Kolumbien | Nummer 286 - April 1998

Die etwas andere Geschichte der Guerillas in Kolumbien

Entstehung und Entwicklung einer mißverstandenen Bewegung

Während sich die Schlagkraft der kolumbianischen Guerilla inzwischen herumgesprochen haben dürfte, ist über ihre politischen Ziele weiterhin wenig bekannt. FARC und ELN sind weder – wie so oft zu lesen ist – Finanzunternehmen noch Drogenkartelle; sie gehören vielmehr zu den wenigen übriggebliebenen sozialistischen Organisationen auf der Welt, die über eine beachtliche soziale Verankerung verfügen.

Raúl Zelik

Anfang März bewiesen die kolumbianischen Aufständischen wieder einmal Stärke. Ihnen gelang es nicht nur, trotz einer noch nie dagewesenen Militarisierung, die Parlamentswahlen in vielen Regionen zu sabotieren, die FARC fügten der Armee im Süden auch noch die bisher schwerste Niederlage in der kolumbianischen Geschichte zu. Eine ganze 120-köpfige Eliteeinheit von Berufssoldaten wurde im Caquetá aufgerieben. Die Reaktionen von Regierung und Armeespitze waren dementsprechend nervös. Mehrere tausend Soldaten wurden zusätzlich in die Region verlegt, die von der Regierung offensichtlich nicht einmal mehr mit Hilfe von Großoperationen unter Kontrolle zu bringen ist.

Die Wurzeln der bewaffneten Bewegung

Schon über die Entstehung der FARC und der ELN kursieren oft falsche Vorstellungen. Im Gegensatz zu den meisten in den 60er Jahren gegründeten bewaffneten Gruppen bauten die beiden Organisationen nicht vorrangig auf dem nach 1959 von Kuba ausgehenden Fokismus, sondern auf der 200jährigen Geschichte von Bauernaufständen auf, die seit 1792 Kolumbien in regelmäßigen Abständen erschütterten. Wer García Márquez’ „100 Jahre Einsamkeit“ gelesen hat, weiß von den zahllosen Bemühungen des Generals Aureliano Buendía, der sich 17 Mal erhob und immer wieder scheiterte. Diese Aufstände werden, wie auch der Bürgerkrieg 1948, oft als liberal-konservative Konflikte interpretiert. Die kritische Sozialforschung hat sich dagegen immer verwehrt: So wie auch Aureliano Buendía (eine trotz „magischer“ Verfremdung recht reale Person) kämpften die Aufständischen des 19. und 20. Jahrhunderts zwar unter dem Banner der liberalen Partei, aber sie waren keine Parteigänger.
Ihre Rebellion richtete sich vielmehr allgemein gegen die oligarchische Land- und Machtkonzentration. Die Tatsache, daß ihr Widerstand fast immer bewaffnet war, hatte damit zu tun, daß der soziale und politische Protest von der Oberschicht eigentlich immer mit Waffengewalt beantwortet wurde. Obwohl es seit der Unabhängigkeit nur zwei Militärputsche in Kolumbien gab, wurde die Opposition immer in die Illegalität gedrängt.

Die Geschichte der blutigen Massaker

Der erste große Einschnitt im 20. Jahrhundert war das Massaker in den Bananenplantagen 1928 (auch in „Hundert Jahre Einsamkeit“ nachzulesen). Die gesamten 20er Jahre waren von einer Aufbruchsstimmung geprägt, wobei sich die Opposition – neu entstandene Gewerkschaften, Indígena-Gruppen, Frauenbewegung und SozialistInnen – unter dem Dach des Partido Socialista Revolucionario versammelte. Eine interessante Organisation, denn die PSR nahm als „Bewegungspartei“ viel von dem vorweg, was Jahrzehnte später, zum Beispiel in den Diskussionen um die brasilianische PT, wieder eine Rolle spielen sollte.
1928 erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt. Die Streiks griffen wie ein Flächenbrand um sich, und auch auf den Plantagen der United Fruit Company bei Ciénaga an der Karibikküste kam es zum Aufstand. In der Nacht zum 6.Dezember massakrierte die Armee 2000 auf dem Bahnhof friedlich versammelte streikende Familien: Die Toten wurden einfach ins Meer geworfen, die überlebenden Anführer der Bewegung im ganzen Land zu langen Haftstrafen verurteilt. Damit endete die erste sozialrevolutionäre Bewegung des 20. Jahrhunderts.
1948 kam es zum zweiten blutigen Höhepunkt. Am 9. April ließ die konservative Oligarchie den linkspopulistischen Sozialreformer Jorge Eliécer Gaitán, der als Kandidat der Liberalen beste Chancen besaß, neuer Präsident zu werden, in Bogotá ermorden. Die Hauptstadt erhob sich, und im ganzen Land bewaffnete sich die Opposition. Der darauffolgende Bürgerkrieg von 1948-53, der als Violencia in die Geschichte einging, mündete in ein Gemetzel unter der Zivilbevölkerung und kostete rund 250.000 Menschen das Leben. Das Ende des Krieges ist charakteristisch für die Bewältigung sozialer Konflikte in Kolumbien: Die Parteiführungen von Liberalen und Konservativen handelten eine liberale Teilhabe an der Macht aus, die Anführer der bewaffneten Gruppen wurden nach ihrer Demobilisierung einfach ermordet. Somit wurde auch in den 50er Jahren die Erkenntnis bestätigt, daß man mit der kolumbianischen Oberschicht nicht verhandeln kann.
Eine Reihe der in der Violencia entstandenen Bauerngruppen, vor allem solche, die politisch von der KP beeinflußt worden waren, verweigerten sich jedoch nach 1953 der Demobilisierung. Diese Gruppen strebten nicht nach einer Machtübernahme, sie waren Selbstschutzmechanismen der ländlichen Bevölkerung und Ausdruck bäuerlicher Selbstverwaltung.
Auf diese Weise bestanden Anfang der 60er Jahre mehrere Repúblicas Independientes, die ihre Autonomie gegenüber dem Zentralstaat durchsetzten . Die wichtigste von ihnen, die im Zentrum des Landes gelegene „Republik von Marquetalia“, wurde 1964 von der Armee brutal zerschlagen, worauf sich verschiedene Selbstverteidigungsgruppen zu den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) zusammenschlossen. Die FARC waren damit alles andere als eine revolutionäre Kadertruppe, im Prinzip agierte sie bis 1990 eher defensiv als militärischer Arm der KP.
Etwas anders gelagert ist der Fall des Ejército de Liberación Nacional (ELN), das ebenfalls 1964 entstand. Obwohl die Organisation von in Kuba ausgebildeten Studenten gegründet wurde, hat auch sie in vieler Hinsicht ihre Wurzeln in den Bauernrevolten der Violencia. Viele combatientes der ersten Generation waren Veteranen der liberalen Guerilla von 1948-53 oder nahe Verwandte von diesen. Wenn die ELN trotz schwerer Niederlagen 34 Jahre überlebte, liegt das zum einen an der hohen moralischen Integrität ihrer comandantes – des Bauern Nicolás Bautista und des spanischen Pfarrers Manuel Pérez –, zum anderen aber an der Tatsache, daß sie, wie die FARC, an einen historischen Widerstand anknüpfte, dessen Radikalität sich aus der sozialen Wirklichkeit ableitete.

Verhandlungsprozesse und schmutziger Krieg

In den 70er Jahren erlebte die kolumbianische Linke eine gewaltige Ausdifferenzierung. Im Verlauf dieses Jahrzehnts bildeten sich 18 maoistische Gruppierungen (darunter viele mit bewaffnetem Arm), mehrere trotzkistische Strömungen und sieben größere Guerillas heraus. Ansonsten aber tat sich relativ wenig. Erst der linksnationalistischen M-19, die sich 1973 in Abgrenzung zu den leninistischen Gruppen gegründet hatte, gelang es mit mehreren spektakulären Guerillaaktionen, in den Städten eine neue Phase einzuläuten. 1979 schien die Guerilla auf einmal wieder eine reale Bedrohung für den Staatsapparat zu werden. Präsident Turbay Ayala versuchte die Entwicklung mit Repression aufzuhalten, aber Anti-Terrorgesetze und systematische Folter brachten keine positiven Ergebnisse – im Gegenteil, vor allem die M-19 wuchs weiterhin.
Daraufhin kam es zu einer dramatischen Wende. Der neue Präsident Belisario Betancur (1982-86) erließ eine Generalamnestie und fädelte Friedensverhandlungen ein, die 1984 in einen Waffenstillstand mit FARC, M-19 und EPL (dem Ejército Popular de Liberación) mündeten; die ELN verweigerte sich damals den Gesprächen. Aber erneut wiederholte sich die Geschichte: Die legalisierten UntergrundkämpferInnen wurden zur Zielscheibe des schmutzigen Krieges. Ab 1983 entstanden unter der Schirmherrschaft der Armee im ganzen Land mehr als 150 paramilitärische Gruppen, die die nun offen auftretende Opposition regelrecht ausmerzte. Dörfer wurden überfallen, Gewerkschafter erschossen, zahlreiche Massaker mit bis zu 50 Toten verübt. Der Waffenstillstand zerbrach 1985, der schmutzige Krieg aber ging weiter.
Allein die sozialistische Wahlkoalition UP verlor 2000 AktivistInnen. Insgesamt kalkuliert man, daß bis zu 20.000 Menschen (Bauern, Gewerkschafter, Straßenkinder etc.) jährlich (!) Opfer von „sozialen Säuberungen“ und Paramilitarismus sind. Das ist weitaus mehr als in Argentinien unter der Militärdiktatur.
Dennoch kam es wenig später erneut zu sogenannten Friedensverhandlungen. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten und interne Krisen hatten die Linke schwer getroffen. Die M-19 war zu einer kleinen, nur noch 300 KämpferInnen zählenden Gruppe zusammengeschrumpft, und die sich am albanischen Sozialismus orientierende (sic!) EPL verfiel in tiefe Selbstzweifel. Die Folge war die bedingungslose Demobilisierung der beiden Organisationen 1990-92. Die höheren Kader integrierten sich in den Staatsapparat, die combatientes mußten sich alleine durchschlagen, zu sozialen Veränderungen kam es nicht. Letztendlich zahlte sich das Abkommen jedoch nicht einmal für alle Guerilla-Führer aus. Der Präsidentschaftskandidat der demobilisierten M-19, Carlos Pizarro, wurde erschossen, die M-19 verwandelte sich in eine kleine politische Partei ohne linke Ansprüche.

Modernisierungsprozeß und neue Konflikte

Es blieben also nur FARC und ELN (sowie eine kleine Abspaltung des EPL) übrig, die von der Krise der Linken auf sehr widersprüchliche Weise getroffen wurden. Zum einen erfuhren sie politisch zweifellos eine Schwächung, denn die Regierung Gaviria nutzte die Demobilisierung von M-19 und EPL zu einer Modernisierung des Systems. Mit der Verfassunggebenden Versammlung 1990/91 schien sie die seit langem schwelende politische Krise endlich überwinden zu können.
Noch fataler jedoch als diese Verfassungsreform war für FARC und ELN der Zerfall der legalen Opposition. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus und der sandinistischen Wahlniederlage machte sich Orientierungslosigkeit und Skepsis breit; zudem hatte der schmutzige Krieg die Linke völlig ausgeblutet. So lösten sich die politischen Massenorganisationen UP, A Luchar und Frente Popular auf, die Gewerkschaften verloren an Bedeutung, die Koordination der StadtteilbewohnerInnen CNMC und der BäuerInnen-Verband ANUC waren nicht mehr in der Lage, die Bevölkerung zu mobilisieren.
Damit erschien die Guerilla auf einmal als rein militärisches Projekt – eine verständlicherweise wenig überzeugende Option. Interessanterweise gingen die politischen Probleme von FARC und ELN mit einem beachtlichen personellen und militärischen Wachstum einher. Im Land existiert heute die absurde Situation, daß politisierte Jugendliche eher in die Berge gehen, als einer Gewerkschaft beizutreten – das Risiko ermordet zu werden, ist in der Guerilla geringer. So zählen die beiden Organisationen heute zusammen über 150 Fronten oder Frontprojekte und sind nach Regierungsangaben in fast 600 der 1000 Munizipien präsent. In einem allerdings gering bevölkerten Drittel des Landes üben sie die Funktion einer klandestinen Gegen-Administration aus. Sie sind in der Lage, das Land wochenlang mit ihren Aktionen lahmzulegen und sind in den unmittelbaren Vororten Bogotás und Medellín aktiv.

Selbsterhaltung, Friedensprozeß oder Revolution?

Es klingt unzeitgemäß, aber FARC und ELN streben einen politischen Umsturz an – und dies in gewisser Weise sogar kompromißloser als früher. Seit der strategischen Wende der FARC 1991/92, die bis dahin mehr oder weniger als Instrument der KP agierte und auf eine Verhandlungslösung abzielte, operiert die Guerilla immer offensiver. Daß es dazu kam, hat mit zwei Ereignissen zu tun: Zum einen starb 1991 der comandante Jacobo Arenas, der als der Mann der KP in den FARC galt (an altersbedingten Herzproblemen – auch eine „macondianische“ Biographie); zum anderen jedoch beging die Regierung Gaviria den idiotischen Fehler, ausgerechnet während einer Dialogrunde in Mexiko das mehr oder weniger offizielle Hauptquartier der FARC in La Uribe/ Meta anzugreifen. Die großangelegte Operation war wie ein Tritt in den Ameisenhaufen. Die FARC-comandantes teilten sich in dezentrale Gruppen auf und verlegten die in La Uribe konzentrierten Fronten in die Nähe der Hauptstadt. Damit begann das strategische Projekt „Einkreisung Bogotás“. Seit 1992 ist es keine Seltenheit mehr, daß die FARC 20 bis 30 Kilometer vor der Hauptstadt gelegene Städte besetzt.
Ganz offensichtlich schenkt die FARC den Wahl- und Verhandlungsstrategien keine Bedeutung für eine Konfliktlösung mehr. Das Bündnis mit der KP und UP ist aufgekündigt; Verhandlungen mit der Regierung wollen die FARC wie auch die ELN nur noch über punktuelle Fragen (wie die Nationalisierung der Bodenschätze), aber nicht mehr über eine generelle Demobilisierung führen. Außerdem arbeitet die FARC am Aufbau einer klandestinen Massenbewegung. Das Movimiento Político Clandestino Bolivariano soll dazu beitragen, den sozialen Protest der Bevölkerung auf die Straße zu bringen, ohne sich mit wahltaktischen Fragen (wie im Fall der UP) selbst zu behindern.
Insofern ist in Kolumbien eine Situation eingetreten, die in ihrer Brisanz nur mit der Mexikos zu vergleichen ist. Die Guerillaorganisationen, die an einem Sozialismus mit Poder Popular festhalten, die neoliberale Wirtschaftspolitik sabotieren und die Erdöl- und Kohle-Multis aus dem Land werfen wollen, befinden sich in einer paradoxen Situation. Zum einen wissen sie, daß der kolumbianische Konflikt keine militärische Lösung zuläßt; zum anderen ist ihnen aber auch klar, daß die staatliche Repression der politischen und sozialen Opposition keinerlei Spielräume bietet. Der Paramilitarismus breitet sich rasant aus. Es gibt kaum noch Gegenden, in der die parastaatlichen Terrorgruppen nicht aktiv wären. In einem Drittel des Landes, darunter die strategisch und ökonomisch wichtigen Regionen Urabá (Bananenexport, Kanaloption) und Magdalena Medio (Erdöl, Viehzucht) üben sie gemeinsam mit der Armee eine brutale Kontrolle aus. Bereits 1,8 Millionen KolumbianerInnen sind vor ihnen und dem Krieg in die Städte geflohen. Was droht, ist ein Bürgerkrieg von den Ausmaßen der Violencia.
In diesem Zusammenhang ist das Interesse der Guerilla zu sehen, über konkrete Regelungen mit der Regierung zu verhandeln. Es geht nicht um eine Demobiliserung, sondern um punktuelle Vereinbarungen: Einhaltung der Genfer Menschenrechtskonventionen, Schutz der Zivilbevölkerung und der legalen Opposition, Demobilisierung der Paramilitärs, Nationalisierung der Bodenschätze, Stop der Privatisierungen und Wiedereinführung von Arbeits- und Kündigungsschutzgesetzen.

Der schlechte Ruf der Guerilla

Politsch sind ELN und FARC durchaus auf der Höhe der Zeit – zumindest nicht weniger als die Linke anderswo auf der Welt. Sie suchen durchaus, wenn auch manchmal etwas unbeholfen, die Kommunikation mit dem Rest der Gesellschaft, fördern Selbstverwaltungsstrukturen und begreifen anders als die superrevolutionäre Linke der 70er Jahre die Notwendigkeit sofortiger Reformen. Wenn sie dennoch einen so schlechten Ruf haben („Narcoguerilla“, „stalinistisch“, „kriminell“ etc.), hat das wenig mit eigenen Fehlern zu tun. Natürlich gibt es in Kolumbien (wie in der FMLN und FSLN) Militarismus und Autoritarismus von links. Das ist anzugreifen, aber bei einer Militarisierung des Konflikts, wie er von der kolumbianischen Oberschicht in den letzten 50 Jahren betrieben wurde, nicht besonders verwunderlich. Mit den Organisationsführungen und -positionen hat das auf jeden Fall wenig zu tun. In der ELN forciert man schon seit 15 Jahren die innerorganisatorische Demokratie, die für eine Armee (mit Ausnahme der EZLN) wohl ziemlich einzigartig sein dürfte.
Viel wesentlicher für das schlechte Bild ist die permanente Desinformationskampagne in den Medien: Seit 1985 gibt es praktisch kein Massaker mehr, das nicht zunächst den Aufständischen in die Schuhe geschoben wird, und wenn, wie beim Überfall auf Segovia, dem Mord an zehn Justizbeamten in La Rochela oder dem Massaker an den Bananenarbeitern in Urabá, zehn Jahre später die Beteiligung von hochrangigen Militärs wie dem General Farouk Yanine Díaz nachgewiesen wird, dann interessiert das natürlich niemanden mehr.
Ein weiteres Mittel ist die Strategie, die Aufständischen in den internationalen Medien als „kriminelle Narco-Guerilla“ zu stigmatisieren. Dabei werden vor allem Entführungen und Verbindungen zum Drogenhandel aufgeführt. Ein genauerer Blick macht jedoch auch dieses Argument zunichte: Was die Entführungen von ausländischen Technikern und Großgrundbesitzern angeht, bewegen sich diese auf der gleichen Ebene wie Haftstrafen für Steuerbetrüger in einem bürgerlichen Rechtsstaat, denn die Guerilla übt in vielen Regionen de facto Regierungsfunktionen aus, und treibt daher Steuern ein. Man muß begreifen, daß es sich bei der kolumbianischen Guerilla nicht um eine privat agierende Minitruppe, sondern um eine aufständische Gegenautorität handelt. Wer sich über diese Entführungen empört, darf über staatliche Gefängnisse nicht schweigen.
Und auch hinsichtlich ihrer Drogenpolitik hat sich die Guerilla nicht viel vorzuwerfen: die ELN lehnt den Coca-Anbau völlig ab und hat in Bolívar dieses Jahr ein ehrgeiziges Projekt der Substitution bis zum Jahre 2003 begonnen. Die FARC hingegen setzen die Abnahmepreise fest und kassieren von den Einkäufern Steuern. Das hat zwar die Beziehungen mit der ELN bis an den Rand eines offenen Bruchs belastet, aber den Bauern im Süden des Landes ein Mindesteinkommen garantiert. Verglichen mit der Verwicklung der Samper-Administration in die Geschäfte des Cali-Kartells ist diese Politik sowieso nur ein lächerliches Vergehen. Es ist im übrigen ganz erhellend zu wissen, daß der Begriff der „Narco-Guerilla“ in den 80ern vom damaligen US-Botschafter Lewis Tambs kreiert wurde, dem wenig später selbst Verwicklungen mit dem Drogenhandel nachgesagt wurden.
So gesehen ist das Image der kolumbianischen Aufstandsbewegung eindeutig erneuerungsbedürftig. Während die kolumbianische Oberschicht seit nun 16 Jahren ungestraft die Landbevölkerung abschlachten läßt, schreiben sich JournalistInnen, die außer den 4-Sterne-Hotels von Bogotá und Cartagena nicht viel von Kolumbien gesehen haben, die Finger über das lukrative Geschäft der Narco-Guerilla wund. So wie es in den 80ern falsch war, FSLN und FMLN unkritisch abzufeiern, ist es heute unmöglich, sich eine Emanzipation Kolumbiens ohne die Guerilla vorzustellen. Man muß nicht gleich in ehrfurchtsvolle Bewunderung verfallen, um die aufständische Bewegung politisch ernstnehmen zu können. Und in diesem Punkt scheint, um mit einer kleinen Gehässigkeit zu schließen, Geheimdienstminister Schmidbauer (aus was für Motiven auch immer) weiter zu sein als so manche/r Lateinamerika-Bewegte.

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