Bücher aus großer Höhe
Der Dokumentarfilm Yerba Mala berichtet über ein bolivianisches Verlagsprojekt, das die Demokratisierung der Literatur zum Ziel hat
Nach La Paz ist El Alto die größte Stadt Boliviens. Ihre Bevölkerung besteht zum größten Teil aus LandarbeiterInnen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die große Stadt kamen, was zu einer kuriosen Mischung aus alten Traditionen und modernem Leben geführt hat. Genau diese Mischung versuchen die drei Geschichten, die dem Dokumentarfilm Yerba Mala als Einleitung dienen, wiederzuspiegeln: Línea 257 (Linie 257) von Roberto Cáceres erzählt von dem Leben eines jungen vocedor, eines Ausrufers, der im Minibus zwischen El Alto und La Paz unterwegs ist. Alhma, la vengadora (Alhma, die Rächerin) von Crispín Portugal erzählt die Geschichte einer Frau aus El Alto, die sich ihren Lebensunterhalt mit Freistilringen verdient. Und Khari, Khari von Darío Luna beschäftigt sich mit der gleichnamigen mythologischen Gestalt aus den Anden.
2006 bereits hatten die drei jungen Autoren den Verlag Yerba Mala Cartonera gegründet, mit dem sie versuchen wollten, die Facetten von SchriftstellerIn, VerlegerIn und KulturvermittlerIn miteinander zu vereinen. Wenn es eine Pflanze gibt, die überall wächst und die für jeden frei zugänglich ist, so ist es das Gras, spanisch yerba. Diese Idee sollte die Richtung ihres Projekts andeuten: Die Demokratisierung der Literatur, damit sich das Buch nicht in das Privileg einiger Weniger verwandelte. Durch eine Mischung aus Erfindungsgabe, andiner Handwerkstradition und dem Recycling von gebrauchter Pappe entstehen schlichte Ausgaben von literarischen Werken, die unter Copyleft stehen oder deren Autoren die Urheberrechte abgegeben haben. Das Projekt umfasst auch die Jugendlichen der Gegend, die die Buchdeckel verzieren. Auf diese Weise wurde es möglich, das Ziel des Projektes zu erreichen, nämlich Bücher herzustellen, die so günstig sind, dass sie für alle erschwinglich sind.
Die Dokumentation, die vom argentinisch-spanischen Colectivo 7 gedreht wurde, versucht nicht nur, uns über ein mutiges Projekt vom täglichen Kampf gegen die Mittellosigkeit zu erzählen, sondern erschließt auch eine Übersicht über das komplizierte Panorama des Verlags-, Kultur- und Sozialwesens in Bolivien. Warum werden dort keine Bücher gelesen? Oder genauer: Warum werden dort keine Bücher verkauft? Die Antworten von SchriftstellerInnen, VerlegerInnen und kulturellen Autoritäten beleuchten diese Fragen und zeigen auch die Schatten einer Klassengesellschaft. In einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen etwa 550 Bolivianos (etwa 60 Euro) beträgt, ist es schwierig, 100 Bolivianos für ein neues Buch auszugeben. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass die Inkakultur traditionell keine Schrift im westlichen Verständnis des Wortes verwendete. Stattdessen wurde ein komplexes System von geknoteten Schnüren, die quipus, Jahrhunderte lang für das Rechnungswesen des Inka-Reichs benutzt. Auch stellten die Textilien, mit ihren wunderschönen bunten tocapu, geometrischen Zeichnungen, einen richtigen Informations-Code dar.
Nach Kuba (1961) und Venezuela (2005) wurde Bolivien im Dezember 2008 zum dritten Land Lateinamerikas, das den Analphabetismus besiegte. Die Unesco erkannte auf diese Weise die Arbeit an, die die Regierung von Evo Morales unter Rückgriff auf das kubanische Alphabetisierungsprojekt „Yo sí puedo“ („Ja, ich kann“) hatte. Beinahe 900.000 BolivianerInnen, die Mehrheit von ihnen indigene Quechua-, Aymara- und Guaraní-Frauen, haben in diesen drei Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Dabei handelt es sich um den ersten notwendigen Schritt, damit die Literatur in alle versteckten Winkel des Andenlandes gelangen kann. Der zweite besteht aus der Initiative, welche die drei jungen Männer angestoßen haben, nämlich den Zugang zum Buch zu vereinfachen.
Mit derart originellen Projekten wie diesem Verlag, der überall in Lateinamerika NachahmerInnen findet, werden wir bald aufhören Graffities zu sehen wie das, welches in der Dokumentation über dem Eingang der Bolivianischen Kammer des Buchwesens gezeigt wird: „Lesen Sie nicht, tanzen Sie!“
// Luis Montilla
// Übersetzung: Anette Lang
Colectivo7 // Yerba Mala // Argentinien/Spanien 2008 // 66 Minuten