Guatemala | Nummer 381 - März 2006

„Wir versuchen uns dem Schweigen zu widersetzen“

Interview mit Francisco Sánchez, Vertreter von H.I.J.O.S.-Guatemala

Francisco Sánchez arbeitet in der Basisorganisation Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra
el Olvido y el Silencio (Söhne und Töchter für die Identität und die Gerechtigkeit gegen das Vergessen und das Schweigen). H.I.J.O.S. wurde 1999 gegründet und setzt sich vor allem aus Angehörigen der Verschwundenen des Bürgerkrieges zusammen.

Interview: Gerd Schmitt

Warum wurde die Organisation H.I.J.O.S. am 30. Juni gegründet?

In Guatemala ist das der Tag der Armee.
Wir hatten uns damals dazu entschieden, uns diesen Tag wieder anzueignen. Wir wollten die Symbolik des Datums nutzen und versuchen, öffentlich anzuklagen, was es für Guatemala bedeutet, dass bis heute der Tag der Armee gefeiert wird. H.I.J.O.S. zelebriert parallel zu den Feierlichkeiten der Armee seinen Jahrestag mit einer Reihe von eigenen politischen und kulturellen Aktivitäten. Am 30. Juni gehen wir immer dorthin, wo die Soldaten sich aufhalten, um sie an ihre Taten zu erinnern. In Guatemala gibt es außerdem die Tendenz, den „Opfern“ als bloße Opfer zu gedenken und nicht als Personen, die gekämpft und Widerstand geleistet haben. Wir wollen die kollektive Erinnerung fördern.

Wie ist H.I.J.O.S. organisiert?

Entscheidungen werden per Konsens getroffen und unsere Mitglieder arbeiten alle als Freiwillige mit. H.I.J.O.S. ist eine unabhängige Organisation. Denn wir wollen nicht in eine Abhängigkeit geraten, wie es vielen Nichtregierungsorganisationen (NRO) oder Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit passiert – sie sind im Grunde finanziell vom Ausland abhängig. H.I.J.O.S. ist keine „Organisation der Opfer“ sondern der Überlebenden und Angehörigen, die Widerstand gegen ein ungerechtes Wirtschaftssystem leisten. Ein Wirtschaftssystem, das uns von außen aufgezwungen wurde.

Was ist eure Kritik an den NRO?

Es gibt NRO, die nur Familienangehörige oder Freunde einstellen und nur in Kreisen arbeiten, die ihrer Meinung zustimmen. Es gibt kein Wachstum oder kollektive Konstruktion von politischen Ideen. Das, was der Direktor vorgibt, gilt und dabei bleibt es. Daher wollen wir keine NRO sondern eine selbst bestimmte und unabhängige Organisation von Freiwilligen sein.
Haben die Mitglieder einen gemeinsamen politischen Hintergrund?
Mir persönlich hat H.I.J.O.S. viel dabei geholfen, meine politischen Ideen zu formen. Ich habe auch schon bei anderen Gruppen mitgemacht, aber ich hatte nie solchen Freiraum. In H.I.J.O.S. können wir uns kollektiv sowie konstruktiv entwickeln. Es ist sehr anstrengend, aber das Konsensprinzip zeigt, dass es möglich ist, eine andere Welt auf der Basis der Ideen aller aufzubauen und nicht auf den Vorstellungen eines Einzelnen. Alle H.I.J.O.S. arbeiten darauf hin, mit Menschen verschiedener politischer Ansichten und Meinungen einen Konsens zu erreichen.

Ihr arbeitet hauptsächlich mit Jugendlichen: Wie entwickelte sich diese Arbeit?

Eines der ersten Ziele von H.I.J.O.S. war es, mit den Söhnen und Töchtern von Verschwundenen zu arbeiten. Wir gingen davon aus, dass gerade die Kinder der Verschwundenen am meisten daran interessiert seien, für die Gerechtigkeit einzutreten und den Widerstandskampf ihrer Eltern weiterzuführen. Dem war jedoch nicht so.
In Guatemala siegt das Vergessen oftmals über die Erinnerung. Zudem sind es oft die sozialen und ökonomichen Bedingungen in unserem Land, die ein Hindernis für die Menschen darstellen: Es ist schwer gegen das Vergessen des Krieges und des Grauens kämpfen, wenn man heute unter den Lebensbedingungen des ungerechten Wirtschaftssystems leidet.
Jugendliche in Guatemala haben oft keinen Zugang zu Bildung, sie werden von der Polizei unterdrückt und sind der Konsumbombardierung des kapitalistischen Systems ausgesetzt. Außerdem leben sie mit der von den Eltern vererbten Angst. So mussten die wenigen Jugendlichen, die zu uns kamen, dies vor ihren Eltern, welche die Repression überlebt hatten, verheimlichen. Denn ihre Eltern sagten ihnen, dass sie sich nicht einmischen sollten, da es hier in Guatemala ihr Todesurteil bedeuten könne.

Was sind die Schwerpunkte eurer Arbeit?

Wir befinden uns immer noch auf der Suche nach dem zentralen Projekt,
das H.I.J.O.S. ausmachen soll. Wir haben vielleicht schon eine Form gefunden, aber die Suche geht weiter, besser gesagt, die Konstruktion, was H.I.J.O.S. für uns darstellen soll. Es gibt verschiedene Arbeitsfelder. Eines ist REMHIJ, Recuperación de la Memoria Histórica de la Juventud (Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses der Jugend). Dieses Programm haben die GründerInnen von H.I.J.O.S. mit zwei Zielen begonnen: Eines besteht in der Verbreitung der nicht-offiziellen Version der Geschichte, zum Beispiel die Ursprünge des Krieges und die Gründe für die Berechtigung des bewaffneten Kampfes. Das andere Ziel ist es, mehr Söhne und Töchter von Verschwundenen sowie Jugendliche zu treffen, die sich in den Prozess der verschiedenen Arbeiten einbringen wollten. Dies wurde in verschiedenen Orten entwickelt, in denen es starke Repression gegeben hat: Quiché, Petén, Chimaltenango, Baja Veapaz, Guatemala Stadt und in Xela.

Wie steht ihr zur Polizei?

Wir haben eine Untersuchung über die Repression der Polizei durchgeführt. Diese versucht seit einigen Jahren, nicht nur jugendliche Organisationen, sondern auch das Denken und Handeln der Jugendlichen zu kriminalisieren. Daher war eines unserer Ziele, die Fortsetzung der im Krieg entwickelten Anwendung von Folter bei Jugendlichen zu beweisen. Es gab ein großes Interesse der Medien für diese Untersuchung und ihre alarmierenden Ergebnisse. Nachdem wir die Ergebnisse veröffentlicht hatten, häuften sich Bedrohungen, Belästigungen und Beschattungen. Wir mussten deshalb um vorbeugende Maßnahmen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte bitten mussten.
Als wir zu Beginn des Jahres 2005 in ein neues Büro umzogen, drangen am gleichen Tag, an dem es eingeweiht wurde, im Morgengrauen Unbekannte ein, zerstörten es und raubten alles: Fotos, ein Megaphon, fast das ganze Material unserer Arbeit, vor allem der Kunsttherapie. Wir hatten nämlich begonnen, alternative Medien zu nutzen: Wandbilder, Graffiti, Straßenfeste und Straßentheater, kulturelle Events, die eine starke politische Botschaft haben. Das letzte Programm, das wir verwirklichten, war die Kunsttherapie, in der einige Monate an Arbeit steckten. Der ganze Prozess hatte dem seelischen Wohlbefinden der Involvierten gedient, die sich mittels der Kunst ausdrücken konnten. Die Jugendlichen bekamen so die Möglichkeit, Repression und Terror psychologisch aufzuarbeiten.

Es gibt jedoch auch zahlreiche Bemühungen in Guatemala, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Wie bewertet ihr diesen gesellschaftlichen Prozess und wie beabsichtigt ihr, euch an ihm zu beteiligen?

Es gibt verschiedene Ansichten, wie dieser Prozess vollzogen werden soll. So wurde zum Beispiel nach der Unterzeichnung der Friedensverträge von Versöhnung im Land gesprochen. H.I.J.O.S. jedoch vertrat die Meinung, dass eine Versöhnung nicht möglich sei. Auch wurde von der Notwenigkeit einer Entschädigungspolitik gesprochen. Wir aber sind mit diesem Plan der Entschädigung aus Sicht des Staates nicht einverstanden. Viele Leute meinen, dass es notwendig sei, das, was passiert ist, zu vergessen. Wir dagegen sind davon überzeugt, dass es nicht möglich ist, die Wahrheit zu ignorieren. Jedoch gibt es oft dringendere Bedürfnisse, wie Hunger, Bildung oder Gesundheitsversorgung, welche die Leute oft daran hindern, zu sprechen. Das Bemühen von H.I.J.O.S. besteht genau darin, dieses Gedächtnis an den Kampf und die Lebensgeschichten der Getöteten am Leben zu erhalten. Aber nicht nur an die Toten, sondern auch an die vielen Menschen zu erinnern, die am Leben geblieben sind: Menschen, die durch Massaker vertrieben wurden oder versteckt in den Bergen leben mussten, Bauern und Gewerkschafter in ihrem Kampf für Land und gerechte Löhne. Wir verstehen das Gedächtnis jedoch als einen lebendigen Prozess. Er dient nicht nur dazu zu sagen: „Die armen Opfer, die sie getötet haben“, sondern spiegelt die aktuellen sozialen Kämpfe wider.

Wie wird die Zukunft von H.I.J.O.S. aussehen? Welche Perspektiven habt ihr?

Manchmal stelle ich mir H.I.J.O.S. wie einen Zwerg oder ein fast unbedeutendes Wesen vor, das gegen das System kämpft. Andererseits denke ich, dass H.I.J.O.S. vielen Hoffnung macht. Wir gehen mit 300 bis 400 Personen auf Demonstrationen. Dabei ergibt es sich manchmal, dass wir danach einen alten Menschen oder einen Jugendlichen treffen, der sagt: „Ich habe euch gesehen und es hat mir gut gefallen. Ich denke, es ist sehr wichtig, was ihr macht.“ Es ist so, als ob man versucht, sich der „Stimme“ zu widersetzen, die der Terror des Systems den Menschen gegeben hat, nämlich das Schweigen. Diese Hoffnung möchte H.I.J.O.S. aufrecht erhalten: Es ist möglich, das System herauszufordern. H.I.J.O.S. ist wie ein kleines Kind, das einen kleinen Stein ins Wasser wirft, der doch weite Kreise ziehen kann. Vielleicht können wir so bei ein paar Menschen Hoffnung wecken. Das ist letzten Endes auch unsere Hoffnung.

Weitere Informationen zu H.I.J.O.S. Guatemala:
http://hijosguatemala.8m.com

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