sie sich als mystische, weise Frau, eine Verkörperung von Pacha Mama, der Mutter Erde. Sie führt ihn auf eine rätselhafte Reise durch die spektakulären Landschaften des andinen Hochlandes und schließlich ans Meer.
Der Film des mexikanischen Regisseurs Héctor Ferreiro läuft in der Sektion Generation Kplus, dem Kinderprogramm der diesjährigen Berlinale. Doch sind die Adressat_innen wohl weniger europäische Kinder als eher solche wie Sinzapatista. Die Bilder des Films sind bisweilen sehr drastisch und brutal, doch nichts, was ein bolivianischer Schuhputzer nicht ohnehin schon einmal erlebt hat. Dafür gibt es andere Szenen, die Dinge zeigen, die ein Schuhputzer aus der Großstadt La Paz vielleicht noch nie gesehen hat. Die Obdachlose/Pacha Mama führt Sinzapatista durch die spektakulärsten Landschaften Boliviens, zu den Salzwüsten bei Potosí, heißen Quellen, majestätisch-kahlen Tälern in den Hochanden und blumenbewachsenen Wiesen mit idyllischen Höfen.
So hat der Film eindeutig einen politischen und wohl auch pädagogischen Anspruch. Man könnte auch von Agitprop sprechen. Den Zuschauer_innen wird in den Traumsequenzen eine Idee davon gegeben, wie das buen vivir, das „gute Leben“ aussehen könnte. Mit diesem indigenen Konzept bezeichnen sowohl die bolivianische Regierung als auch die zahlreichen und vielfältigen sozialen Bewegungen Boliviens ihre Utopie von einer gerechten Gesellschaft. Doch wie soll man sich ein „gutes Leben“ vorstellen, wenn man tagtäglich mit dem Kampf um das eigene Überleben beschäftigt ist? Hier will der Film offenbar eine Imaginationshilfe geben, ein Traumfilm für bolivianische Schuhputzer_innen sozusagen. Die grandiosen und gut gemachten Naturaufnahmen des Films zeigen das Schöne, das auf der Welt noch existiert.
Doch bisweilen hat der Film auch seine Längen. Und bei den esoterisch angehauchten Lebensweisheiten, die Pacha Mama dem Sinzapatista mitgibt, fragt man sich, was wohl zehn- bis zwölfjährige Kinder mit diesem Film anfangen können. Auch die politische Botschaft ist so diffus wie penetrant in den Film eingebaut. Wenn sich in einer Traumsequenz von Sinzapatista historische Bilder unter anderem von Ché Guevara, toten US-Soldaten, Raketenstarts, dem Bau der Berliner Mauer und dem Schuhwurf auf George W. Bush aneinander reihen, wirkt das beliebig und unglaubwürdig als Traum eines etwa 10-Jährigen. Als am Ende seine mystische Reise Sinzapatista an den Strand führt und er so die nationalistische Utopie Boliviens vom Zugang zum Meer realisiert, wirkt es gar etwas lächerlich.
Dennoch handelt es sich um einen sehr interessanten Film. Die mexikanisch-bolivianische Produktion nutzt sehr einfache Mittel, was den Filmgenuss nicht immer erhöht, doch ist er ein wichtiges Dokument, welches das Selbstverständnis politischer Aktivist_innen in Bolivien künstlerisch artikuliert. Immer wieder wird die Handlung unterbrochen und man sieht Originalaufnahmen von den Protesten 2003 und Aussagen von Demonstrant_innen, in denen sie ihre Forderungen stellen: „Es reicht! Goni soll gehen! Wir, die Armen und historisch Entrechteten Boliviens, wollen nun an die Macht!“ Der Gaskrieg 2003 war das einschneidende Ereignis Boliviens, das die aktuelle Entwicklung des Landes prägt. Wer sich für das aktuelle Bolivien interessiert, sollte sich den Film daher auf jeden Fall ansehen.
Pacha // Héctor Ferreiro // 88 Minuten // Bolivien/Mexiko 2011 // Sektion Generation Kplus