Die Angst vor dem Dammbruch
Warum die guatemaltekische Oligarchie auf einmal ihre Verbundenheit mit Ríos Montt entdeckt hat – Ein Kommentar
Die Anklage gegen Efraín Ríos Montt hat in der guatemaltekischen Öffentlichkeit erregte Diskussionen hervorgerufen. Eine gemeinsame Anzeigenkampagne von Persönlichkeiten, sowohl aus der politischen Rechten als auch aus der Linken, warnte gar vor einer Spaltung der Gesellschaft. Dem ehemaligen General und Staatschef Ríos Montt war wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Prozess gemacht worden. Seit Monaten erscheinen in allen großen Zeitungen des Landes jeden Tag mehrere Kommentare von Vertreter_innen der unterschiedlichen politischen Lager. Die eine Seite lobt und verteidigt den Prozess und die Verurteilung Ríos Montts. Sie sieht dies als historischen Fortschritt für die Aufarbeitung der Verbrechen während des bewaffneten Konflikts und als Chance für einen gesellschaftlichen Aufbruch.
Dafür bekommt sie fast ungeteilten Zuspruch, gerade auch aus dem Ausland. Die andere Seite dagegen versucht, die Belastungszeug_innen, Anklage und Richter_innen als vom Ausland gesteuert und finanziert zu diffamieren und die Souveränität der guatemaltekischen Justiz als gefährdet darzustellen. Selbst Vergleiche mit den politischen Prozessen der Nazis gegen den Widerstand in Deutschland werden herangezogen um den Ex-Diktator zum Opfer politischer Justiz zu stilisieren.
Erstaunlich ist jedoch, dass sich selbst der konservative Unternehmer_innenverband CACIF, der die Interessen der mächtigen Familien Guatemalas vertritt, auf einmal vehement für Ríos Montt einsetzt. So war das Verhältnis zwischen CACIF und dem ehemaligen Staatschef wegen des populistischen und anti-oligarchischen Diskurses seiner Partei, der Guatemaltekischen Republikanischen Front (FRG), seit Langem gespannt. Zunächst zumindest hatte es so ausgesehen, als wolle man den alten Ex-General im Prozess gern den Wölfen vorwerfen, um die eigene Haut zu retten. In den Wochen vor der Verkündung des ersten Urteils aber warnte CACIF plötzlich vor der Flucht ausländischer Investor_innen wegen des schlechten Images, das eine Verurteilung Ríos Montts für Guatemala bedeuten würde. Und zwei Tage danach forderte der Verband vehement dessen Annullierung wegen angeblich gravierender Verfahrensfehler, um ebenso wie seine Verteidigung den Völkermord während des Bürgerkriegs als absurde Anschuldigung abzustreiten.
Was aber sind die Gründe für die Heftigkeit des Widerstands bestimmter Bevölkerungsgruppen gegen die Verurteilung des ehemaligen Diktators, fast 30 Jahre nach seiner Absetzung? Die Verteidigung Ríos Montts und auch der CACIF haben einen Teil ihrer Strategie darauf aufgebaut, den Prozess und das Urteil gegen Ríos Montt als gegen alle Guatemaltek_innen gerichtet darzustellen. So veröffentlichte der CACIF in mehreren Tageszeitungen eine Beilage mit dem Titel „Jetzt sagen sie, dass wir Guatemalteken Völkermord begangen haben“. Ein Teil der konservativen Mittelschicht und viele ehemalige Angehörige des Militärs oder der vom Militär eingesetzten sogenannten Patrouillen zur bürgerlichen Selbstverteidigung (PAC) hatten während des Bürgerkrieges auf der Seite der Regierung gestanden. Sie verstehen deren Handeln noch heute als gerechtfertigte Verteidigung des Vaterlandes gegen die vermeintliche kommunistische Verschwörung. Sie fühlen sich von dieser Strategie angesprochen und verteidigen nun mit Ríos Montt auch ihre eigene Lebensgeschichte. Dazu kommt der tief verwurzelte Rassismus im Land, der bei der Verurteilung Ríos Montts wegen Völkermordes an der indigenen Bevölkerung alte Ressentiments und Ängste der europäischstämmigen und mestizischen Bevölkerung aufleben. Diese Situation erklärt unter anderem auch die gegenwärtige Welle des Antikommunismus und Rassismus in vielen guatemaltekischen Medien, insbsondere auch im Internet.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, der über die ideologische Identifizierung mit Ríos Montt und seiner Regierung weit hinausgeht. Ein mögliches Urteil wegen Völkermordes würde an den ökonomischen und politischen Strukturen der guatemaltekischen Gesellschaft rütteln, die sich immer noch auf die jahrhundertelange Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung der indigenen Bevölkerung stützen. Dieser Grund ist es, wie der Journalist José Luis Sanz in der Internet-Zeitung El Faro analysiert, der die traditionelle ökonomische Elite Guatemalas alarmiert und sie in eine Verteidigungsfront mit dem Ex-General und Staatschef gebracht hat: Die Anklage wegen Völkermordes gegen ihn impliziert, dass die Verbrechen während des Bürgerkrieges keine vereinzelten Exzesse waren, die lokalen Militärkommandeur_innen angelastet werden können. Vielmehr gab es ein bewusstes und von oberster Stelle geplantes Vorgehen gegen die indigene Bevölkerung in Guatemala, das intellektuelle Autor_innen, Unterstützer_innen und Nutznießer _innen hatte.
Die guatemaltekische Oligarchie wurde sich dessen bewusst, dass die Bestätigung des Urteils gegen Ríos Montt wegen Völkermordes ein Dammbruch wäre, der weitere Prozesse möglich machen könnte – nicht nur gegen Militärs, sondern konsequenterweise auch gegen Politiker_innen oder Unternehmer_innen, die die verschiedenen Regime während des guatemaltekischen Bürgerkrieges unterstützten und von der von ihnen ausgehenden Unterdrückung profitierten. So sagt der guatemaltekische Militär- und Sicherheitsexperte Héctor Rosada-Granados: „[Das Urteil gegen Ríos Montt] lässt die schwarze Seele der intellektuellen Autoren der Menschenrechtsverbrechen während des Bürgerkrieges noch unangetastet: die Elite des Staates, die Führung der Oligarchie“, und fordert auch ihre Anklage.
Damit einher gingen, wie der ehemalige Außenminister Guatemalas, Eduardo Stein, im Interview mit Sanz voraussieht, auch nur schwer zurückweisbare Forderungen von Seiten der indigenen Opfer und ihrer Nachkommen auf ökonomische Entschädigung, die Rückgabe des Landes, von dem sie vertrieben wurden, oder sogar politische Autonomierechte. Dabei stützt sich die Macht der guatemaltekischen Oligarchie immer noch zu einem wesentlichen Teil auf den Landbesitz. Die extrem ungerechte Landverteilung zählt seit Jahrzehnten zu den am heißesten umkämpften Problemen Guatemalas. So würde die politische Wirkung der endgültigen Bestätigung des Urteils gegen Ríos Montt weit über die juristische Ebene hinaus gehen und könnte tatsächlich den sehr brüchigen sozialen Frieden Guatemalas gefährden, der in der ständigen Fortschreibung und Duldung des Status Quo der extremen Ungerechtigkeit besteht.
Damit besteht das Risiko, dass die latenten gesellschaftlichen Konflikte im Land in noch stärkere Gewalt umschlagen, als dies die Guatemaltek_innen in ihrem Alltag jetzt schon gewohnt sind. Gleichzeitig wäre aber auch die Chance einer historischen Wende gegeben, die die guatemaltekische Gesellschaft zu einer radikalen Auseinandersetzung mit ihren weiter bestehenden Strukturen der Ungleichheit und Diskriminierung und damit schlussendlich zu deren Veränderung veranlassen könnte. Die Angst genau davor ist es, die die traditionellen Eliten des Landes umtreibt und zu Verteidiger_innen des ihnen eigentlich verhassten ehemaligen Diktators werden lässt.