Die Harmonie des Herzens
Für die Tzeltales in Südmexiko gehören Kosmovision und Justiz zusammen
Tzeltal ist eine der 14 im Südosten Mexikos gesprochenen Maya-Sprachen. Die jMeltsa’anwanej (tzeltal für: Konfliktschlichter_innen oder -mediator_innen), haben wenig mit Richter_innen westlicher Gesellschaften gemein; weder sind sie Rechtsexpert_innen, noch haben sie ein Studium absolviert. Sie sind indigene Bauern und Bäuerinnen, die ihre Rechte als inhärenten Teil ihrer Form zu leben und ihrer Gesellschaftsstruktur begreifen. Das Rechtssystem der Tzeltales beruht auf ihrer kulturellen Kosmovision, der Weisheit der Ahnen, darauf, wie sie ihre Religiosität und ihr Sein auf der Erde verstehen. Die Traditionen der Tzeltales sind jedoch nicht statisch, es werden Elemente übernommen, die sie bereichern, selbst wenn sie – wie die Menschenrechte – einer anderen Kultur entspringen, um sie aus der eigenen Sicht dann neu zu interpretieren.
In der Tzeltal-Kultur stellt das Vorhandensein eines Problems oder eines Konfliktes (tzeltal: wocolil) innerhalb der Gemeinde eine Unordnung, einen Verlust von Harmonie (tzeltal: ju’un pajal o’tanil / ein ganzes Herz) dar, die durch Aussöhnung (tzeltal: suhtesel o’tanil / Wiederkehr des Herzens) erneut hergestellt werden muss. Wenn also jemand eine andere Person schädigt, heißt das, dass sein Herz fortgegangen ist (tzeltal: cheb o’tanil / zwei Herzen). Dialog und eine friedliche, aggressionsfreie Lösung des Problems setzen daher voraus, dass das Herz der Person, die sich einer anderen gegenüber schlecht verhalten und so die Harmonie der Gemeinschaft gestört hat, wieder an seinen Platz zurückgebracht werden muss, damit wieder ein ganzes Herz existiert und die Harmonie in das Territorium zurückkehrt: das friedliche Zusammenleben. Harmonie wird also als eine Form verstanden, Beziehungen zu pflegen. Harmonie wird mit den höheren Wesen herzustellen gesucht, den Schutzheiligen der Natur und der einzelnen Dörfer, mit sich selbst, in der Ehe und mit den Kindern, in der Gemeinschaft und mit der Natur.
Als ich bei meinem letzten Aufenthalt im Februar 2012 jMeltsa’anwanej bei ihrer Arbeit begleitete, lernte ich eine Gemeinde kennen, in der es ein heftiges Problem aufgrund einer Auseinandersetzung um Land zwischen zwei Mitgliedern eines ejidos gab. Bei dieser Form des kollektiven Landbesitzes gibt es im Gegensatz zur tierra comunal einzeln bewirtschaftete Parzellen. Die jMeltsa’anwanej waren gerufen worden, um sich mit dem Fall vertraut zu machen und als Mediator_innen zu vermitteln. Eine der an dem Konflikt beteiligten Personen gehörte den autonom organisierten Zapatist_innen an und wandte sich daher auch an die zuständige zapatistische Instanz. Es wurde ein Treffen an dem umstrittenen Ort organisiert und eine Art mündliche Anhörung abgehalten. Wie in anderen Fällen hatten die jMeltsa’anwanej zuvor bereits Untersuchungen angestellt, was mehrere Wochen oder Monate dauern kann. Dabei wird mit jeder der Konfliktparteien einzeln gesprochen und es werden weitere möglicherweise beteiligte Personen oder, sofern vorhanden, Zeug_innen aufgesucht. Die Treffen werden mit Gebeten eingeleitet und abgeschlossen, in denen das gute Wirken der Konfliktschlichter_innen und die Erlangung der Harmonie erbeten wird.
Bei dem ersten Treffen vereinbarten die Mediator_innen und die Betroffenen einen weiteren Termin zur Landvermessung, der einen Monat später stattfinden sollte. Bei diesem nächsten Treffen begannen die jMeltsa’anwanej, die Zuständigen der Zapatist_innen, die lokalen Amtsträger_innen und die Betroffenen, das Land zu vermessen bis der unter den Konfliktparteien umstrittene Teil ersichtlich wurde. Dann wurde eine Urkunde abgefasst, in der die Konfliktparteien vereinbarten, das Problem jeweils für sich zu analysieren, um dann eine friedliche Lösung zu erarbeiten. Und damit sind sie derzeit noch befasst.
Die jMeltsa’anwanej arbeiten in keinerlei Gebäuden, von denen aus Recht gesprochen wird; stattdessen werden die Orte des Konfliktgeschehens aufgesucht, um die Umstände und die beteiligten Personen kennenzulernen; auch existieren keine festen Fristen. Jeder Fall bedarf einer individuellen Lösung, da auch die Probleme jeweils von unterschiedlichen Menschen und Umständen verursacht wurden.
Die wocolil oder Konflikte, die einen Verlust an Harmonie in der Gemeinschaft auslösen, können unterschiedlich gelagert sein. Meist sind sie familiärer Art, wie Beziehungsprobleme, die Art der Eheanbahnung und Erbschaftsstreitigkeiten, oder sie stehen im Zusammenhang mit Land und natürlichen Ressourcen.
Sofern es zu keiner Einigung kommt, kann auch mehr Zeit eingeräumt werden, um zu einer Einigung zu gelangen. In anderen Fällen kann es auch passieren, dass sich eine der Parteien dazu entscheidet, die offiziellen Justizbehörden anzurufen. Die Zuständigkeit der unterschiedlichen Rechtssysteme ist in Mexiko jedoch nicht genau geregelt. Normalerweise kommt es bei der Tzeltal-Justiz nicht zu Strafen, sondern zu Wiedergutmachungen. Manuel Guzmán Gutiérrez, oberster jMeltsa’anwanej für das Gebiet Tumbo erklärt die Praxis so: „Es kommt auf das Problem an. Ein Beispiel: Ist ein Tier in die milpa eingedrungen, zählen wir, wie viele Pflanzen es zerstört hat, damit sie dem Eigentümer der Parzelle zurückerstattet werden. Bei einer Schlägerei wird auf Einigung gedrungen. Wer verletzt wurde, begibt sich in medizinische Behandlung und die Kosten dafür muss der Angreifer tragen. Eine Strafgebühr gibt es nicht.“
Das Amt der jMeltsa’anwanej wurde von der Jesuitenmission Bachajón und dem Zentrum für Indigene Rechte Chilón (CEDIAC) wiederbelebt. Zum Bistum San Cristóbal de Las Casas gehörende Jesuitenmissionare nahmen ihre Arbeit im Gebiet der Tzeltales 1958 auf. Sie waren vom Geist der Befreiungstheologie getragen, für die Samuel Ruíz während seiner Amtszeit als Bischof (1959 bis 1999) eintrat. Sie gründeten die Organisation CEDIAC im Jahr 1992 mit dem Ziel einer Menschenrechtsarbeit, die an den Kontext angepasst war. Das vorherrschende Element war daher auch die Verteidigung von Land und Territorium, als Grundlage für die Stärkung der indigenen Autonomie der Tzeltal-Gemeinden.
In den indigenen Gemeinschaften wird die „Ausübung von Autorität“ traditionell als „Verpflichtung“ aufgefasst, als Dienst an der Gemeinschaft und niemals als vergüteter Posten. Voraussetzungen für die Ausübung des Amtes sind: die einvernehmliche Ernennung durch die Gemeinschaft, die genaue Kenntnis über die Amtsführung und ein tadelloser Lebenswandel. Der jMeltsa’anwanej bekommt für seine Arbeit kein Geld und ist für drei Jahre gewählt. Beratend zur Seite steht dem Amtsträger die sogenannte comitiva.
Um einen Verlust von Erfahrungen und Kenntnissen durch das Rotationsprinzip zu vermeiden, wird das traditionelle System von banquilal (großer Bruder) und ihts’inal (kleiner Bruder) angewandt. Die mit der Lösung von Konflikten betraute comitiva besteht aus einem banquilal, einem ihts’inal und einem xuht (Letzten), der als Lernender die Kenntnisse über Konfliktlösung und das Rechtssystem der Tzeltales praktisch erwirbt. Jede comitiva wählt ein Oberhaupt, eine Person, die durch die Zahl der in ihrem bisherigen Leben ausgeübten Ämter hohes Ansehen genießt und die Aufgabe hat, „das Herz der jMeltsa’anwanej aufzumuntern, ihre Arbeit zu überwachen und darauf zu achten, dass sie die Werte der Harmonie und der Suche nach Wahrheit verfolgen. Darüber hinaus gibt es noch eine_n Sekretär_in, der_die mit der Abfassung von Dokumenten betraut ist.
Die Ernennung für das Amt erfolgt während eines Festes der Gemeinde, der „Aussaat“, das eine große kulturelle Bedeutung hat. Hier wird das Amt öffentlich verliehen und vor der Gemeinschaft legitimiert. Bei der Zeremonie wird das Amt an einen Mann und seine Ehefrau vergeben. Traditionell werden daher verheiratete Männer mit der Funktion betraut, wenngleich dies im Begriff der Veränderung steht. Dominga Gutiérrez Gómez, die Frau eines jMeltsa’anwanej im Gebiet von San Jerónimo Tulihjá, führt dazu aus: „Als ich begann, fiel es mir sehr schwer. Ich schämte mich, zu sprechen und ich konnte es einfach nicht, ich wollte nicht gehen. Aber jetzt schon, weil ich mich jetzt auszudrücken weiß. Und wenn wir jetzt Probleme lösen, schäme ich mich nicht zu sprechen; seit ich im Amt bin, haben sich mir der Verstand und das Herz mehr geöffnet“.
Die Tzeltales durchleben große soziokulturelle Veränderungen, die sich natürlich auch auf ihr Rechtssystem und die Ernennungspraxis für das Amt von Konfliktschlichter_innen auswirken. Dies betrifft zum einen die Ernennung von jungen Menschen, sowohl jungen Männern als auch Frauen, zum xuht, die aufgrund des soziokulturellen Wandels noch unverheiratet sind; sie sind mehrheitlich zweisprachig, da sie Abitur gemacht haben und sowohl ihre eigene Sprache als auch das Spanische lesen und schreiben können. Obwohl junge Frauen dabei immer noch in der Minderheit sind, kann ihre Arbeit eine Neubelebung der Traditionen und des Ämtersystems bedeuten. Zum anderen wurde im Jahr 2011 erstmals eine nur aus weiblichen jMeltsa’anwanej bestehende comitiva gebildet. Dies geschah auf den Wunsch von Frauen aus mehreren Gemeinden – zur speziellen Bearbeitung jener Fälle, in denen Frauen die Betroffenen oder Geschädigten sind.
Die gewählten Amtsträger_innen müssen sich durchgehend korrekt verhalten und ihre Arbeit in die Gemeinden tragen. Von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns im Amt hängt auch ab, ob die Menschen auf sie zukommen, um ihre Hilfe als Mediator_innen in Anspruch zu nehmen. Sollte die Gemeinschaft, das Oberhaupt oder die Koordinator_innen einen Amtsmissbrauch eines Mitglieds der comitiva beobachten, so kann dieses zeitweise vom Dienst entbunden werden.
Bereits in der Vergangenheit besuchten die jMeltsa’anwanej Kurse und Workshops, die regelmäßig von der Mission und von CEDIAC organisiert wurden. Seit 2011 gibt es einen zweijährigen Lehrgang über das Rechtssystem der Tzeltales, durch den die Arbeit der Schlichter_innen noch verbessert werden soll. Dort werden zum einen bestimmte Aspekte der nationalen Gesetzgebung und der Menschenrechte behandelt, zum anderen findet eine Reflexion über das Rechtssystem der Tzeltales statt, indem andere Formen von indigener Justiz innerhalb und außerhalb Mexikos diskutiert werden.
Im Gebiet der Tzeltales, in dem die Mission und die jMeltsa’anwanej arbeiten, leben ungefähr 200.000 Einwohner_innen, die sich auf 532 Gemeinden verteilen – 70 Prozent davon sind katholisch. Es umfasst die Kommunen Chilón und Sitalá sowie Teile von Yajalón und Pantelhó.
Die geographische Unterteilung der Tzeltales steht neben der räumlichen Unterteilung der autonomen indigenen Bewegung der Zapatist_innen. Diese bestehen aus den Autonomen Aufständischen Zapatistischen Kommunen, die jeweils mehrere Gemeinden umfassen, und den Caracoles, bestehend aus mehreren autonomen Kommunen. Die Juntas der Guten Regierung befinden sich in den Caracoles, den politisch-kulturellen Zentren der autonomen zapatistischen Struktur. Dort treffen sich die autonomen Instanzen der verschiedenen Kommunen des Caracols, um die alle betreffenden Fragen zu besprechen, etwa Bildungs-, Gesundheits-, Kommunikations- und landwirtschaftlich-ökologische Projekte. Außerdem dient der Ort der Lösung von Konflikten innerhalb ihres Gebietes, die nicht auf Gemeinde-Ebene gelöst werden konnten. Auf ein und demselben Gebiet koexistieren also verschiedene indigene Rechtssysteme: einerseits das auf der Kosmovision der Tzeltales beruhende Rechtssystem, das von CEDIAC angestoßen wurde, andererseits die Juntas der Guten Regierung, die von den Unterstützer_innen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gebildeten Konfliktlösungsinstanzen.
Das Gebiet der Tzeltales ist ein Spiegel der in Chiapas herrschenden Vielfalt. Die indigenen Völker von Chiapas sind sehr heterogen, sie haben wenig mit dem statischen, einseitigen Bild der Folklore zu tun, das von Massenmedien und konservativen politischen Eliten gezeichnet wird. Die einer indigenen Kultur angehörenden Menschen gehören unterschiedlichen bäuerlichen, politischen oder militärischen (etwa der EZLN) Gruppen an, sowie unterschiedlichen Religionen.
Für die Tzeltales ist die Mutter Erde heilig: Die Berge, die Felsen, die Höhlen, das Wasser – sie bilden die Grundlagen ihrer eigenen Wurzeln. Diese nicht-materielle Sicht auf Natur bildet den Nährboden für ihren Widerstand gegen Großprojekte der mexikanischen Regierung, durch die sie von ihrem Territorium vertrieben werden sollen. Dazu gehören der Bau von Straßenverbindungen, Öko-Tourismus-Projekte, Initiativen zum Verkauf von Ländereien, zum Bau von Staudämmen oder Bergbauprojekten. Das Rechtssystem der Tzeltales dient daher nicht nur der Konfliktlösung, es weist der Bevölkerung ebenso den Weg zur Harmonie, zu der auch der Schutz und die Ruhe der Mutter Erde gehören.
Die dialogorientierte, friedliche Suche nach Harmonie und Frieden ist weit entfernt von den Klischees, die indigene Justiz mit Menschenrechtsverletzungen und vielfachen Verstößen gleichsetzen. Das Beharren der Tzeltales auf der Beibehaltung eigener Normen und Konfliktlösungsmechanismen als Teil ihres Anspruchs auf Autonomie, ist auch die Antwort auf eine offizielle staatliche Justiz, die weder ihre Sprache spricht noch ihre Kultur versteht; die in den meisten Fällen Indigene kriminalisiert und so zum repressiven Arm der Staatsmacht wurde. Oftmals wird Indigenen nicht das Recht auf eine Verdolmetschung in die eigene Sprache – und damit einen fairen Prozess – zugestanden, weshalb die Gefängnisse voll von Indigenen sind, die nicht einmal wissen, warum sie inhaftiert wurden. Machtmissbrauch und Korruption machen den Gang zum Gericht für Indigene zu einem Luxus, den sie sich meist nicht leisten können. Ein Teilnehmer des Lehrgangs über Tzeltal-Justiz beschreibt das so: „Unsere Fälle werden nicht bearbeitet. Fließt kein Geld, werden die Auseinandersetzungen auch nicht gelöst“.