Die Mauer muss her
US-Senat verhandelt über neues Einwanderungsgesetz
Als José Jalit Gonzalez in Veracruz von dem Zug absprang, wünschte er sich geradezu, dass die Polizei ihn festnehmen würde. Drei Tage hatte er sich an dem Eisengestänge der Güterwagen festgeklammert und gegen den Schlaf gekämpft. Seine Kleider waren zerrissen, die Schuhe hatte er verloren. Der 22-Jährige dachte an sein Zuhause in Nicaragua, die kleine Rinderfarm seines Vaters, die er einen Monat vorher verlassen hatte, um auszuwandern. Tausende von Dollar hatte er an die Fluchthelfer bezahlt, die ihn in die mexikanische Hafenstadt verfrachtet hatten, von der aus er mit Bussen zur US-Grenze weiterreisen wollte. Als die Polizei ihn in Puebla mit seinem falschen Visum verhaftete, versuchte José gar nicht mehr zu fliehen. Er war zu erschöpft.
Coyoten in der Wüste
Silvia Mercedes Rosa hatte schon eine längere Reise hinter sich, als sie in der Wüste von Arizona vor dem Güterwaggon stand, mit dem sie die letzte Etappe zurücklegen sollte. Sie blickte auf die Ladefläche. Sie war bis oben hin voll mit Kisten, die zur Decke kaum eine Armlänge Platz ließen. „Steig endlich ein, passiert schon nichts“, herrschte sie der „Coyote“ an. So werden die FluchthelferInnen genannt, die lateinamerikanische AuswandererInnen über die Grenze zwischen Mexiko und den USA schmuggeln. Silvia dachte an die Geschichten, die sie gehört hatte von EmigrantInnen, die in solchen Waggons erstickt waren. Doch sie dachte auch an den Weg, den sie zurückgelegt hatte. Sie hatte den Grenzfluss Rio Bravo auf einem Autoreifen überquert und war zehn Tage durch die Wüste in Arizona marschiert. Sie hatte einen Honduraner verdursten sehen. Es gab kein Zurück. Sie zwängte sich zwischen die Kisten. Sie hörte das Stöhnen der Mitreisenden. Mit einem trockenem Knall fiel die Tür zu.
Niemand kennt die genaue Zahl derer, die wie Silvia und José pro Jahr heimlich die Grenze ins vermeintliche Paradies überqueren wollen. 400.000 AuswandererInnen aus Lateinamerika hat die US-Grenzpolizei im Jahr 2005 festgenommen und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Wer es trotz der ständig schärfer werdenden Kontrollen schafft, hat meist einen Weg des Schreckens hinter sich. Für MittelamerikanerInnen beginnt dieser an der Grenze zwischen Guatemala und Mexiko. Die US-Migrationsbehörden haben ihre Kontrollen sozusagen um ein Land nach vorne verlegt, die mexikanischen Grenzposten im Bundesstaat Chiapas werden von US-GeheimdienstbeamtInnen unterstützt – und überwacht. Die eigentlichen Herren des Grenzgebietes jedoch sind die Maras, Jugendbanden, die in Mittelamerika Angst und Schrecken verbreiten und ganze Landstriche terrorisieren. Man erkennt sie an ihren Tätowierungen. Sie sind meist schwer bewaffnet, stehen unter Drogen und gehen mit äußerster Brutalität vor. Vor allem die Zugstrecke vom Bundesstaat Chiapas nach Veracruz sei fest in der Hand der Maras, berichtet die mexikanische Tageszeitung La Jornada. Wenn der Zug langsam fährt, springen die Tätowierten auf und rauben die MigrantInnen aus. Wer sich wehrt, wird vom Zug gestoßen. Viele sterben unter den Rädern oder werden grausam verstümmelt. José Jalit Gonzalez berichtet, wie er an der Strecke zwei abgetrennte Füße sah, die noch in den Schuhen steckten.
Geschätzte elf Millionen Menschen haben es trotz alledem ohne Papiere in die USA geschafft. Nach Recherchen der New Yorker Nichtregierungsorganisation Pew Hispanic Center sind zwei Drittel von ihnen Latin@s. Für konservative Republikaner im US-Kongress eindeutig zu viele. Die so genannten Social Conservatives sehen die Wirtschaft und die Sicherheit des Landes durch die Einwanderung bedroht. Sie behaupten, dass die illegal Eingewanderten den Einheimischen die Billigjobs wegnähmen.
Schlupflöcher stopfen
Deshalb wird derzeit in Washington über ein Gesetz gestritten, das die verbliebenen Schlupflöcher im Grenzzaun stopfen soll. Die befestigten Anlagen, der Berliner Mauer nicht unähnlich, sollen auf die gesamten 3.200 Kilometer Grenze ausgedehnt werden. Erwischte EinwandererInnen ohne Papiere sollen nicht zurück, sondern ins Gefängnis geschickt werden.
Im Herbst sind in den USA Gouverneurs- und Abgeordnetenwahlen, und die Republikaner bangen um die Stimmen ihrer konservativen Klientel. An der Grenze haben sich Bürgerwehren gebildet, die die Regierung der Untätigkeit bezichtigen. Die so genannten Minutemen machen in Texas und Arizona Jagd auf ImmigrantInnen.
Der Umgang mit Aufgegriffenen ist bereits jetzt so hart, dass die Aussenminister der zentralamerikanischen Staaten, Mexikos und Kolumbiens im Januar eine Protestadresse an die USA formulierten, ein ungewöhnlicher Schritt, denn normalerweise stehen die konservativen Regierungen dieser Länder treu zu Washington. Man solle die ImmigrantInnen nicht wie Kriminelle behandeln, es seien Menschen, die Familien hätten und nach einer besseren Zukunft suchten. Man solle sie nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen. Der Appell hatte jedoch nicht nur humanitäre Gründe. Mexikos angespannter Arbeitsmarkt etwa kann die eine Million junger Menschen nicht aufnehmen, die jährlich neu nach einem Job suchen. Noch schlimmer sieht es in den Staaten weiter südlich aus. Ein Viertel aller LateinamerikanerInnen lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. In Nicaragua, dem ärmsten Land spanischer Sprache, sind es sogar 80 Prozent. Im vergleichsweise reichen Costa Rica verdient eine Hausangestellte etwa 1700 Dollar im Jahr. Würde sie in die USA auswandern, könnte sie im Jahr 12.000 Dollar verdienen, so viel wie ein Rechtsanwalt in Chile und das Doppelte wie ein Taxifahrer in Uruguay. Selbst wenn sie keine Papiere hätte, könnten ihre Kinder in den USA zur Schule gehen, denn der staatliche Bildungsauftrag gilt dort auch für Illegale. Und sie könnte ihrer Familie Geld schicken. 45 Milliarden Dollar haben AuswandererInnen im Jahr 2005 nach Lateinamerika überwiesen. In Nicaragua ist das inzwischen die einzige Einnahmequelle für einen großen Teil der Bevölkerung. „Menschen sind unser wichtigstes Exportgut“, sagt der Journalist Douglas Carcache aus Managua, der ein Buch über die Auswanderung geschrieben hat.
Illegale Einwanderung amnestieren
Doch nicht nur in ihren Heimatländern, auch in den USA beleben die 50 Millionen dort lebenden Latin@s die Wirtschaft. Ihre Kaufkraft wird auf 700 Milliarden Dollar geschätzt. Zwei Millionen Betriebe hätten EinwandererInnen in den letzten Jahren gegründet, die 300 Milliarden Dollar im Jahr netto verdienten und anderthalb Millionen Jobs geschaffen hätten, meldet die hispanische Handelskammer in den USA. Wirtschaftsverbände weisen daraufhin, dass die nicaraguanischen Kindermädchen, mexikanischen ErntearbeiterInnen und honduranischen Müllfahrer gebraucht würden. Deswegen gibt es Bestrebungen liberaler Abgeordneter, illegale Einwanderung nachträglich zu amnestieren. Derzeit sind sie jedoch in der Minderheit.
Das beste Geschäft freilich machen die Schlepperbanden. Die US-Regierung schätzt ihre Einnahmen auf eine Milliarde Dollar im Jahr. Silvia Mercedes Rosa hatte ihrem „Coyoten“ 4500 Dollar gezahlt, die Ersparnisse eines Lebens. „Was sollte ich machen, ich muss vier Kinder ernähren, mein Mann ist arbeitslos“, sagt sie heute. Die 40-Jährige hoffte auf einen Job als Hausmädchen und wollte später ihre Familie nachholen. Als sie jedoch in der Wüste Arizonas in den Waggon kletterte, dachte sie, „ich werde meine Kinder nie wiedersehen“. Sie erinnert sich nicht, wie viel Zeit sie darin zubrachte, doch als die US-Migrationsbeamten den Waggon öffneten, war sie dem Ersticken nahe. Obwohl ihre Auswanderung damit gescheitert war, sei sie dankbar gewesen. „Die Posten haben mein Leben gerettet.“ In Abschiebehaft in San Antonio stellte sie fest, dass sie sogar Glück gehabt hatte. Die meisten Frauen, die mit ihr einsaßen, waren vergewaltigt worden, von den Coyoten, mexikanischen Grenzposten oder den Maras. Ärzte nahmen Reihenabtreibungen vor.
Fünf Monate nach ihrem Aufbruch in ein neues Leben ist Silvia Mercedes Rosa wieder in Nicaragua und verkauft nun abends Essen auf den Straßen von Leon. Es ist alles wie vorher. „Nur die 4500 Dollar sind weg“, sagt sie und weint.