Nicaragua | Nummer 336 - Juni 2002

„Die FSLN ist eine opportunistische Partei“

Der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez über sein neues Buch, die nicaraguanische Demokratie und den Ex-Präsidenten Alemán als Romanhelden

Sergio Ramirez jüngster Roman thematisiert erneut die Geschichte seines Heimatlandes, diesmal anhand einer vorrevolutionären Anekdote. Von der heutigen FSLN ist der Schriftsteller enttäuscht, weil sie im Gegensatz zu Präsident Bolaños keinen Anstoß zu moralischer Erneuerung geben konnte.

Ralf Leonhard

In letzter Zeit hat der historische Roman in Lateinamerika eine Wiedergeburt erlebt. „Das Fest des Ziegenbocks“ von Mario Vargas Llosa oder auch Ihr Roman „Margarita, está linda la mar“ sind Beispiele dafür. Werden solche Bücher auch mit dem Hintergedanken geschrieben, die Welt an die Existenz dieser kleinen Länder zu erinnern?

In einem gewissen Maß haften diese Länder im Gedächtnis der Welt durch ihre historische Abnormität. Wenn ich ein dänischer oder norwegischer Schriftsteller wäre, würde es mir wahrscheinlich schwer fallen, Themen zu finden, denn für sie verläuft das Leben ohne große Ereignisse. In diesen Ländern passiert wenig, die öffentliche Geschichte spielt keine große Rolle. Wenn in Finnland oder Dänemark ein Minister ein paar Bögen Papier aus dem Büro mitnimmt, wird er abgesetzt. Hier würde das nicht einmal in der Zeitung stehen. Bei uns müssen die Verbrechen ein Ausmaß haben wie jene von Arnoldo Alemán, der sich eine ganze Telefongesellschaft unter den Nagel gerissen hat, damit die öffentliche Geschichte im Stande ist, die Fiktion zu beeinflussen. In Nicaragua oder anderen Ländern Lateinamerikas leben wir Schriftsteller von der öffentlichen Geschichte. Selbst wenn man eine private Geschichte von einem Liebespaar in einem Zimmer erzählen will, wird durch das Fenster immer noch der Lärm der Straße dringen. Irgend etwas wird draußen passieren, das diese Geschichte beeinflusst. Die öffentliche Geschichte verläuft in abrupten Sprüngen, nicht nur in der Politik mit Revolutionen und Kriegen, auch in der Natur: Hurrikane, Erdbeben, Überschwemmungen. Diktaturen sind natürlich solche Katastrophen, die das Leben dramatisch beeinflussen. Darin besteht der Kern der historischen Romane.

Sie haben gerade ihren jüngssten Roman fertig geschrieben. Wovon handelt er?

Es ist wieder eine Reise in die nicaraguanische Geschichte, so wie „Margarita, está linda la mar“. Diesmal geht es um den Fall eines prominenten Somozisten (Cornelio Hück), der sich mit Somoza überworfen hat und wenige Wochen vor dem Sieg der Revolution auf einer Finca am Meer in der Nähe von Tola festgenommen wird. Der Festnahme geht ein Gefecht mit den Getreuen des Somozisten voraus. Er wird erwischt, während er ein Schiff erwartet, ein Fischerboot, das ihn wegbringen soll. Das ist die ganze Geschichte. Ich baue sie auf einer historischen Anekdote auf und erzähle von einer Person, die ihre Erinnerungen an die Zeit des Somozismus Revue passieren lässt und uns ein Bild vom Nicaragua der letzten Somoza Jahre vermittelt. Der Roman heißt: „Sombras, nada más.“

Der Volksaufstand und der sandinistische Kampf kommen nicht vor?

Nur am Rande. Es ist nicht das große Kriegsepos, sondern eine Geschichte aus dem Mikrokosmos. Also beschreibe ich nicht die Kämpfe um die Stadt Rivas. Die Guerilleros, die in dem kleinen Nest die Macht übernehmen, sind Leute von dort, die dann über den Gefangenen zu Gericht sitzen.

Basiert der Roman auf Interviews mit Zeitzeugen?

Ich machte einige Interviews in Tola, Belén, El Astillero und mit Leuten, die an der Einnahme der Finca beteiligt waren. Ich habe viele Zeugen gefunden. Aber die Interviews habe ich erst zum Schluss gemacht. Meine Methode war die Arbeit mit der Erinnerung. Denn seinerzeit hat diese Geschichte, dass da jemand gefangen genommen und unter eigenartigen Umständen, die dem geringen Bildungsniveau der Leute entsprechen, gerichtet wird, mein Interesse geweckt. Am Ende habe ich dann meinem Gedächtnis nachgeholfen und Dinge korrigiert, die ich falsch in Erinnerung hatte, um die Glaubwürdigkeit meiner Erzählung herzustellen.

Können Sie sich Arnoldo Alemán als Held eines Romans vorstellen?

Ohne Zweifel. Er hat die Persönlichkeit einer Vogelscheuche, wie es der spanische Dichter Valle-Inclán ausdrücken würde. Er ist unersättlich in seinem Geldhunger. Es ist abnormal, dass jemand in so kurzer Zeit so viel Geld anhäufen will. Die Familie Somoza brauchte ein halbes Jahrhundert, um ein Vermögen zu akkumulieren. Alemán hat es in fünf Jahren geschafft. Und er raubt den Fiskus nicht nach der Art der modernen Banditen mit geheimen Finanztransaktionen über das Internet aus. Alemán ist ein Klassiker, wie wir sie im vergangenen Jahrhundert kennen lernten. Wenn er eine Finca kauft, lässt er sich vom Bauministerium die Straße pflastern. Die Wasserwerke müssen Trinkwasser und die Rohre für die künstliche Beregnung auf Staatskosten zur Verfügung stellen. Es handelt sich um Missbrauch öffentlicher Gelder ohne das geringste Bemühen, diesen zu verschleiern. Das ist eine augenfällige historische Abnormität.

Wie kann man dann erklären, dass dasselbe Volk, das vor 23 Jahren Somoza verjagt hat, einen solchen Präsidenten erträgt und dann noch dessen Vize zum Nachfolger wählt?

Das Land befindet sich noch im Trauma des Befreiungskampfes gegen Somoza und des Krieges gegen die Contra, bei denen insgesamt circa 100.000 Menschen umgekommen sind. Es gab viel Zerstörung und Trauer. Wir sind ein Volk, das die ganze Geschichte hindurch immer große Emotionen durchlebt hat. Es ist hier kaum vorstellbar, dass die Menschen zu einer friedlichen Demonstration auf die Straße gehen. Wenn sie demonstrieren, dann wollen sie mit einer Situation ein für alle Mal Schluss machen, auch wenn Gewalt angewandt werden muss. Wenn sich die Leute also so zurückhalten, dann deswegen, weil sie Angst vor weiterer Gewalt haben. Ich glaube aber, dass im politischen Klima des Landes eine Veränderung im Gange ist. Die Institutionen beginnen zu funktionieren, Richter versuchen Verbrecher hinter Gitter zu bringen und ersuchen die Nationalversammlung ihnen die parlamentarische Immunität zu entziehen. Es gibt moralische Unterstützung für die Aktionen des neuen Präsidenten, auch wenn er Alemáns Vizepräsident gewesen ist. Denn diesem Mann ist es zu verdanken, dass sich das politische Klima verbessert. Er bemüht sich darum, die Justiz funktionieren zu lassen, auch wenn er sich damit einen Konflikt mit der Liberalen Partei einhandelt. Das geht sogar so weit, dass die Parlamentsfraktion der Regierungspartei in die Opposition zu gehen droht, was ich sehr unterhaltsam finde.

Kann man sagen, dass die Rechtsstaatlichkeit zunimmt, obwohl es im demokratischen Gefüge Rückschritte gegeben hat?

Das Funktionieren des Rechtsstaates hat nichts mit den Ideologien zu tun. Enrique Bolaños ist ein Mann der Rechten, aber einer, der seinen Amtseid ernst nimmt. Er will als aufrechter Mann in die Geschichte eingehen, als jemand, der nicht stiehlt und der im Stande ist, die Verbrecher um jeden politischen Preis ins Gefängnis zu bringen. Ich hätte es gerne gesehen, wenn so eine moralische Erneuerung von der Linken ausgegangen wäre. Aber die FSLN ist weit davon entfernt, die ethischen Standards zu verbessern. Ich sehe sie hin- und herschwanken zwischen der Allianz mit Alemán und, wenn es ins Konzept passt, auch mit Bolaños. Aber dahinter steckt keine ethische Haltung. Der Verlust der ethischen Werte ist das Schlimmste, was einem Land passieren kann. Eine kleine Richterin, Gertrudis Arias, hat gegen Alemán ein Strafverfahren eröffnet und ihn vor Gericht zitiert. So etwas wollen die Leute sehen, denn sie fühlen sich wehrlos, wenn sie in einem unmoralischen Klima leben müssen.

Wäre ein Präsident Daniel Ortega Ihrer Meinung nach im Stande gewesen, die katholische Hierarchie und Kardinal Obando y Bravo so in die Schranken zu weisen, wie es Bolaños getan hat?

Er hätte das nie getan. Für mich, der ich aus der Sandinistischen Bewegung komme, ist das sehr schmerzhaft. Die FSLN ist eine opportunistische Partei geworden. Daniel Ortega hätte alles unternommen, um die Gunst des Kardinals zu bekommen. Vor kurzem wurde er im Palast, den sich die Familie Pellas mitten in Managua gebaut hat, vorstellig. Er bot Carlos Pellas, dem Patriarchen der schwerreichen Unternehmerfamilie an, in der Nationalversammlung gegen ein Projekt von Arnoldo Alemán zu stimmen, das Zuckerimporte nach Nicaragua vom Zoll befreien würde. Ich glaube, dieses Vorhaben von Alemán ist grober Unfug, denn kleine Länder brauchen manchmal einen gewissen Protektionismus. Aber darum geht es mir nicht. Ich beziehe mich auf die dienstfertige Art von Daniel Ortega, sich den großen Oligarchen anzudienen. So verdient sich die FSLN nie die ethische Qualität eines Bolaños. Ich habe ihn nicht gewählt, vielmehr habe ich zum Wahlboykott aufgerufen, aber wenn mir jemand wie Bolaños nicht nur von moralischer Erneuerung spricht, sondern sie jeden Tag vorlebt, dann verdient er meine Unterstützung.

Erstmals seit Juan Bautista Sacasa in den 30er Jahren regiert wieder die traditionelle Oligarchie. Kann man sagen, dass sich ein historischer Zyklus schließt?

Seit der Präsidentschaft von Violeta Chamorro hat die konservative Oligarchie großen Einfluss, obwohl ihr Kabinett eher aus Technokraten bestand, die ganz bestimmte wirtschaftliche Interessen vertraten. Mit Alemán gab es eine Regierung der Neureichen, die so schnell wie möglich Geld scheffeln wollte. Die Abgeordnete Yamileth Bonilla sagt, die Liberale Partei sei eine Partei der kleinen Leute, während in der Regierung die Oligarchie sitze. Deswegen müsse man die Regierung der Reichen bekämpfen. Es ist sicher eine Regierung, die für die konservativsten Interessen steht. Dass Bolaños als ehrlicher Mann gelten will, steht dazu nicht unbedingt im Widerspruch.

Trotzdem ist Nicaragua mit dieser Regierung wieder zu einem Normalfall in Zentralamerika geworden.

Heutzutage will der IWF ein gutes technokratisches Management. Da muss nicht die traditionelle Oligarchie regieren. Überall regieren Managertypen, die in Yale oder Harvard ausgebildet wurden.

Der IWF und die USA wollen ganz Lateinamerika in eine Freihandelszone verwandeln. Ist Nicaragua gut beraten, da mitzuspielen?

Nicaragua ist ein Land mit einer kleinen und kaputten Wirtschaft. Wir exportieren für 500 Millionen US-Dollar und importieren drei Mal mehr. Unsere Außenverschuldung beträgt 6,7 Milliarden US-Dollar. Eine halbe Million Nicaraguaner ist in Costa Rica, weil es hier keine Arbeit gibt. Dazu kommen noch alle jene, die wegen des Krieges oder der Wirtschaftsmisere in die USA auswanderten. Deswegen sind unsere wichtigste Devisenquelle die Geldüberweisungen der Auswanderer. So ein Land kann es sich nicht leisten zu sagen: Ich kapsele mich ab, ich will keine Freihandelszone. Die einzige Möglichkeit, die Länder wie Nicaragua, Honduras oder El Salvador haben, ist mitzutun und ohne Schwimmweste ins kalte Wasser zu springen. Die großen Wirtschaftsphilosophien sind auf unsere kleinen Länder nicht zugeschnitten. Sie waren es nie und sind es heute noch viel weniger. Diese Länder müssen also bei den Integrationsprojekten versuchen, Vorteile für sich herauszuschlagen.

Interview: Ralf Leonhard

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