Brasilien | Nummer 488 - Februar 2015

Die Entdeckung der munizipalen Ebene

Die mühevolle Suche traditioneller Gemeinschaften nach Instrumenten zur Verteidigung ihrer Territorien

Die jahrzehntelangen Konflikte der indigenen Völker um ihre Territorien werden international aufmerksam verfolgt und unterstützt. Die vergleichbaren Konflikte traditioneller Gemeinschaften jedoch werden weniger wahrgenommen. Doch nicht nur mangelt es letzteren an Aufmerksamkeit, sondern mehr noch fehlt es an adäquaten juristischen Instrumenten zur Durchsetzung ihrer Territorialinteressen. Interessant ist daher eine Gemeinschaft von geraizeiros im Norden des brasilianischen Bundesstaates Minas Gerais, die einen neuen Weg geht und versucht, ihr Territorium durch munizipale Gesetzgebung zu verteidigen.

Dieter Gawora

Das nördliche Minas Gerais ist seit den 1980er Jahren ein wichtiges Expansionsgebiet der Eukalyptusproduktion. Dies bedeutet die Umwandlung der artenreichen Trockensavanne des Cerrado in eine Forstmonokultur, bedeutet aber auch die Entziehung der Lebensgrundlage der traditionellen Gemeinschaften, die auf der diversifizierten Nutzung dieser Savannenvegetation beruht.

Auf den Hochebenen des Cerrado – den gerais – siedelt seit Generationen eine traditionelle Bevölkerung, die sich selbst als geraizeiros bezeichnet. 1996 erreichte die Eukalyptusexpansion die geraizeiro-Gemeinschaft Sobrado im Munizip Rio Pardo de Minas. Ein Investor hatte sich auf bis heute ungeklärte Weise das gemeinschaftlich genutzte Allmendeland angeeignet. Dieses Allmendeland ist seit alters her Teil des Territoriums von Sobrado. Da es keine formalen Besitztitel gibt, galt es juristisch automatisch als Gebiet in Zuständigkeit des Bundesstaates. In dem bewaldeten Gebiet, mit typischen in sich verwachsenen Cerradobäumen, entspringen zwei Quellbäche mit weiteren kleinen Zuläufen, von denen Sobrado und Nachbargemeinschaften Trinkwasser sowie das Wasser für die Gartenbewirtschaftung erhalten. Dieses Gebiet wurde nie landwirtschaftlich, sondern ausschließlich zum Sammeln von Früchten und Medizinalpflanzen sowie als Auslauf für die wenigen Rinder der Familien genutzt.

2002 begann der neue Besitzer mit Abholzungen in dem Gebiet. Nach nur zwei Jahren der Abholzungen versiegten die meisten der Quellen und als Folge verschlechterte sich die Wasserversorgung und -qualität in den Gemeinschaften. Zudem versandeten die Bachläufe durch Erosion und die einfachen Rohrleitungen zu den Häusern der Familien verstopften ständig. Es folgten sehr schwierige Jahre für die Familien mit Wasserknappheit und geringer Gartenerträge. Durch mühselige Verhandlungen mit dem Munizip gelang es 2010, dem Investor ein anderes Gebiet im Munizip zuzuweisen. Die natürliche Vegetation hat sich seitdem im Quellgebiet erholt und die Wasserversorgung ist wieder gesichert. „Für die Familien war das Leben mit der Wassernot oft unerträglich“, berichtet José Severino Diaz, Koordinator der Gemeinschaft von Sobrado.

Ungeklärt aber ist bis heute der rechtliche Status des Gebietes. Vor diesem Problem stehen nahezu alle traditionellen Gemeinschaften in Brasilien. Denn Indigene und Nachkommen von Quilombos (ehemalige autonome Sklavensiedlungen) haben ein durch die Verfassung garantiertes Recht auf Demarkierung ihrer Territorien durch den Staat. Dass die Realisierung dieser Rechte unzureichend ist, bleibt unbestritten, aber zumindest ist für diese Gruppen der Rechtsweg zur Erlangung ihrer Territorien eindeutig vorgezeichnet. Traditionelle Gemeinschaften sind zwar auch in der Verfassung von 1988 als konstituierend für die brasilianische Nation erwähnt, allerdings ohne konkrete Rechtsansprüche. Die engere Definition traditioneller Gemeinschaften erfolgte erst im Jahr 2007 durch das Präsidialdekret 6040. Traditionelle Völker und Gemeinschaften sind demnach „Gruppen, die sich kulturell unterscheiden und als solche verstehen, mit eigenen sozialen Organisationsformen, die Territorien besetzen und natürliche Ressourcen für ihre kulturelle, soziale, religiöse, anzestrale und ökonomische Reproduktion, sowie erschaffenes und durch Traditionen weitergegebenes Wissen, Innovationen und Praktiken nutzen.“

Die geraizeiros verstehen sich als traditionelle Gemeinschaften. Ihr Lebensraum ist das zentralbrasilianische Hochland, insbesondere Gegenden mit Hochplateaus. Sie haben eigene kulturelle Ausdrucksweisen, Verhaltensregeln und Mythen und sind überwiegend im Volkskatholizismus verwurzelt. Sie bewirtschaften traditionell mindestens vier ökologische Einheiten – Höhenzüge, Hochebenen, Trockenwälder und Gewässerauen – in denen sie Garten-, Land-, Vieh- und Sammelwirtschaft betreiben sowie begrenzt auch Fischfang und Jagd. Ergänzt wird die Ökonomie heute durch verschiedene Dienstleistungsberufe, im geringen Umfang durch die Weiterverarbeitung von Lebensmitteln sowie durch temporäre Arbeitsmigration, meistens der Männer, während der Zuckerrohrernte oder anderer Großernten in entfernten Regionen Brasiliens. In den Gemeinschaften haben die meisten Mitglieder verwandtschaftliche Beziehungen. Neben diesen allgemeinen Charakteristika der geraizeiros hat jede Gemeinschaft eine spezifische Geschichte.

Das Dekret von 2007 erkennt auch die Notwendigkeit von Territorien für traditionelle Gemeinschaften an: „Traditionelle Territorien sind: notwendige Räume für die kulturelle, soziale und ökonomische Reproduktion der traditionellen Völker und Gemeinschaften, die permanent oder temporär genutzt werden.“ Aber dies bedeutet keine Verpflichtung des Staates, die Territorien dieser Gruppen zu demarkieren und es fehlt ein klares juristisches Instrument für deren Ausweisung.

In dieser komplizierten Situation wurden in den letzten 25 Jahren verschiedene juristische Instrumente angewendet. Angemessen erschienen lange die Sammelreservate, die sogenannten Reservas Extrativistas – ResEx. Diese waren eine juristische Konstruktion, die von den Kautschukzapfern Ende der 1980er Jahre erfunden worden war, um ihnen territoriale Rechte und weitgehende Selbstbestimmung zu garantieren. 2001 wurde die Umweltgesetzgebung geändert, diese räumte der Umweltbehörde, zu Lasten der Selbstbestimmung der Bewohner der ResEx, deutlich mehr Befugnisse ein. Eine Änderung, die zunächst unbemerkt blieb, da erst ab 2007 durch institutionelle Veränderungen wie der Einrichtung einer neuen Behörde, das neue Umweltrecht umgesetzt wurde. Seitdem klagen die Bewohner nahezu aller ResEx über die Einschränkungen, die ihnen auferlegt werden. Die ohnehin schwierige Rechtssituation der traditionellen Gemeinschaften wurde mit dieser Gesetzesänderung zu Gunsten des staatlichen Umweltschutzes weiter erschwert.

Neben den ResEx gibt es andere juristische Konstruktionen. „Gebiete zur nachhaltigen Entwicklung“, die ebenfalls von den Umweltbehörden mitkontrolliert werden, die Möglichkeit der Ausweisung von „Ansiedlungen der Land- und Sammelwirtschaft“ (Reservas Agroextrativistas) oder die klassische Ansiedlung als Agrarreformprojekt (Assentamento) – eigentlich ein Instrument, das für Landlose geschaffen wurde –, die beiden letzteren werden von der Agrarreformbehörde ausgewiesen. Dies sind durchaus Optionen für traditionelle Gemeinschaften. Gemein ist ihnen, dass sie nicht für die Realitäten traditioneller Gemeinschaften geschaffen wurden, dass sie zweitens nur von Bundes- oder Landesbehörden ausgewiesen werden können und dementsprechend drittens überaus kompliziert durchzusetzen sind.

Keine dieser bekannten Konstruktionen passte oder hätte Aussicht auf Erfolg für die Gemeinschaft Sobrado gehabt. Die Gemeinschaft beschreitet daher einen innovativen Weg. Über munizipale Gesetzgebung will sie zu territorialen Gemeinschaftsrechten gelangen. Unterstützt wird sie dabei vom Centro de Agricutura Alternativa CAA und deren Rechtsanwält*innen, der örtlichen Landarbeiter*innengewerkschaft sowie der Universität in Montes Claros. Der dahinter stehende Gedanke ist vergleichsweise einfach. Einflussnahme auf die Entscheidungsträger in der Hauptstadt des Bundesstaates oder gar in Brasilia, dies ist für eine Gemeinschaft oder eine örtliche Landarbeitergewerkschaft sehr schwierig. Auf die lokalen Entscheidungsträger im munizipalen Parlament sowie den Präfekten ist es demgegenüber deutlich leichter, unmittelbaren Einfluss auszuüben.

Und der Vorgang lief dabei so ab: Zunächst deklarierte sich die Gemeinschaft selbst als „Traditionelle Geraizeiro-Gemeinschaft“. In zwei Versammlungen wurde eine siebenseitige Deklaration verfasst, die Geschichte, kulturelle Ausdrucksweisen, Ökonomien und andere spezifische Traditionen benannte. Diese Selbsterklärungen sind für traditionelle Gemeinschaften im Rechtssystem Brasiliens nicht direkt vorgeschrieben, erlangen aber einen offiziellen Status, da sie beim Amtsgericht registriert sowie an staatliche Behörden und politische Institutionen verschickt werden. Dieser Prozess erfolgte von Oktober bis Dezember 2013. Gleichzeitig wurde begonnen, einen Gesetzestext für die Ausweisung des Territoriums zu formulieren und das Territorium wurde mit GPS vermessen und kartographiert. Als schwierig erwies sich dabei, das Verhältnis zwischen privatem Eigentum und gemeinschaftlichen Besitz zu definieren, was aber nach intensiven Diskussionen bis April gelang. Der ursprüngliche Plan, das Gesetz über ein Volksbegehren in das Parlament einzubringen, wurde aufgegeben, da sich deutliche Sympathien bei Abgeordneten fanden, das Gesetz auf üblichem parlamentarischen Weg zu behandeln. Zunächst aber wurde die Verabschiedung durch formale Einsprüche verhindert. Im Dezember 2014 kam das Gesetz mit einigen Änderungen jedoch schließlich zur Abstimmung. In und vor dem Parlament versammelten sich während der entscheidenden Abstimmung etwa 1.000 Menschen, um für die Annahme des Gesetzes zu demonstrieren. Das Parlament stimmte bei nur zwei Gegenstimmen für das Gesetz.

Der Präfekt legte danach, auf Empfehlung der örtlichen Staatsanwaltschaft, allerdings für einige Paragraphen Veto ein, mit der Begründung des Eingriffs in das Haushaltsrecht sowie der kommunalen Kompetenzüberschreitung. Dies ist nach Einschätzung von Rechtsanwält*innen der sozialen Bewegungen aber eher politisch als juristisch begründet. Verhandlungen über die Einsprüche laufen derzeit zwischen Gemeinschaft, Landarbeiter*innengewerkschaft, Parlament und Präfekt. Sicher scheint inzwischen zu sein, dass im Februar dieses Jahres ein munizipales Gesetz verabschiedet wird, das allerdings nicht alle ursprünglichen territorialen Garantien und Forderungen der Gemeinschaft erfüllen wird. Die Landarbeiter*innengewerkschaft von Rio Pardo de Minas äußerte darüber zwar ihr Bedauern, bewertete das Ganze jedoch als wichtigen Schritt. Denn erstmals wurde die munizipale Ebene für die Ausweisung von gemeinschaftlichen Territorien entdeckt. „Zweifellos hat die Gesetzesinitiative etwas bewirkt“, meint Moises Oliveira, Sekretär der Landarbeiter*innengewerkschaft von Rio Pardo de Minas. Und es bewegt sich was in der Gemeinde. „Es gibt im Munizip schon fünf Gemeinschaften, die ein ähnliches Gesetz für ihre Gemeinschaften wollen.“

Für Sobrado ist dieses Gesetz von besonderem Nutzen, seine Bedeutung kann aber weit über die Gemeinschaft hinausreichen, da es für andere Gemeinschaften im Munizip, für den Bundesstaat und möglicherweise für ganz Brasilien Präzedenzcharakter hat. Ob dies aber gelingen wird, hängt wesentlich von der Mobilisierungsfähigkeit von Landarbeiter*innengewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen ab, da ohne gesellschaftlichen Druck territoriale Gesetze in Brasilien bisher noch nie umgesetzt werden konnten. Als Mittel, den Druck zu erhöhen, empfiehlt der Rechtsanwalt des CAA, Dr. André Alves, die Rückkehr zur ursprünglichen Idee, das Gesetz durch Volksbegehren einzubringen. Der politische Druck muss von der Basis aufrecht gehalten und verstärkt werden.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren