Nummer 276 - Juni 1997 | Peru

Die Geiselbefreiung von Lima

Ein Trauerspiel in drei Akten

Leo Gabriel

1. Akt:
Die Show wird koordiniert

22. April 1997. Es war kurz nach 15 Uhr, als im Haus des erst kürzlich gewählten Frak-tionsführers der FMLN, Schafik Handal das Telefon läutete: “Armando? Welch eine Überra­schung…” Schafik Handal deckte mit der Hand den Hörer ab und flüsterte mir mit einer lebhaften Geste zu: “Es ist Calderón Sol, der Präsident”.
Es folgte ein längeres Schwei­gen. Dann wiederholte der ehe­malige Guerillaführer und Vor­sitzende der kommunisti­schen Par­tei El Salvadors mit ge­spielter Höflichkeit zweimal den glei­chen Satz: “Danke für die In­formation. Es ist immer gut, in­formiert zu sein.” Es folgte ein kurzer Wortwechsel, bei dem es allen Anschein nach um den Po­sten des Vorsitzenden im neu­gewählten salvadorianischen Par­lament ging, in dem die Be­freiungsbewegung eine fast glei­che Mandatsanzahl wie die re­gierende ARENA-Partei erlangt hat: “Danke für die Information” sagte er und legte den Hörer auf.
Auf diese ungewöhnliche Art und Weise setzte der salvadoria­nische Präsident, ein politischer Freund des peruanischen Präsi­denten Alberto Fujimori, den Füh­rer der parlamentarischen Oppo­sition davon in Kenntnis, daß sich soeben eine Eliteeinheit der peruanischen Streitkräfte an­schickte, ins Innere der Residenz des japanischen Botschafters vor­zudringen, um die seit 126 Tagen von einem Guerilla-Ko­mando der MRTA gefangenge­hal­tenen Geiseln zu befreien.
Das Aviso, das circa 10 Minu­ten vor der ersten großen Explo­sion um 15 Uhr 17 erfolgte, die mit einem Schlag fünf der vier­zehn Tupac-Amaru-Kämpfer tö­te­te, kam nicht von ungefähr. Seit Monaten hatte die peruani­sche Regierung die salvadoriani­sche FMLN beschuldigt, eine nicht genau bakanntgegebene An­zahl von MRTA-Kadern mi­li­tärisch geschult und militärisch unterstützt zu haben. Der Be­scheid des salvadorianischen Prä­sidenten war also mehr als eine Höflichkeitsgeste, er be­deu­tet soviel wie: “Wir werden euch gleich fertigmachen, und zwar da unten in Lima.”
Einige Minuten später ging die Kanonade bei CNN los, ge­folgt von den anderen nordame­rikanischen Fernsehagenturen, die ihre Kameras monatelang und mit enormen Kosten (das pe­ruanische Fernsehen sprach von insgesamt einer halben Million Dollar) auf einem der beiden Hochhäuser plaziert hatten, um auf diesen Augenblick zu war­ten. Noch während die Rauch­schwaden auf allen Bildschirmen sichtbar waren und die Weltöf­fentlichkeit die Gefechte im In­neren der japanischen Residenz zu hören bekam, überschlugen sich die Stimmen der Reporter.
Betont vorschnell schrien die Kommentatoren das Wort “Be­freiung” in den Äther, spra­chen vom Sieg der Demokratie und kündigten sogar eine angeb­lich unmittelbar bevorstehende Glück­wunschadresse des US-Präsidenten an, die dann erst am nächsten Tag in stark abge­schwächter Form erfolgte.
Bis Präsident Fujimori mit seiner kugelsicheren Weste am Schauplatz eintraf und von ei­nem geparkten Auto herunter seine Brandrede hielt, wurde die Öffentlichkeit im Glauben gelas­sen, daß die ganze Aktion “sauber, chirurgisch und exakt” durchgeführt worden war. Erst nach und nach kam die Nach­richt in Umlauf, daß es dabei auch Opfer gegeben hatte: Zuerst wurde von den beiden Offizieren gesprochen, dann von Oberst-rich­ter Dr. Carlos Giusti und viel später erst von den 14 Gue­rilleros, die bei den Kampf­handlungen umgekommen wa­ren.

2. Akt
Die Widersprüche werden kaschiert

Auf diese Weise war die Rechnung Fujimoris und seiner An­hänger, daß die überraschende Militäraktion in der peruanischen und internationalen Öffentlich­keit als “voller Erfolg” gefeiert werden würde, zur Gänze aufge­gangen. Inwieweit auch bei den Medienleuten ein gewisses Kal­kül im Spiel war oder sie sich von der künstlich stimulierten Euphorie einfach hatten anstek­ken lassen, ist noch unklar. Tat­sache ist, daß die Mehrzahl der Re­porter der großen Medien erst mit dem Nachtflug aus Miami ankamen, also zu einem Zeit­punkt, als die Nachricht von der gelungenen Geiselbefreiung schon längst über den Äther gegangen war.
Erst später traten die vielen Ungereimtheiten zutage, die die Aktion umgeben hatten:
* Während die Geiseln immer von 20 Geiselnehmern gespro­chen hatten, sollen es jetzt plötz­lich nur mehr 14 gewesen sein.
* Der Sturmangriff fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem die Geiselnehmer ihre Forderungen von ursprünglich 400 freizu­las­sen­den Gefangenen auf 30 (nach manchen Quellen sogar 20) her­untergeschraubt hatten.
* Als Todesursache des Oberst­richters Dr. Giust wurden ab­wechselnd ein Herzinfarkt und Verbluten angegeben.
* Der Landwirtschaftsminister erklärte dem peruanischen Wo­chenmagazin CARETAS, daß sich die beiden MRTA-Mädchen ergeben hatten, nahm diese Be­hauptung aber nach einem dies­bezüglichen Dementi Fujimoris spä­ter wieder zurück.
* Der Jesuitenpater Juan Julio Wicht stellte fest, daß einige der Geiselnehmer die Zeit und Gele­genheit gehabt hätten, ihre Ge­fangenen zu Töten: “Es hätten also 40 oder 50 von uns Geiseln sterben können.”
Die ursprüngliche Behaup­tung Fujimoris, daß die Aktion bis ins kleinste Detail geplant und unter Zuhilfenahme modern­ster technologischer Mittel er­folgt war, mußte revidiert wer­den. Anstelle der vorgesehenen 4 Minuten hatte die Orperation 18 Minuten gedauert; selbst Mit­glieder der aus Offizieren beste­henden Spezialeinheit gaben zu, daß sie nicht gewußt hätten, wo die Botschaftsbesetzer ihre Mi­nen gelegt hatten. “Fujimori ist wie einer, der russisches Rou­lette spielt und den die Kugel zu­fällig nicht getroffen hat”, meinte der peruanische Ökonom Hugo Cabieses nach dem Be­kanntwerden des Tatverlaufs.
Und viele andere, darunter auch der argentinische Nobel­preisträger Adolfo Pérez Esqui­vel, sprachen mehr oder minder offen von einem “Massaker”, das vom peruanischen Geheimdienst ganz bewußt geplant worden war. Unter denen, die das be­haupten, befanden sich auch die Familienangehörigen der getö­teten MRTA-Mitglieder. So for­der­te Eligia Rodríguez, die Mutter einer der beiden Gueril­leras, die ihre Tochter auf den Fotos aus der japanischen Resi­denz wiedererkannt hatte, den Leichnahm ihrer Tochter, noch bevor der peruanische Sicher­heitsdienst sie (ebenso wie 11 andere auch) als N.N. verschar­ren lies: “Warum gibt er uns die Toten nicht? Oder will er sie noch einmal umbringen?”
In diesem Zusammenhang ge­winnt auch die Meldung eines BBC-Reporters an Gewicht, der behauptet, es gebe Anzeichen dafür, daß drei der MRTA-Re­bellen nicht getötet worden seien, sondern derzeit im Ge­fängnis des peruanischen Ge­heimdienstes gefoltert würden, in der Hoffnung, sie würden ihre Hintermänner verraten. Eine der japanischen Geiseln will gesehen haben, wie ein Guerillero mit er­hobenen Händen abgeführt wur­de.

3. Akt:
Die Mörder werden rehabilitiert

Auch die Wahl des Zeitpunk­tes schien eher innenpolitischen Kriterien zu folgen als einem militärtaktischen Kalkül. Nur wenigen Beobachtern war in Erinnerung geblieben, daß einige Tage vor dem Sturm auf die Bot­schafterresidenz sowohl der In­nenminister Juan Briones Dávila als auch der durch die Ergreifung des Sendero-Luminoso-Chefs Abi­mael Guzmán berühmt ge­wordene Polizeichef Ketín Vidal zurückgetreten waren.
Sie sind offensichtlich Opfer eines Machtkampfes zwischen den beiden neben Fujimori mäch­tigsten Männern Perus ge­worden: dem berüchtigten Si­cherheitsberater des Präsidenten Vladimirio Montesinos und dem Armeechef General Nicolás de Bari Hermoza. Montesinos mach­te sie verantwortlich für eine den Medien zugespielte In­formation über seine Steuerer­klärung 1996, in der er Einkom­men in der Höhe von einer hal­ben Million Dollar angegeben hatte, während sein Gehalt laut Fujimori jährlich nur 18.000 Dollar beträgt, was den Verdacht auf Verbindungen zum Drogen­handel nahelegt.
Aber auch eine andere Ge­schichte drohte dem Triumvirat an der Macht Anfang April zum Verhängnis zu werden, als der zerstückelte Leichnahm der Ge­heimdienstagentin Mariella Ba­rreto 100 Kilometer nordöstlich von Lima aufgefunden wurde; sie war vor ihrer Ermordung ge­foltert worden. Barreto hatte mit Martín Rivas, dem Chef der Grupo Colina, einer berühmt-berüchtigten Spezialeinheit des pe­ruanischen Geheimdienstes, ei­ne Liaison gehabt und scheint von diesem verdächtigt worden zu sein, Quelle jener Enthüllun­gen über die Verantwortung der Co­lina-Gruppe für zwei Mas­saker Anfang der neun­ziger Jahre gewesen zu sein, die 1993 die meisten Mitglieder ins Gefängnis brachten, ehe sie 1995 durch ein von Fujimori durchge­setztes Amnestiegesetz freika­men.
Am 6. April sagte Leonor La Rosa Bustamente, eine weitere Ge­heimdienstagentin, im Fern­se­hen aus, von ihren eigenen Kol­legen unter der Anschuldi­gung, Informationen weitergege­ben zu haben, gefoltert worden zu sein. Ihre Aussage führte zur Ver­haftung von Geheimdienst­chef Ge­neral Sánchez Noriega und drei weiteren Agenten, die alle inzwischen verurteilt wur­den. In den ersten Aprilwochen war es außerdem zu Angriffen auf Journalisten und Oppositions­politiker wie den Abgeordneten Javier Diez Canseco und den früheren Finanzminister Gustavo Saberbein gekommen.
Der Mordfall und die Folter­vorwürfe hatten das Image von Alberto Fujimori und seinem Geheimdienstchef Montesinos in den Tagen vor dem 22. April so sehr in Mitleidenschaft gezogen, daß in den Meinungsumfragen nur mehr 37 Prozent der Bevöl­kerung der Ansicht waren, der Präsident sollte wiedergewählt wer­den. Nach dem Attentat schnellte die Beliebtheitsrate Fujimoris zwar wieder auf über 60 Prozent hinauf, viele Beo­bach­ter meinten jedoch, daß Vla­dimir Montesinos, der sich nach der Erstürmung der Botschafter­residenz als Held feiern ließ, nach wie vor derart verhaßt sei, daß er Fujimori bald wieder in den Strudel der Unbeliebtheit ziehen werde.
In diesem Zusammenhang zeigt sich, daß die Erstürmung der Botschafterresidenz am 22. April als politischer Befreiungs­schlag Fujimoris zu werten ist, der ihm, seinem Sicherheits­dienst und der peruanischen Ar­mee zu dringend benötigten Lor­beeren verhelfen sollte. Dieser Umstand erklärt auch das hohe Risiko, das der peruanische Prä­sident eingegangen ist und die extreme Brutalität, mit der die Spezialeinheiten unter dem Be­fehl von Montesinos und General de Bari vorgegangen waren.
Das Trauerspiel gibt aber auch zur Hoffnung Anlaß, daß sich die Wahrheit über die Hin­tergründe der (staats)-terroristi­schen Aktion als politische Zeit­bombe erweisen wird. Denn, wie der Kardinal-Erzbischof von Li­ma, Augusto Vargas Alza­mora, sagte, gibt es bei diesen Vorfällen “keine Sieger, sondern nur Verlierer”. Und wer das nicht einsieht, der landet früher oder später auf dem Misthaufen der Geschichte.
aus: Lateinamerika Anders Panorama 5/97

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