Die Geiselbefreiung von Lima
Ein Trauerspiel in drei Akten
1. Akt:
Die Show wird koordiniert
22. April 1997. Es war kurz nach 15 Uhr, als im Haus des erst kürzlich gewählten Frak-tionsführers der FMLN, Schafik Handal das Telefon läutete: „Armando? Welch eine Überraschung…“ Schafik Handal deckte mit der Hand den Hörer ab und flüsterte mir mit einer lebhaften Geste zu: „Es ist Calderón Sol, der Präsident“.
Es folgte ein längeres Schweigen. Dann wiederholte der ehemalige Guerillaführer und Vorsitzende der kommunistischen Partei El Salvadors mit gespielter Höflichkeit zweimal den gleichen Satz: „Danke für die Information. Es ist immer gut, informiert zu sein.“ Es folgte ein kurzer Wortwechsel, bei dem es allen Anschein nach um den Posten des Vorsitzenden im neugewählten salvadorianischen Parlament ging, in dem die Befreiungsbewegung eine fast gleiche Mandatsanzahl wie die regierende ARENA-Partei erlangt hat: „Danke für die Information“ sagte er und legte den Hörer auf.
Auf diese ungewöhnliche Art und Weise setzte der salvadorianische Präsident, ein politischer Freund des peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori, den Führer der parlamentarischen Opposition davon in Kenntnis, daß sich soeben eine Eliteeinheit der peruanischen Streitkräfte anschickte, ins Innere der Residenz des japanischen Botschafters vorzudringen, um die seit 126 Tagen von einem Guerilla-Komando der MRTA gefangengehaltenen Geiseln zu befreien.
Das Aviso, das circa 10 Minuten vor der ersten großen Explosion um 15 Uhr 17 erfolgte, die mit einem Schlag fünf der vierzehn Tupac-Amaru-Kämpfer tötete, kam nicht von ungefähr. Seit Monaten hatte die peruanische Regierung die salvadorianische FMLN beschuldigt, eine nicht genau bakanntgegebene Anzahl von MRTA-Kadern militärisch geschult und militärisch unterstützt zu haben. Der Bescheid des salvadorianischen Präsidenten war also mehr als eine Höflichkeitsgeste, er bedeutet soviel wie: „Wir werden euch gleich fertigmachen, und zwar da unten in Lima.“
Einige Minuten später ging die Kanonade bei CNN los, gefolgt von den anderen nordamerikanischen Fernsehagenturen, die ihre Kameras monatelang und mit enormen Kosten (das peruanische Fernsehen sprach von insgesamt einer halben Million Dollar) auf einem der beiden Hochhäuser plaziert hatten, um auf diesen Augenblick zu warten. Noch während die Rauchschwaden auf allen Bildschirmen sichtbar waren und die Weltöffentlichkeit die Gefechte im Inneren der japanischen Residenz zu hören bekam, überschlugen sich die Stimmen der Reporter.
Betont vorschnell schrien die Kommentatoren das Wort „Befreiung“ in den Äther, sprachen vom Sieg der Demokratie und kündigten sogar eine angeblich unmittelbar bevorstehende Glückwunschadresse des US-Präsidenten an, die dann erst am nächsten Tag in stark abgeschwächter Form erfolgte.
Bis Präsident Fujimori mit seiner kugelsicheren Weste am Schauplatz eintraf und von einem geparkten Auto herunter seine Brandrede hielt, wurde die Öffentlichkeit im Glauben gelassen, daß die ganze Aktion „sauber, chirurgisch und exakt“ durchgeführt worden war. Erst nach und nach kam die Nachricht in Umlauf, daß es dabei auch Opfer gegeben hatte: Zuerst wurde von den beiden Offizieren gesprochen, dann von Oberst-richter Dr. Carlos Giusti und viel später erst von den 14 Guerilleros, die bei den Kampfhandlungen umgekommen waren.
2. Akt
Die Widersprüche werden kaschiert
Auf diese Weise war die Rechnung Fujimoris und seiner Anhänger, daß die überraschende Militäraktion in der peruanischen und internationalen Öffentlichkeit als „voller Erfolg“ gefeiert werden würde, zur Gänze aufgegangen. Inwieweit auch bei den Medienleuten ein gewisses Kalkül im Spiel war oder sie sich von der künstlich stimulierten Euphorie einfach hatten anstekken lassen, ist noch unklar. Tatsache ist, daß die Mehrzahl der Reporter der großen Medien erst mit dem Nachtflug aus Miami ankamen, also zu einem Zeitpunkt, als die Nachricht von der gelungenen Geiselbefreiung schon längst über den Äther gegangen war.
Erst später traten die vielen Ungereimtheiten zutage, die die Aktion umgeben hatten:
* Während die Geiseln immer von 20 Geiselnehmern gesprochen hatten, sollen es jetzt plötzlich nur mehr 14 gewesen sein.
* Der Sturmangriff fand zu einem Zeitpunkt statt, in dem die Geiselnehmer ihre Forderungen von ursprünglich 400 freizulassenden Gefangenen auf 30 (nach manchen Quellen sogar 20) heruntergeschraubt hatten.
* Als Todesursache des Oberstrichters Dr. Giust wurden abwechselnd ein Herzinfarkt und Verbluten angegeben.
* Der Landwirtschaftsminister erklärte dem peruanischen Wochenmagazin CARETAS, daß sich die beiden MRTA-Mädchen ergeben hatten, nahm diese Behauptung aber nach einem diesbezüglichen Dementi Fujimoris später wieder zurück.
* Der Jesuitenpater Juan Julio Wicht stellte fest, daß einige der Geiselnehmer die Zeit und Gelegenheit gehabt hätten, ihre Gefangenen zu Töten: „Es hätten also 40 oder 50 von uns Geiseln sterben können.“
Die ursprüngliche Behauptung Fujimoris, daß die Aktion bis ins kleinste Detail geplant und unter Zuhilfenahme modernster technologischer Mittel erfolgt war, mußte revidiert werden. Anstelle der vorgesehenen 4 Minuten hatte die Orperation 18 Minuten gedauert; selbst Mitglieder der aus Offizieren bestehenden Spezialeinheit gaben zu, daß sie nicht gewußt hätten, wo die Botschaftsbesetzer ihre Minen gelegt hatten. „Fujimori ist wie einer, der russisches Roulette spielt und den die Kugel zufällig nicht getroffen hat“, meinte der peruanische Ökonom Hugo Cabieses nach dem Bekanntwerden des Tatverlaufs.
Und viele andere, darunter auch der argentinische Nobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, sprachen mehr oder minder offen von einem „Massaker“, das vom peruanischen Geheimdienst ganz bewußt geplant worden war. Unter denen, die das behaupten, befanden sich auch die Familienangehörigen der getöteten MRTA-Mitglieder. So forderte Eligia Rodríguez, die Mutter einer der beiden Guerilleras, die ihre Tochter auf den Fotos aus der japanischen Residenz wiedererkannt hatte, den Leichnahm ihrer Tochter, noch bevor der peruanische Sicherheitsdienst sie (ebenso wie 11 andere auch) als N.N. verscharren lies: „Warum gibt er uns die Toten nicht? Oder will er sie noch einmal umbringen?“
In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Meldung eines BBC-Reporters an Gewicht, der behauptet, es gebe Anzeichen dafür, daß drei der MRTA-Rebellen nicht getötet worden seien, sondern derzeit im Gefängnis des peruanischen Geheimdienstes gefoltert würden, in der Hoffnung, sie würden ihre Hintermänner verraten. Eine der japanischen Geiseln will gesehen haben, wie ein Guerillero mit erhobenen Händen abgeführt wurde.
3. Akt:
Die Mörder werden rehabilitiert
Auch die Wahl des Zeitpunktes schien eher innenpolitischen Kriterien zu folgen als einem militärtaktischen Kalkül. Nur wenigen Beobachtern war in Erinnerung geblieben, daß einige Tage vor dem Sturm auf die Botschafterresidenz sowohl der Innenminister Juan Briones Dávila als auch der durch die Ergreifung des Sendero-Luminoso-Chefs Abimael Guzmán berühmt gewordene Polizeichef Ketín Vidal zurückgetreten waren.
Sie sind offensichtlich Opfer eines Machtkampfes zwischen den beiden neben Fujimori mächtigsten Männern Perus geworden: dem berüchtigten Sicherheitsberater des Präsidenten Vladimirio Montesinos und dem Armeechef General Nicolás de Bari Hermoza. Montesinos machte sie verantwortlich für eine den Medien zugespielte Information über seine Steuererklärung 1996, in der er Einkommen in der Höhe von einer halben Million Dollar angegeben hatte, während sein Gehalt laut Fujimori jährlich nur 18.000 Dollar beträgt, was den Verdacht auf Verbindungen zum Drogenhandel nahelegt.
Aber auch eine andere Geschichte drohte dem Triumvirat an der Macht Anfang April zum Verhängnis zu werden, als der zerstückelte Leichnahm der Geheimdienstagentin Mariella Barreto 100 Kilometer nordöstlich von Lima aufgefunden wurde; sie war vor ihrer Ermordung gefoltert worden. Barreto hatte mit Martín Rivas, dem Chef der Grupo Colina, einer berühmt-berüchtigten Spezialeinheit des peruanischen Geheimdienstes, eine Liaison gehabt und scheint von diesem verdächtigt worden zu sein, Quelle jener Enthüllungen über die Verantwortung der Colina-Gruppe für zwei Massaker Anfang der neunziger Jahre gewesen zu sein, die 1993 die meisten Mitglieder ins Gefängnis brachten, ehe sie 1995 durch ein von Fujimori durchgesetztes Amnestiegesetz freikamen.
Am 6. April sagte Leonor La Rosa Bustamente, eine weitere Geheimdienstagentin, im Fernsehen aus, von ihren eigenen Kollegen unter der Anschuldigung, Informationen weitergegeben zu haben, gefoltert worden zu sein. Ihre Aussage führte zur Verhaftung von Geheimdienstchef General Sánchez Noriega und drei weiteren Agenten, die alle inzwischen verurteilt wurden. In den ersten Aprilwochen war es außerdem zu Angriffen auf Journalisten und Oppositionspolitiker wie den Abgeordneten Javier Diez Canseco und den früheren Finanzminister Gustavo Saberbein gekommen.
Der Mordfall und die Foltervorwürfe hatten das Image von Alberto Fujimori und seinem Geheimdienstchef Montesinos in den Tagen vor dem 22. April so sehr in Mitleidenschaft gezogen, daß in den Meinungsumfragen nur mehr 37 Prozent der Bevölkerung der Ansicht waren, der Präsident sollte wiedergewählt werden. Nach dem Attentat schnellte die Beliebtheitsrate Fujimoris zwar wieder auf über 60 Prozent hinauf, viele Beobachter meinten jedoch, daß Vladimir Montesinos, der sich nach der Erstürmung der Botschafterresidenz als Held feiern ließ, nach wie vor derart verhaßt sei, daß er Fujimori bald wieder in den Strudel der Unbeliebtheit ziehen werde.
In diesem Zusammenhang zeigt sich, daß die Erstürmung der Botschafterresidenz am 22. April als politischer Befreiungsschlag Fujimoris zu werten ist, der ihm, seinem Sicherheitsdienst und der peruanischen Armee zu dringend benötigten Lorbeeren verhelfen sollte. Dieser Umstand erklärt auch das hohe Risiko, das der peruanische Präsident eingegangen ist und die extreme Brutalität, mit der die Spezialeinheiten unter dem Befehl von Montesinos und General de Bari vorgegangen waren.
Das Trauerspiel gibt aber auch zur Hoffnung Anlaß, daß sich die Wahrheit über die Hintergründe der (staats)-terroristischen Aktion als politische Zeitbombe erweisen wird. Denn, wie der Kardinal-Erzbischof von Lima, Augusto Vargas Alzamora, sagte, gibt es bei diesen Vorfällen „keine Sieger, sondern nur Verlierer“. Und wer das nicht einsieht, der landet früher oder später auf dem Misthaufen der Geschichte.
aus: Lateinamerika Anders Panorama 5/97