Chile | Nummer 273 - März 1997

Die Gegenwart ist virtuell

Verdrängen statt Aufarbeiten – Die Opfer warten weiter

“Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung” waren die Leitworte, unter denen in Chile die Aufarbeitung der 17-jährigen Diktatur unter Augusto Pinochet Ugarte versucht wurde. “Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung” – das sollte auch im Titel der Wahrheitsfindungskommission stehen, die im März 1991 ihren Bericht über Menschenrechtsverletzungen des blutigen Regimes vorlegte. Letztendlich aber zog man es vor, die Forderung nach Gerechtigkeit zu ignorieren. Einen “Beitrag zur Versöhnung aller Chilenen” wolle die achtköpfige Kommission leisten, so der damalige Präsident Patricio Aylwin im Gründungsdekret. Gut sechs Jahre sind seitdem vergangen, doch Chile ist weit davon entfernt, versöhnt zu sein.

Christoph Dowe

Die letzten Jahre vergingen schnell. Aufbaustimmung, Gründungsfieber und der Gedanke an die neuen Chancen prägten den politischen Diskurs. In der Politik ist das Wort “Versöhnung” ein abgenutztes Schlagwort geworden, seitdem sich die Meinung durchgesetzt hat, daß sowohl Wahrheit als auch Gerechtigkeit “im Rahmen des Möglichen” – so die wichtigste Maxime der chilenischen Politik – geschaffen worden seien. Die Diskussion um die demokratische Transformation Chiles wurde seit dem Amtsantritt von Technokraten-Präsident Eduardo Frei 1994 durch eine Debatte um die Konsolidierung und ökonomische Modernisierung abgelöst. Wenig überraschend, daß sich ein Wunschdenken entwickelte, nachdem die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nur noch den Schritt zur Versöhnung benötigte, um abgeschlossen zu werden.
“Die neue Demokratie beginnt ihr Leben als virtuelle Realität. Die Vergangenheit ist nicht zuletzt deshalb schwer bearbeitbar, weil sie zum Teil Gegenwart bleibt” schrieb 1996 der chilenische Psychologe David Becker. Er weiß, wovon er spricht.
Tagtäglich hat er mit den Folgen einer nichtbearbeiteten Vergangenheit zu tun, denn er betreut Folteropfer im Lateinamerikanischen Institut für Menschenrechte und psychische Gesundheit (ILAS) in Santiago. Nicht nur die traumatischen Erlebnisse der Folter machen dabei nach seinen Erfahrungen das Leiden der Opfer aus. Denn die ausbleibende gesellschaftliche Anerkennung des Opferstatus vergrößert den Schmerz. Die krankhaft auf Konsens ausgerichtete Politik der jungen Demokratie hat daran ihren Anteil. “Wie Seismographen”, so Bekker, reagierten die Patienten auf politische Vorkommnisse, etwa, wenn wieder einmal die Straflosigkeit der Folterer durch ein Gericht bestätigt wird. “Zur Zeit haben wir im ILAS mehr Anfragen nach therapeutischer Hilfe als vor fünf Jahren”, resümiert der Psychologe.
Dabei hatte alles vielversprechend begonnen, als im März 1991 der Kommissionsbericht, der nach seinem Vorsitzenden Raúl Rettig auch den Namen “Rettig-Bericht” trägt, vorgelegt wurde. Zum ersten Mal war von einer offiziellen Stelle anerkannt worden, daß während Pinochets Diktatur Menschen verschwanden, ermordet und gefoltert wurden. 2279 Menschen, so der Bericht damals, seien der Gewalt zwischen 1973 und 1990 zum Opfer gefallen. Breit wurde die Studie in der Öffentlichkeit diskutiert, die Zeitungen druckten die 1352 Seiten als Sonderausgabe nach. Die Militärs befanden sich, trotz Drohgebärden und Säbelrasseln, in der Defensive.

Politik: Suche nach Wahrheit

Doch für die neue Regierung war mit dem Bericht offensichtlich jegliche Schuld beglichen. Einen Monat nach der Veröffentlichung wurde der rechtsgerichtete Senator Jaime Guzmán auf offener Straße ermordet,was der Regierung einen willkommenen Anlaß bot, das Thema der Menschenrechte und des Kommissionsberichtes zu begraben. Tatsächlich hatte der Regierungsminister schon Tage vor dem Mord erklärt: “Wir betrachten die institutionelle Debatte als beendet.” Der Rettig-Bericht wurde somit zum ersten Verschwundenen der neuen Regierung.
Der Bericht hinterließ dennoch seine Spuren. In der Politik wurden umstrittene Versuche einer weiteren Wahrheitsfindung gemacht. Tatsächlich versuchte sowohl Präsident Aylwin, als auch sein Nachfolger Eduardo Frei, das Thema der Menschenrechtsverletzungen per Gesetz endgültig aus der Welt zu schaffen. Doch sowohl die Ley Aylwin (1993, LN Nr. 231/232) als auch die Ley Figueroa/Otera (1995, LN Nr. 259) scheiterten im Parlament. Zu deutlich war in den Gesetzesentwürfen, daß alles letztendlich auf die Bestätigung der Straffreiheit der Militärs hinausgelaufen wäre – im Austausch für Informationen über die letzte Ruhestätte der noch immer Verschwundenen. Ein hoher Preis für die Wahrheit.
Die Zahl der Opfer stieg indessen an, denn die Corporación de Reparación y Reconciliación, so hieß die Nachfolgeorganisation der Rettig-Kommission, recherchierte weiter. Im Frühjahr 1995 übergab die Organisation Eduardo Frei eine Liste mit weiteren 899 Fällen von Verschwundenen, was die Zahlen der Rettig-Kommission um fast 40 Prozent nach oben korrigierte. Doch die Liste wurde totgeschwiegen, eine Neuauflage der Debatte um die Menschenrechtsverletzungen ist eindeutig nicht erwünscht. “Ich glaube, diese Liste wird nie veröffentlicht werden”, so eine Mitarbeiterin der Corporación. Die Schließung der Regierungsorganisation ist indes bereits beschlossenen Sache, im Laufe des Jahres 1997 müssen die Schreibtische geräumt werden.
Und auch die Arbeit vieler unabhängiger Menschenrechtsorganisationen steht vor dem Aus, soweit sie nicht schon – wie die Vicaría de la Solidaridad 1992, dichtgemacht haben (LN Nr. 229/230). Noch dieses Jahr wird die chilenische Menschenrechtskommission (CCDH) ihre Arbeit einstellen. Zudem halbierte sich das aus dem Ausland für Nichtregierungsorganisationen gespendete Geld nach der Redemokratisierung innerhalb eines Jahres von 60 auf 30 Millionen US-Dollar. Inzwischen dürfte es noch weniger sein. Von der Regierung ist keine Hilfe zu erwarten. Sie will keine weitere Wahrheitssuche.

Justiz: Suche nach Gerechtigkeit

Bruna Truffa: Diese Wunde, die nie aufhört zu bluten. Acryl, 1989
Juristisch, sagen viele, sei einiges erreicht worden bei der Behandlung des Menschenrechtsthemas. Tatsächlich: materielle Wiedergutmachungsleistungen wurden ausgezahlt, Wiedereingliederungsprogramme für rückkehrende Exilierte aufgestellt, politische Gefangene freigelassen. Aber die Leistungen der Regierung werden von vornherein auf die Dauer von fünf jahren beschränkt. Und auch das Rückkehrbüro (Oficina de retorno) setzte bereits im Sommer 1994 einen Schlußstrich unter seine Arbeit, nachdem von offiziell 250.000 Exilierten rund 40.000 mit ihrer Hilfe zurückgekehrt waren. Doch schon verlassen die ersten Rückkehrer Chile wieder in Richtung ihres früheren Exils, weil sie mit dem Leben in ihrer verändertet Heimat nicht mehr zurechtkommen.
Eine Reform des noch von Pinochet-Getreuen durchsetzten Justizsystems ist nach wie vor überfällig, und so verdient die Rechtsprechung oft nicht einmal ihren Namen. Immerhin 220 Verfahren gegen Menschenrechtsverletzer konnten aufgrund der Informationen der Rettig-Kommission wiederaufgenommenen werden. Einige wenige Folterer wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die prominentesten wie Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein Adjutant Pedro Espinoza können ihre Strafen in einem eigens für sie gebauten Gefängniskomplex in Punta de Peuco bei Santiago absitzen (wobei die Verurteilungen wohl auch auf den außenpolitischen Druck der USA zurückgehen, mit denen man gerade über eine – später gescheiterte – Aufnahme in die NAFTA verhandelte).
Hoffnung für das chilenische Rechtssystem und die Zuerkennung von Gerechtigkeit nährt sich hauptsächlich aus dem erwarteten Generationenwechsel der Richterschaft. Mit Hilfe einer Aufstockung der finanziellen Mittel für die Gerichte schleuste die Regierung Aylwin eine große Anzahl junger Juristen in die Behörden, die dem Rechtsstaatprinzip aufgeschlossenener gegenüberstehen als ihre älteren Kollegen. Doch auch die Besetzung des Obersten Gerichtshofes, Hort der Pinochet-hörigen Richterschaft, wird eine Veränderung erfahren: Laut Verfassung muß die Hälfte der noch von Pinochet eingesetzte Robenträger im März 1997 ausgetauscht werden. Aber die von Pinochet ernannten acht Spezialsenatoren werden bis Dezember im Parlament ihre Arbeit weiter verrichten, und ob der greise Obermilitär wie vorgesehen im März 1998 sein Amt niederlegen wird, steht noch in den Sternen.
So ist Skepsis weiterhin angebracht: Die Vereinten Nationen berichten in einem Chile-Bericht im Frühjahr 1995 von 210 Folterfällen durch chilenische Sicherheitsbeamte seit 1990. Die Methoden unterscheiden sich nicht von denen der Diktaturzeit: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Scheinhinrichtungen, Schlaf- und Nahrungsmittelentzug sowie Beinahe-Ersticken. Am Abend des 23. Jahrestages des Putsches vom 11. September 1973 kam es zu Ausschreitungen, in deren Verlauf mindestens 38 Menschen verletzt wurden und 222 Anti-Pinochet-Demonstranten festgenommen wurden. Und auch der Anfang Februar 1997 veröffentlichte jährliche Menschenrechtsbericht des US-State-Departments greift neue Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen auf. So sollen innerhalb des letzten Jahres mindestens drei Menschen wegen unangebrachter Gewalt der Polizei gestorben seien. Die Haftbedingungen sind nach wie vor schlecht. Die Regierung wiegelt nach wie vor ab, spielt sogar ein wenig beleidigt und spricht von “bedauerlichen Einzelfällen”, die allen Polizeiorganisationen der Welt unterkämen. Die rechten Parteien – bis hin zu den an der Regierung beteiligten Sozialisten – sekundieren. Gleichzeitig ist wieder einmal eine heftige Debatte um die innere Sicherheit und den Linksterrorismus losgetreten worden, nachdem Ende Dezember 1996 die vier mutmaßlichen Mörder Jaime Guzmáns mit Hubschrauberhilfe spektakulär aus ihrem Gefängnis entwischen konnten.

Gesellschaft: Suche nach Versöhnung

Wohl kein Wort ist in der chilenischen Rhetorik so vergewaltigt worden wie das der “Versöhnung”. Der Ursprung des Wortes ist religiöser Natur. Die Übertragung dieses auf das Individuum ausgerichteten Konzeptes auf Politik und Gesellschaft wirft viele Schwierigkeiten und Fragen auf, denn was “Versöhnung” bedeutet, bleibt angenehm nebulös. Und so wird “Versöhnung” in Chile zu einem Schutzbegriff für eine ausbleibende Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es wundert nicht, daß oft das Wort “verzeihen” unmerklich an Stelle von “versöhnen” tritt: Verzeihen kann man allein, Versöhnung findet zwischeneinander statt. Die Opfer sind einsam wie nie, und niemand will sich mit ihnen versöhnen, sie sollen verzeihen.
Das deutlichste Symbol einer versuchten Versöhnung ist nach wie vor der Rettig-Bericht. Der fünfjährige Jahrestag der Veröffentlichung im März 1996 war allerdings keiner der großen Tageszeitungen auch nur eine Zeile wert. Sicher, ein Monument mit den eingravierten Namen der Verschwundenen wurde auf dem Zentralfriedhof errichtet. Nicht vergessen ist allerdings, daß das Projekt immer wieder an angeblichen Geldproblemen der Regierung zu scheitern drohte. Zur Einweihung 1993 fand sich ein einziger Regierungsvertreter auf dem Friedhof ein.
Das Desinteresse der Öffentlichkeit an den Opfern ist eindeutig. Bücher über die Diktatur verkaufen sich schlecht, soweit sie überhaupt geschrieben werden. Regimekritische Zeitschriften und Zeitungen wie Cauce, Fortin Diario, Análisis, Apsis, El Siglo oder Punto Final, auf die sich zu Plebiszitzeiten alle Hoffnungen einer unabhängigien Presse richteten, erscheinen gar nicht mehr oder im besten Falle seltener. Auch die Sozialwissenschaften sind in einer mißlichen Lage, und das nicht nur, weil sie in der privatisierten Universitätslandschaft nicht mehr nachgefragt werden. Der chilenische Philosoph Jorge Vergara stellt fest: “Die Produktion von vielen Zentren sozialwissenschaftlicher Forschung wird zwar publiziert, aber kaum gelesen. Die Geschichtsinterpretation der Militärs, die besagt, daß der Putsch durch das Chaos unter Allende zwingend notwendig wurde, setzt sich so unmerklich durch und bleibt weithin unwidersprochen. Pinochet kann in einem Interview auch noch im September 1996 behaupten: “Ich war kein Diktator.”
Die allgemeine geschichtliche Apathie zeigt Wirkung. Immer mehr Chilenen und Chileninnen wollen die schmerzlichen Abschnitte der Vergangenheit endgültig hinter sich lassen. Während sich in einer Umfrage 1992 nur 13 Prozent der Befragten dafür aussprachen, die Diskussion um die Menschenrechtsverletzungen zu beenden, waren es 1993 schon 17,4 Prozent und 1994 bereits 24,5 Prozent. David Becker hat die Lehren aus diesem Schauspiel für den chilenischen Fall gezogen: “Ohne Haß keine Versöhnung” überschreibt er einen seiner Artikel, der für die berechtigte Wut der Opfer Partei ergreift. Wo die Vermeidung von Konflikten zum Programm wird, entsteht keine neue, hoffnungsvolle Gesellschaft. “Um eine neue Diktatur zu vermeiden, verzichtet man am besten gleich auf den Wunsch nach einer echten Demokratie”, und das betrachtet Becker als Fehler. Insofern war auch der Rettig-Bericht nützlich, denn er war konfliktgeladen. Doch der potentiell reinigende Konflikt wurde zugunsten der Konsenspolitik vermieden.
Und dennoch: Mit der Wahrheitskommission in Chile entstand das erste zugkräftige Exportprodukt. Je nach Zählweise kommt man heute weltweit auf bis zu 60 dieser Kommissionen, doch der kleinste Teil legte schon vor 1991 Ergebnisse vor. Erst die Arbeit José Zalaquetts, chilenischer Rechtsanwalt, Mitglied der Rettig-Kommission und ehemaliger Präsident von amnesty international, entwarf ein Konzept für Wahrheitsfindungskommissionen, das nun in Ländern wie Südafrika oder Guatemala als Vorbild genutzt wird. In Chile entstand kein offener Konflikt, und die Opfer hielten weitgehend still – das ist wohl der Haupterfolg der Kommission, der sie so nachahmenswert für andere Nationen macht.

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