El Salvador | Nummer 331 - Januar 2002

Die Katastrophe nach dem Erdbeben

Regierung und internationale Geber nehmen auf die Interessen der Erdbebenopfer zu wenig Rücksicht

Am 13. Januar 2001 erschütterte ein schweres Erdbeben El Salvador, einen Monat später wurden drei zentrale Departements erneut von einem fürchterlichen Beben heimgesucht. In den folgenden Monaten hielten tausende von Nachbeben die Bevölkerung in Angst. Die Regierung nutzt die Katastrophe, um ihr Konzept von „Modernisierung“ voran zu treiben. Fast ein Jahr nach dem Beben lebt die Mehrheit der Betroffenen weiterhin in provisorischen Unterkünften – mit wenig Aussicht auf Besserung.

Dieter Drüssel

Insgesamt sind offiziell über 1.200 Menschen in den beiden Erdbeben gestorben, die tatsächliche Zahl dürfte um einiges höher liegen. So sollen etwa in der Gegend der völlig zerstörten Gemeinde Comasagua hunderte von nie gezählten KaffeepflückerInnen unter den Bergrutschen begraben sein. In Sachen Zahlen gilt die Konvention, sich auf die Angaben der UNO-Organisation CEPAL zu beziehen. Danach sind rund 1,5 Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, direkt in Mitleidenschaft gezogen worden. Rund 200.000 Familien haben ihr Obdach ganz oder teilweise verloren (der NRO-Zusammenschluss Foro de la Sociedad Civil spricht dagegen von 319.000 betroffenen Wohnstätten). Fast die Hälfte der insgesamt 5200 Schulen wurde zerstört oder ernsthaft beschädigt, ebenso 24 Krankenhäuser und über 40.000 Kleinstbuden und kleine und mittlere Unternehmen. Zusätzlich zur Kaffeekrise aufgrund fallender Weltmarktpreise wurden nun große Anbauflächen teilweise auf Jahre hinaus verwüstet. Die Wasserversorgung wurde vielerorts zerstört. Dorf nach Dorf lag am Boden, Provinzhauptstädte sahen aus wie nach einem Bombenangriff. CEPAL bezifferte die wirtschaftlichen Schäden mit über 1,6 Milliarden US-Dollar, die FMLN mit mindestens 2 Milliarden US-Dollar, also fast 20 Prozent des Bruttoinlandproduktes von 2000.

Aus der Katastrophe Kapital schlagen
Bald nach der Katastrophe begann ein einseitig geführter Kampf von Regierung und internationaler Gebergemeinschaft gegen die Erdbebenopfer. Die faktisch wehrlosen Menschen aus den armen Bevölkerungsschichten waren mit Überleben beschäftigt, suchten einen wettergeschützten Schlafplatz für die Kinder, tauchten in den Slums der Städte oder den anonymen Massen der MigrantInnen unter. Ihre „Gegner“ kümmerten sich nur darum, dass sich an den Grunddaten der makroökonomischen Ausrichtung nichts änderte. Die Ereignisse sollten als innovative Chancen auf dem Weg der Modernisierung verkauft werden, was de facto die Zerstörung bisheriger gesellschaftlicher Strukturen bedeutete. Die als Wiederaufbauhilfe bezeichnete Angriffslinie wurde an einer internationalen so genannten Geberkonferenz Anfang März in Madrid festgeklopft. Zuerst aber musste die Regierung von Präsident Paco Flores die Voraussetzungen im Lande garantieren.

Taktische Dezentralisierung
Zu Beginn zeigte sie sich darin wenig souverän. Eine „nationale Solidaritätskommission“, Conasol, bestehend aus der Crème der Unternehmer und der Regierungspartei ARENA, sollte die Hilfe koordinieren. Doch selbst rechten BürgermeisterInnen kam die Galle hoch ob der nie eintreffenden Soforthilfe. Es waren, wie schon nach dem Wirbelsturm Mitch 1998, Gemeinde- und Basisstrukturen, welche in den ersten Tagen die Rettungs- und Überlebensarbeiten trugen. Zwei Maßnahmen verschafften der Regierung Luft: Erstens errichtete die Armee, von den USA auf humanitäre Missionen gedrillt, ein halbwegs funktionierendes Verteilungssystem und orientierte sich dabei explizit nicht an parteipolitischen Kriterien. Tatsächlich setzten sich vielerorts untere Offiziere für „ihre“ Gemeinden ein. Bei manchen FMLN-Leuten kam die Hoffnung auf eine „patriotisch-soziale“ Sensibilisierung der Militärs nach venezolanischem Vorbild hoch. Kehrseite war, dass die Armee, wo sie nicht von starken Basis- oder FMLN-Strukturen daran gehindert wurde, die Führungsrolle übernahm und die Gemeindeorganisationen faktisch ausschaltete.

Politische Schikanen
Zweitens verlagerte Flores Kritik und Wut in untergeordnete Gemeindeebenen. Eine Dezentralisierung nach internationalem Gebergusto: Für die Trümmerbeseitigung sollten die Gemeindeverwaltungen pro zerstörtem Haus 1500 Colones erhalten, 900 für die Gemeindearbeit und 600 für jede der meist in bitterstem Elend lebenden Familien (1 US-Dollar sind 8,75 Colones). Kaum angekündigt, taten die verantwortlichen Instanzen so, als sei das Geld schon geflossen. Den internationalen Financiers gegenüber zu „Transparenz“ verpflichtet, sollte die zweite Rate der Gelder nur nach ordentlicher Abrechnung der ersten ausbezahlt werden. Rund die Hälfte der stark betroffenen Gemeinden werden von der FMLN regiert – just hier blockieren die Regierungsprüfer die zweite Rate. Während das Bürgermeisteramt von Tecoluca seit Monaten immer wieder die gleichen Antworten auf die gleichen Fragen mit den gleichen Unterlagen belegen muss, ist in Nachbargemeinden unter rechter Exekutive die zweite Rate längst ausbezahlt worden, ohne Abrechnung. So musste sich selbst in Tecoluca, immerhin einer FMLN-Hochburg mit kämpferischer Tradition, der Bürgermeister Carlos Cortéz einer von ARENA inspirierten kleinen Demo stellen, welche die Auszahlung der „zurückbehaltenen“ Gelder forderte.
Wichtiger noch: Die Regierung geht insbesondere in FMLN-Gemeinden von teilweise massiv untertriebenen Schadenszahlen aus. Praktisch nirgends reichen hier die zentralstaatlichen Opferangaben an die realen Zahlen heran. Der Trick: In den Tagen nach den Erdbeben leiteten die Alcaldías Opfer- und Schadenserfassungen zwecks Hilfskoordination laufend an die Regierung weiter. Zwangsläufig wurde das wahre Ausmaß erst nach und nach bekannt. Bei den Frente – Gemeinden hingegen geht die Regierung implizit von frühen Zahlen aus. Im Falle der selbst in den Medien als Modell für den Wiederaufbau gerühmten Gemeinde Tecoluca war man vorsichtig: Von den 3784 Familien, die hier ihre Häuser verloren haben, anerkennt die Regierung immerhin 2977. In schwächeren Gemeinden beträgt der Unterschied bis zu 50%.

Wehrdörfer der Modernisierung
Auf der Madrider Geberkonferenz wurden seitens der Regierungen des Nordens und der Internationalen Finanzinstitutionen grundsätzlich 1,3 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau der nächsten fünf Jahre versprochen. 300, später 400 Millionen, sollten als Schenkung, 700 Millionen als neue und 300 Millionen US-Dollar als umprogrammierte Kredite erfolgen. Der Großteil dieser Gelder ist noch nicht überwiesen worden.
In einem Bereich ist die Regierungsaktivität besonders sichtbar. 200.000 „Mikrowellen“, Kleincontainer von zwölf Quadratmetern, ganz aus Wellblech mit zwei Fenstern und einer Tür, verunstalten die Landschaft. Die Brutöfen gelten offiziell als vorübergehende Behausung. Diese Bezeichnung erweist sich angesichts der Erdbebenopfer von 1986, von denen noch heute viele in „temporären“ Karton- und Wellblechhütten entlang der großen Straßen hausen, als klare Lüge. Damit ist eingetreten, was NRO und FMLN mit ihren Wiederaufbauvorschlägen verhindern wollten: Die Fixierung „temporärer“ Misere als Normalzustand. Ein Aufenthalt in den Erdbebendörfern lässt hiesige Neubausiedlungen als gewachsene Orte der Romantik erscheinen und vermittelt einen schmerzhaften Begriff von Vernichtung sozialer Substanz. Laut einer amtlichen Mitteilung vom November 2001 wurden im Land des chronischen 500.000-Wohnungsdefizits im Rahmen der Erdbebenhilfe bisher lediglich 26.000 feste Häuser gebaut, drei Viertel davon von Nichtregierungsseite. Einzig eine konzertierte Anstrengung in Richtung der priorisierten „fortschreitenden Häuser“ (zuerst nur Fundament, Gerüst und Dach, die später ergänzt werden können), hätte die Möglichkeit einer weiteren sozialen Dorfexistenz eröffnet. Doch davon war in Madrid nicht die Rede. Dafür vom Konzept der NAO, der Neuen Organisierten Siedlungen. Hinter dem Begriff, der nicht zufällig an die Wehrdörfer der Aufstandsbekämpfung erinnert, steckt die Vorstellung der Neuansiedlung der Menschen in Entwicklungspolen, deren Kern ländliche Maquilas darstellen sollen. Die Regierung schwafelt von einer halben Million neuer Arbeitsplätze in Weltmarktproduktionszentren und restrukturierter Kaffeeproduktion, die im Rahmen von Freihandelsverträgen in den nächsten drei Jahren entstehen sollen. Von 17 Millionen US-Dollar der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft Fonavipo gehen 12 Millionen via Privatbanken in Hypotheken für Maquila-Arbeiterinnen. Ein Kredit von 100 Millionen der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) für rurale Verkehrswege deckt zu 80 Prozent solche Entwicklungszonen ab. Der Wiederaufbau nach dem Erdbeben integriert sich in die Reaktion der Geber und Regierungen Zentralamerikas auf Mitch: Maquila und Schweigen. Das Mitch-Programm ist in diesem Jahr in den via Mexiko lancierten, ebenfalls aus der Feder der IDB und des INCAE, des zentralamerikanischen Ablegers der Harvard Business School, stammenden “Plan Puebla Panamá” integriert worden. Im Kern geht es dabei um den Anschluss Zentralamerikas an die mexikanische Wirtschaftszone, und damit an die Nordamerikanische Freihandelszone NAFTA.

Privatisierung des Wassers
Als weiteres Beispiel sei ein als Wiederaufbauhilfe deklarierter Kredit der IDB von 47 Millionen für die Wasserversorgung genannt, der derzeit im Parlament von der FMLN blockiert wird. Der Großteil davon soll in das Uplifting der städtischen, demnächst zu privatisierenden Wasserinfrastruktur gesteckt werden. Ganze 3,1 Millionen sollen in die wirtschaftlich uninteressanten, durch die Beben massiv zerstörten ruralen Wassersysteme fließen, weniger als die 4,6 Millionen für die Zinsrückzahlung.
Eine eigentliche Sozialbewegung gegen diese Angriffe hat es nicht gegeben. Wohl haben strategisch günstig gelegene Frente-Gemeinden mehrfach Straßen besetzt und damit punktuelle Hilfslieferungen durchgesetzt. Nur in den beiden Departements Ahuachapán und La Libertad ist es nach Auskunft der FMLN-Militanten Margarita Lovos meist in ländlichen Gebieten zur nachhaltigen Organisation vor allem Jugendlicher im Rahmen der Notkomitees gekommen. Andererseits darf die massive und kämpferische Präsenz von Erdbebenbetroffenen am letzten 1. Mai sowie an der vom Foro de la Sociedad Civil initiierten Mobilisierung einen Monat später, zur „Feier“ der zweijährigen Amtsausübung des Staatspräsidenten, nicht unterschätzt werden. Kleine Aktionen wie etwa jene in Tecoluca runden das Bild ab, wo vor zwei Monaten die lokale Bevölkerung die Wasserzufuhr zu einem neu gebauten Sportkomplex wieder herstellte, nachdem sie von der Wasserbehörde gekappt worden war.
Gesellschaftlich bedingte Katastrophen jagen sich: Eine regionale Dürre brachte letzten Sommer 30.000 campesina-Familien im Osten um ihre Ernten und an den Rand einer dramatischen Hungersnot. Gleichzeitig begannen die verheerenden Kaffeepreise auf dem Weltmarkt, den Hunger weiter zu verbreiten. Solche „Schläge“, gepaart mit einer NRO-Hilfe, die höchstens besser sein kann als gerade gar nichts, erschweren das Entstehen einer greifbaren Sozialbewegung massiv. Sinnbildlich ist die breite Volksbewegung unter FMLN-Ägide gegen die Anfang 2001 coupmäßig angelaufene Dollarisierung (aktueller Stand: rund die Hälfte der Geldumlaufmenge soll dollarisiert sein): Sie wurde durch das Erdbeben vom 13. Januar weggefegt. Die vom US-Finanzministerium durchgesetzte Dollarisierung bringt der Gesellschaft direkte Kosten von 3 Milliarden US-Dollar – mehr als das Doppelte der internationalen „Hilfe“.

Bewegungsschwierigkeiten
Nach den Beben hieß es, es gebe ein Vorher und ein Nachher. Dennoch war das Thema nur wenige Monate später scheinbar fast verschwunden. Doch der Schein trügt. Die beiden Sozialventile Maquilajobs und Migration drohen zu versagen. Aufgrund der US-Rezession wurden schon vor dem 11. September mindestens 7000 Maquilajobs gestrichen. Vor den Beben ging die mexikanische Migrationspolizei von täglich bis zu 500 schwarz die Grenze passierenden SalvadorianerInnen aus. In den ersten Monaten danach stiegen die Passanträge im Land um 350 Prozent. Ohne die Überweisungen der in die USA Emigrierten (letztes Jahr 13,5 Prozent des BIP) gäbe es in El Salvador kein Überleben mehr. Doch seit dem 11. September ist die Migration massiv erschwert worden. Die Krise im Kaffeesektor wird sich in den Erntemonaten auf weitere zehntausende von Familien auswirken. Den gestiegenen Bedarf an öffentlichen Investitionen für den Wiederaufbau will die Regierung im neuen Haushalt mit einer 17-prozentigen Kürzung „überflüssiger Ausgaben“, so Finanzminister Daboub, bereitstellen. Eine Bewegung, ähnlich strukturiert wie damals gegen die Dollarisierung, um Marktfrauen und Gewerkschaften, hat am 21. November öffentliche Gebäude besetzt, um gegen die von ihm anvisierte Massenentlassung von öffentlichen Angestellten zu protestieren. Es besteht zumindest die Hoffnung, dass die FMLN mit dem Sieg der Linken in internen Wahlen ihre jahrelange Lähmung überwindet und vermehrt auf die Karte realen Widerstandes setzt.

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