Die Lesart des Fortschritts
Rekordwachstum der Wirtschaft – aber nicht alle im Land haben etwas davon
Mit dem Fortschritt ist es in Peru so eine Sache. Der Glaube daran scheint in schwierigen Zeiten ein Trost zu sein, um sich mit den wahren Verhältnissen abzufinden. So ist es kein Zufall, dass bei den letzten Wahlen gleich drei Parteien den Fortschritt im Namen führten: Avanza País (Das Land schreitet voran), Progresemos Peru (Lasst uns fortschreiten, Peru) und eine Alianza por el Progreso (Allianz für den Fortschritt). Der Satz „Die Lage ist kompliziert, aber wir kommen voran!“ gehört fest zur peruanischen Lebensphilosophie. Doch die Realität ist manchmal härter: Zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht ist ein solcher Fortschritt seit Jahrzehnten ausgeblieben. Das Pro-Kopf-Einkommen erreichte erst im letzten Jahr wieder die Kaufkraft des Jahres 1974.
Macht alles nichts. Die Regierung sagt, jetzt ginge es voran. Es kommt nur auf die Lesart an. Seit sechs Jahren nimmt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) jährlich um durchschnittlich sechs Prozent zu. Für 2008 wird sich daran allen Prognosen nach nichts ändern. Für InvestorInnen sind auch andere wirtschaftliche Daten beeindruckend: Der Wechselkurs des Nuevo Sol ist stabil, die Inflation liegt unter US-Niveau. Peru wird in diesem Jahr zum sechsten Mal in Folge einen Handelsbilanzüberschuss erzielen, der Anteil des Schuldendienstes an den Exporterlösen sinkt kräftig, und mit den Währungsreserven von rund 17,2 Milliarden US-Dollar kann der Importbedarf von mehr als einem Jahr gedeckt werden.
Motor des Wachstums war in den vergangenen Jahren vor allem die Bergbauindustrie über den Export von mineralischen Rohstoffen, auch wenn der direkte Anteil am BIP bei lediglich 6 Prozent liegt. Im letzten Jahr erfasste das Wachstum aber auch den Bausektor, den privaten Konsum und das verarbeitende Gewerbe. Dennoch ist ein Großteil der peruanischen Bevölkerung mit der Entwicklung unzufrieden. Bereits zwischen April und Juli dieses Jahres wurde das Land von einer nicht abbrechenden Streik- und Protestwelle lahm gelegt, die erst nach dem verheerenden Erdbeben Anfang August zum Stillstand kam. Aber es geht schon wieder los. Ob Minen- oder Bauarbeiter, Bauern und Bäuerinnen im Koka- und Baumwollsektor, ob ÄrztInnen oder Krankenschwestern, LehrerInnen oder UniversitätsdozentInnen: Fast in jeder Woche wurde zuletzt ein neuer Streik ausgerufen. Am 8. November organisierte die Dachverband der peruanischen Gewerkschaften CGTP im ganzen Land Massenproteste, an denen sich allein in Lima Zehntausende beteiligten.
Die Zustimmung zur Regierungspolitik ist deutlich zurückgegangen. Während die Bevölkerung Meinungsumfragen zufolge im April dieses Jahres noch mit über 60 Prozent die Politik des Staatspräsidenten Alan García unterstützte, ist diese Quote inzwischen auf etwa 35 Prozent abgesunken. Die Regierung versucht, dagegen zu halten. Sie sieht sich in der Pflicht, die Bevölkerung über das Wirtschaftswunder aufzuklären. „Peru schreitet voran“ – lautet die so eindeutige wie simple Botschaft, mit der García die Skeptiker und PessimistInnen unter seinen Landsleuten mit einer gigantischen Werbekampagne in Medien und auf Hauswänden zu überzeugen sucht. Die Gewerkschaftsfunktionäre von der CGTP sind aus Sicht Garcías unbelehrbare Kommunisten der alten Schule, die streikenden LehrerInnen beschimpft er schon mal als faule Schmarotzer, die Kokabauern als Drogenhändler. Seine Vizepräsidentin Lourdes Mendoza del Solar hält die DemonstrantInnen gar für „Vaterlandsverräter“. Und Ministerpräsident Jorge del Castillo hat unlängst den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez als Drahtzieher und finanziellen Unterstützer der Unruhen ausgemacht.
Jedoch gehören Streiks und Proteste in Peru fast zum Alltag, seit Massendemonstrationen im Jahr 2000 das Ende des Fujimori-Regimes einleiteten. Vor vier Jahren sah sich der damalige Präsident Alejandro Toledo sogar gezwungen, den Ausnahmezustand auszurufen. Zu dieser Zeit befanden sich ebenfalls Kokabauern, LehrerInnen, Ärzte und Minenarbeiter im Streik. Ein Jahr später, während des Generalstreiks der CGTP im Juli 2004, brachte der Vorsitzende des Revolutionären Amerikanischen Volksbündnisses APRA noch großes Verständnis für „alte Kommunisten“ und „Schmarotzer“ auf: Die PeruanerInnen, so der Originalton des damaligen Oppositionsführers Alan García, hätten das Recht, gegen die Regierung zu protestieren. Die Demokraten im Land wollten kein Volk, das schweigt.
Ob Alberto Fujimori, Alejandro Toledo oder Alan García: Keiner dieser Präsidenten hat es geschafft, das Wachstum in die ärmeren Zonen der Bevölkerung zu transportieren. Mehr als 50 Prozent der Peruaner verdienen immer noch weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Der Anteil der Bevölkerung, der in Armut oder extremer Armut lebt, ist seit etwa 20 Jahren konstant geblieben, in absoluten Zahlen sogar gestiegen. Und etwa 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ist nicht sozialversichert – weder für den Krankheitsfall, noch für den Ruhestand.
Während der Aktienindex der Börse Limas seit 2003 um 700 Prozent zulegte und im Jahr 2006 mit 130 Prozent Wachstum weltweit an erster Stelle lag, sind die staatlichen Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitssektor seit Antritt der García-Regierung Ende Juli 2006 sogar noch zurückgeschraubt worden. Die staatlichen Ausgaben für den Bildungssektor sind inzwischen pro SchülerIn die niedrigsten in ganz Lateinamerika. Im gerade herausgegebenen Ranking des Weltwirtschaftsforums Davos liegt das Land bei der Qualität der Grundschulausbildung unter 131 ausgewählten Ländern auf dem letzten Platz. Die öffentlichen Universitäten schrumpfen kräftig zu Gunsten der Privathochschulen. So wird eine gute akademische Ausbildung ausgerechnet in Zeiten des Booms immer mehr zu einem Luxus für Reiche.
Die Gehälter sind in den letzten sechs goldenen Jahren ebenfalls gewachsen, aber nicht um 40, sondern nur um bescheidene sieben Prozent. Im Bergbausektor ist die Beschäftigung zwar deutlich gestiegen, aber zwei Drittel der ArbeiterInnen werden dort über sogenannte Servicefirmen rekrutiert. Diese ArbeiterInnen haben keinerlei Rechte, sie verfügen über keine Sozialversicherung, bekommen in der Regel keine Überstunden bezahlt und können jederzeit gekündigt werden. Ihre Gehälter haben sich während des fulminanten Bergbaubooms, der Mitte der 1990er Jahre begann, nicht nennenswert nach oben bewegt. Dafür arbeiten sie häufig zwölf Stunden am Tag und leben in Zonen wie La Oroya im peruanischen Hochland, wo Kinder massenhaft erkranken, weil sie zu hohe Bleiwerte im Blut haben, die mit der Erzverhüttung in der Region in Zusammenhang stehen. Die protestierenden Kokabauern, deren Ernte die Regierung unter der Devise „Null Toleranz für Drogenanbau“ einfach vernichtet, wissen nicht, wovon sie leben sollen.
Der überaus eloquente Präsident kommt auch deswegen in Bedrängnis, weil er Wahlversprechen nicht einhält. So wollte García eine Sondersteuer auf besonders hohe Gewinnmargen erheben, die seit Jahren vor allem in der Bergbaubranche wegen der Rohstoffhausse an den Weltmärkten zu verzeichnen sind. Der Ökonom Pedro Francke rechnete vor, dass eine solche Steuer allein in diesem Jahr bis zu zwei Milliarden US-Dollar zusätzlich in die Staatskassen gespült und zur Finanzierung einer kostenlosen Gesundheitsfürsorge für alle Peruaner gereicht hätte. Stattdessen regte Garcías Wirtschaftsminister Luís Carranza an, die Gewinnsteuern für Unternehmen zu senken – eine Maßnahme, die nur bei einer Rezession Sinn macht. Die peruanische Steuerquote stagniert nicht zufällig auf dem niedrigen Niveau von 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Im übrigen Lateinamerika liegt sie in der Regel deutlich über 20 Prozent. Im Nachbarland Bolivien ist sie aufgrund eines besonders kräftigen Anstiegs in den letzten Jahren inzwischen fast doppelt so hoch wie in Peru.
Allerdings garantieren sowohl die von Präsident Fujimori 1993 nach seinem Parlamentsputsch verabschiedete Verfassung wie auch der bilaterale Freihandelsvertrag TLC mit den USA, dem Anfang November nach langem Zögern endlich das US-Repräsentantenhaus zustimmte, eine Stabilität staatlicher Steuern. Doch García hatte im Wahlkampf ebenfalls versprochen, die Verfassung zu reformieren und den TLC „Wort für Wort, Absatz für Absatz“ einer Revision zu unterziehen. Nichts davon ist geschehen. García hat sich vom Kritiker des TLC zu einem leidenschaftlichen Befürworter gewandelt. Zwar werden die Exportsektoren der Landwirtschaft vermutlich zu den Gewinnern des Vertragswerkes gehören, doch der ärmere Teil der bäuerlichen Bevölkerung wird davon wieder einmal nicht profitieren können.
Angesichts des rekordverdächtigen Wachstums der privaten Investitionen in Peru versprach Präsident García bei seinem Amtsantritt im Juli 2006 ebenfalls, bei staatlichen Ausgaben kräftig nachzulegen. Er sprach von einem Investitionsschock, den das Land erleben werde. Doch die staatlichen Investitionen wuchsen bis heute nicht stärker als zuvor. Stattdessen erlebte das Land – nach einer Wortschöpfung des ehemaligen linken Kongressabgeordneten Javier Díez Canseco – einen Korruptionsschock. Die Regierung kaufte 469 Streifenwagen für die Polizei, die geschätzte 7.000 US-Dollar pro Stück überteuert waren. Ebenso wurden für Schulmaterialien, für Polizeitransporter mit groben Mängeln oder für Krankenwagen ohne Sirenen viel zu hohe Beträge ausgegeben. Die Streitkräfte sind in einen „Benzinskandal“ verwickelt, weil sie zehntausende Liter Treibstoff bestellten, für die es keine Verwendung gab. Andererseits reicht das Budget gerade für 20 Seismographen und das in einem Land, das in einer besonders Erdbebengefährdeten Zone liegt. Das war nicht genug, um das schwere Erdbeben im August vorauszusehen.
Den Aufruf zahlreicher PräsidentInnen Lateinamerikas auf dem Iberoamerikanischen Gipfel in Santiago de Chile Anfang November, die neoliberale Wirtschaftspolitik in ganz Lateinamerika zu beenden, ignorierte Alan García und setzt den Kurs seiner Vorgänger Alberto Fujimori und Alejandro Toledo unbeirrt fort. Die Regierungspartei APRA arbeitet im Kongress sogar ohne Skrupel mit Fujimoris Alianza para el Futuro (AF) zusammen, obwohl der zuständige Staatsanwalt im Verfahren Mitte November wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen eine Haftstrafe von 30 Jahren für den Ex-Präsidenten beantragte. So scheiterte ein Misstrauensantrag der Opposition gegen Innenminister Luís Alva Castro nur deshalb, weil sich die AF der Abstimmung enthielt. Alva Castro wollte erneut 700 überteuerte Streifenwagen für die Polizei kaufen.
García weiß solche Hilfe zu würdigen. Während des Auslieferungsverfahrens Fujimoris in Chile hielt sich der Präsident bemerkenswert zurück. Und als die Fujimori-Regierung vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica wegen einer blutigen Unterdrückung einer Revolte von Gefangenen des Sendero Luminoso verurteilt wurde, überlegten APRA und AF gemeinsam öffentlich, den Vertrag von San José zu kündigen, der Peru dem Urteil des Gerichtshofs unterwirft. Das käme García auch deshalb entgegen, weil er laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt, die der Vertrag von San José nicht zulässt. Javier Díez Canseco hat sich für den amtierenden Präsidenten kürzlich den Namen Garcimori ausgedacht, weil die Standpunkte des Präsidenten und der Erben Fujimoris auch in der Innen- und Menschenrechtspolitik kaum auseinander gehen.
Noch hat Alan García dreieinhalb Jahre Zeit, um vom Wirtschaftswachstum zu profitieren und die Weichen für eine bessere Zukunft stellen. Der Blick auf seine bisherige Regierungspolitik lässt indes die Hoffnung auf einen wirklichen Fortschritt in Peru schrumpfen. Selbst wenn die Wirtschaftslokomotive weiter dampft, bleiben der Gesundheits- und Bildungssektor vermutlich auf dem Abstellgleis. Neue Korruptionsskandale sind leider wahrscheinlicher als künftige Erfolge bei der Armutsbekämpfung oder der Demokratisierung des Landes. So schnell geht es eben doch nicht voran.