Guatemala | Nummer 420 - Juni 2009

Die Archive der Erinnerung

Der Fund der historischen Archive der ehemaligen Nationalpolizei weckt große Hoffnungen bei den Angehörigen von Opfern der Repressionspolitik

Systematische Straflosigkeit schützt seit Jahren die Verantwortlichen des Völkermordes und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit des internen Krieges in Guatemala davor, gerichtlich verurteilt zu werden. Durch den Fund des Polizeiarchivs kam es zwar bereits zu ersten Verhaftungen von Polizeiagenten, das Militär hält jedoch weiterhin wichtige Dokumente zurück.

Sonja Perkic-Krempl

Im Verlauf des 36 Jahre dauernden internen Krieges verübten die staatlichen Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverbrechen an der Zivilbevölkerung Guatemalas, unter dem Vorwand der Bekämpfung der bewaffneten Guerilla. So wurden Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen aber vor allem indigene Gemeinden Opfer von Gräueltaten. Dem Staat werden nach internationalem Recht Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angelastet.
Der Kampf für die Aufklärung dieser Menschenrechtsverletzungen und für die Erinnerungsarbeit stützte sich bisher auf zwei Fundamente: die ZeugInnenaussagen von Überlebenden und Familienangehörigen der Opfer sowie die Ausgrabungen der Skelette von Opfern von Massakern, die in geheimen Massengräbern verscharrt wurden, und deren forensisch-anthropologische Analyse. Sie dienten als Grundlage zur Erarbeitung der zwei Wahrheitsberichte Guatemalas, des Berichts des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros Guatemala – Nunca Más (Guatemala – Nie Wieder, 1998) sowie des Berichts der UNO-Wahrheitskommission Guatemala. Memoria del Silencio (Guatemala. Erinnerung des Schweigens, 1999). Während der Recherchen zu Letzterem forderten VertreterInnen  dieser Kommission mehrmals Zugang zu Archiven der staatlichen Sicherheitskräfte, dessen Existenz die Regierung bis vor wenigen Jahren systematisch negierte.
Nach der Unterzeichnung der Friedensverträge 1996 und vor allem nach der Präsentation der Wahrheitsberichte wurden die Forderungen der zivilen Bevölkerung und der sozialen Bewegungen für die Öffnung der Militär-, Polizei- und Geheimdienstarchive konkreter und stärker. Der Ruf nach Justiz und Aufklärung der zu tausenden verübten Menschenrechtsverletzungen während des Krieges wurde laut.Erste Hoffnung kam mit dem Fund der historischen Archive der ehemaligen Nationalpolizei vor knapp vier Jahren auf. Der Ombudsmann der Menschenrechte in Guatemala erhielt eine anonyme Anzeige über Sprengstofflagerungen in einem scheinbar stillgelegten Gebäude der Polizei inmitten eines ungeordneten Autofriedhofs in einem Randviertel der Hauptstadt. Beim Verifizierungsbesuch vom 5. Juli 2005 fand man nicht nur Sprengstoff vor, sondern auch fast 15 Räume gefüllt mit Akten und Papieren: das Archiv der ehemaligen Nationalpolizei in Guatemala. Verwahrlost, verfault – vergessen? Nicht ganz. Im Widerspruch zur systematischen Verneinung des Archivs von Seiten des Staates, ist dieses bis heute in den polizeilichen Verwaltungsapparat eingebunden und der Sitz des aktuellen Zentralarchivs der Polizei. „Das war eine große Überraschung, niemand von uns hätte geglaubt, dass diese Archive tatsächlich existierten, und das sogar an einem Ort, der auf den ersten Blick gar nicht so schwer zugänglich zu sein scheint“, erklärt Carla Villagrán, ehemalige Beraterin des Ombudsmannes.
Dieser handelte schnell. Einige Tage nach dem historischen Fund gab ihm ein Gericht ausschließlichen und unbegrenzten Zugang zu den Beständen um eine Untersuchung über Verletzungen von Menschenrechten durchzuführen. Aufgrund des extrem schlechten Zustandes des Archivs war es notwendig, mit der Sicherung und archivarischen Aufarbeitung der Dokumente und auch der Restaurierung des Gebäudes zu beginnen.
Tausende von Akten, Büchern und Papieren waren der absoluten Verwahrlosung ausgesetzt. Fledermäuse, Ratten, Insekten, Wasser und Feuchtigkeit hatten die Dokumente stark beschädigt und teilweise oder ganz zerstört. „Ich habe schon viele Archive dieser Art kennen gelernt, in Argentinien, in Paraguay, aber nichts hat mich auf den Schock vorbereitet, als ich diese Archiv das erste Mal betrat“, meint Kate Doyle vom National Security Archive (USA).
Die Größe der Bestände wurde mit Laufmetern berechnet, somit wären die geschätzten 7.900 Meter Dokumente umgerechnet 80 Millionen Akten. „180 Personen arbeiten in Vorgängen zur Reinigung, Identifizierung, Archivierung, Konservierung und Digitalisierung nebst den eigentlichen Forschungsarbeiten. Digitalisiert wurden bisher knapp 10 Prozent der Dokumente. Hier gibt es noch Arbeit für unsere Enkelkinder“, erklärt Gustavo Meoño, Koordinator des Projektes zur Aufarbeitung des historischen Archivs der Nationalpolizei.
Das Archiv ist das größte bis jetzt aufgefundene dieser Art in Lateinamerika. Doch was gibt es her? „Erstens lassen sich Struktur und Funktionieren der Nationalpolizei exakt nachverfolgen, dazu gehört auch deren Unterordnung unter das Militär während der Jahre des Bürgerkriegs. Neben alltäglichen verwaltungstechnischen Kommunikationen, Personallisten und Diensteinteilungen findet man hier aber auch viele Berichte bezüglich der Überwachung und Kontrolle der meist linken Opposition. Immer wieder tauchen aber auch Daten auf zu Verhaftungen von bisher als verschwunden geglaubten Personen und in manchen Fällen deren Übergabe ans Militär“, erklärt ein Mitglied des Forschungsteams des Archivprojektes. Diese und andere Informationen wurden vom Ombudsmann im März dieses Jahres in einem Bericht der Öffentlichkeit präsentiert.
Der Fund des Archivs erweckte Hoffnung bei tausenden von Familienangehörigen von Opfern der Repressionspolitik in Guatemala. Während des bewaffneten Konfliktes war die Polizei – vor allem in der Hauptstadt – ein verlängerter Arm des Militärs. Obwohl Armeeinstanzen strategische Planungen zur Bevölkerungskontrolle erarbeiteten, wurden oft spezifische Aktionen dazu von Polizeieinheiten ausgeführt oder unterstützt. Zum Beispiel Hausdurchsuchungen, Razzien ganzer Viertel, Kontrollpunkte auf Straßen und auch systematische Überwachung von politisch oder gewerkschaftlich aktiven Persönlichkeiten und Infiltrierung in zivile Bewegungen. Oft endeten diese Aktionen mit der Gefangennahme oder Entführung von Personen, deren Folterung und oft auch außergerichtlichen Hinrichtung. Man nimmt sogar an, dass das heutige Archivgebäude einst zu solch menschenunwürdigen Zwecken diente.
Die wenigen laufenden gerichtlichen Prozesse gegen Verantwortliche von Menschenrechtsverbrechen stützen sich ausschließlich auf Zeugenaussagen und Resultate forensischer Ausgrabungen. „Die Öffnung der verschiedenen Staatsarchive ist ein wichtiger Schritt in der Erinnerungsarbeit, aber auch für die Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Erforschung der Verbrechen in den Archiven und die Ergänzung bisheriger Untersuchungen mit Archivmaterial hat eine besondere Bedeutung und bringt aktuelle und zukünftige gerichtliche Prozesse in eine andere Dimension“ erklärt Héctor Soto, Direktor des Zentrums für forensische Analyse und angewandte Wissenschaft (CAFCA).
Dies zeigt sich im Fall von Fernando García, einer von 45.000 verschwundenen Personen und Ehemann der Menschenrechtsaktivistin und Kongressabgeordneten Nineth Montenegro. Der Gewerkschafter García wurde 1984 von Polizeibeamten im Rahmen einer Straßenkontrolle verhaftet. Trotz intensiver Suche und gerichtlichen Verfügungen wurde seine Inhaftierung immer bestritten, bis zu dem Tag, als diese mit Archivdokumenten bestätigt werden konnte. Aufgrund der Dokumente ordnete ein Gericht Haftbefehle gegen vier teils immer noch aktive Polizeiagenten an und beschuldigt sie des Verbrechens des gewaltsamen Verschwindenlassens. Zwei dieser Agenten sind Anfang März dieses Jahres verhaftet worden.
Doch nicht nur die Polizeiarchive sind von großer Wichtigkeit. Im Februar 2008, einen Monat nach Amtsantritt, kündigte Präsident Álvaro Colóm im Rahmen des „Tages der Opfer des bewaffneten internen Konfliktes“ an, die Militärarchive zu öffnen und beauftragte den Friedenssekretär Orlando Blanco mit dem Aufbau einer Abteilung zur Bearbeitung und Analyse dieser Dokumente. Genau ein Jahr darauf wurde der Sitz der Friedensarchive des Sekretariats für Frieden eröffnet, mit dem Ziel, Dokumente aus der Zeit zwischen 1954 bis 1996 zu systematisieren, konservieren und analysieren. Doch bis heute weigert sich das Militär seine Archive abzugeben, mit dem Argument, dass es sich bei diesen um Dokumente der nationalen Sicherheit handle. Das kürzlich in Kraft getretene Gesetz für den öffentlichen Zugang zu Information staatlicher Institutionen hebt jedoch in seinem Artikel 24 hervor: „In keinem Fall kann Information bezüglich Untersuchungen von schweren Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als vertraulich oder mit Vorbehalt klassifiziert werden“.
Eine spezielle Kommission soll nun darüber entscheiden, welche Dokumente freigegeben werden und welche nicht. Auch wenn die dazu nötigen Richtlinien erst erarbeitet werden müssen, ist die Kommission bereits im Besitz von drei Militärplänen, während die Armee versucht, die Freigabe weiterer Dokumente so lange wie möglich hinauszuzögern. „Wir wissen nicht, um welche Menge von Dokumenten es sich handelt und wo sie sich befinden“, erklärt Marco Tulio Álvarez, Direktor des Friedensarchivs und Mitglied dieser Kommission. Es bestehe auch die Gefahr, dass Material vernichtet werden könnte. Die Armee selbst gibt als Argument gegen die Herausgabe der Dokumente deren frühere Vernichtung vor.
Obwohl der Schwerpunkt der Friedensarchive auf den Archiven des Militärs liegen sollte, werden auch Dokumente anderer staatlicher Behörden systematisiert und analysiert. So werden derzeit zum Beispiel Dokumente des sozialen Wohlfahrtssekretariats bezüglich der durchgeführten Adoptionen zur Zeit des bewaffneten Konfliktes bearbeitet. „Wir nehmen an, dass die Freigabe von Kindern zur Adoption zwischen 1976 und 1986 mit dem Verschwinden von tausenden von Kindern in Verbindung steht. In mindestens einem Fall können wir dies auch nachweisen“, erklärt Álvarez.
Doch die Erforschung von Menschenrechtsverbrechen aus der Zeit des Bürgerkrieges ist nach wie vor keine ungefährliche Tätigkeit. Davon zeugt der Angriff auf einen mit dem Fall von F. García betrauten Mitarbeiters des Ombudsmannes, der schwer verletzt wurde oder die vorübergehende Entführung und ebenfalls schwere Verletzung der Frau des Ombudsmannes am Tag nach der Veröffentlichung seines ersten Berichtes über das Polizeiarchiv. Ebenso die phasenweise Überwachung des Personals des Archivprojektes und auch die Todesdrohungen gegen MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Freigabe der Militärbestände einsetzen.
Vielleicht ist dies eine Erklärung dafür, warum eines der wichtigsten Archive Lateinamerikas zur Aufklärung der jüngsten Geschichte vom guatemaltekischen Staat weder unterstützt noch geschützt wird, dieser jedoch dem Friedensarchiv, dessen klägliche Bestände nicht vergleichbar sind mit jenen des Polizeiarchivs, institutionelle Förderung gewährt.

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