„DIE MODELLE, DIE WIR VERTEIDIGEN, HABEN SICH ERSCHÖPFT“
Die Linke muss die Art und Weise ihrer Machtausübung ändern, beschwört die Abgeordnete Luiza Erundina
CartaCapital: Der Interimspräsident des Abgeordnetenhauses, Waldir Maranhão, annullierte die Abstimmung des Amtsenthebungsverfahrens zunächst, machte dann allerdings einen Rückzieher. Glauben Sie, dass das von Cunha angeleitete Verfahren in Wirklichkeit auf Besessenheit basiert?
Luiza Erundina: Seitdem er den Vorsitz des Abgeordnetenhauses angetreten hat, nutzte Cunha seine Vormachtstellung zum eigenen Vorteil. Das schließt die Behinderung des gegen ihn im Ethikrat laufenden Prozesses ein. Das gleiche Verhalten legte er während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff und auch während anderer Abstimmungen im Abgeordnetenhaus an den Tag. Als er die Gesetzesinitiative zur Reduzierung der Strafmündigkeit auf die Agenda setzte, ließ er zwei Abstimmungen an unterschiedlichen Tagen durchführen, bis das gewünschte Ergebnis erzielt wurde. Das Amtsenthebungsverfahren war gekennzeichnet durch seine Versuche, die Geschäftsordnung und geltenden Bestimmungen bei einer solch schwerwiegenden Angelegenheit zu umgehen. Mittels einer von ihm verursachten Debatte zwischen den zwei politischen Lagern im Abgeordnetenhaus mit anschließender geheimer Abstimmung versuchte er, Einfluss auf die Amtsenthebungskommission zu nehmen. Dies wurde letztlich durch den Obersten Gerichtshof (STF) unterbunden. Daraufhin zögerte er die Errichtung der ständigen Kommissionen hinaus und brachte sie in Bezug auf das Amtsenthebungsverfahren auf seine Linie. Er handelte immer sehr paternalistisch, so, wie es ihm eben beliebte.
Wie konnte Cunha so viel Macht im Parlament erlangen?
Er ließ sich mit bedeutender Mehrheit zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses wählen und wird massiv von den evangelikalen Abgeordneten unterstützt. Bereits vor der Amtsübernahme führte und beeinflusste er Abstimmungen im Interesse dieser Gruppierung, dem zahlenmäßig größten der im Haus vertretenen politischen Lager. Tatsächlich übt er enormen Einfluss auf die Mehrheit der Konservativen aus, der sogenannten BBB-Fraktion, also bíblia, boi e bala (Bibel, Bullen und Blei, Anm.d.Red.).
Ein Abgeordneter aus São Paulo, ich würde seinen Namen lieber nicht nennen, erzählte einmal im Vertrauen, dass er im Morgengrauen Anrufe erhalten habe, in denen Cunha seine Vorstellung zu Ergebnissen für am darauffolgenden Tag angesetzte Abstimmungen mitteilte. Er kontrollierte akribisch jeden einzelnen Abgeordneten, der ihm seine Stimme gegeben hatte. Wir haben eineinhalb Jahre des demokratischen Lebens unseres Landes verloren, dies inmitten einer vielschichtigen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ethischen Krise. Diese Situation hat zu einer enormen Verdrossenheit in der Bevölkerung und zu einer schwerwiegenden Diskreditierung der Demokratie geführt.
Was ist der Ursprung dieser gravierenden politischen Krise?
Wir sind nur an diesem Punkt angelangt, weil wir notwendige politische Reformen versäumt haben. Dabei beziehe ich mich nicht ausschließlich auf das Wahlsystem. Es ist notwendig, das politische System, den Staat und den föderalen Pakt als Ganzes, neu zu denken. Es gibt ein enormes Ungleichgewicht in Bezug auf die Verteilung der Ressourcen und der Gewalten zwischen der Union, den Bundesstaaten und den Gemeinden. Einen großen Teil der Last muss die lokale Ebene tragen.
Wir haben eine fortschrittliche Verfassung verabschiedet, aber ein beträchtlicher Teil ihrer Artikel wurde nicht umgesetzt. Heute hat die Exekutive die Macht, mit provisorischen Mitteln Gesetze zu erlassen. Durch Missachtung der Legislative trifft inzwischen auch die Judikative Entscheidungen, die eigentlich im Kompetenzbereich des Kongresses lägen. Ein Jahr vor jeder Wahl werden neue Wahlregeln verabschiedet, die das bestehende Geflecht aus gesetzlichen Regelungen weiter schwächen.
Es bringt nichts, Probleme lediglich punktuell lösen zu wollen.
Punktuelle Veränderungen machen das System noch dysfunktionaler. Wir müssen uns mit dieser strukturellen Frage auseinandersetzen, mit dem politischen System im weiteren Sinne des Wortes. Tun wir das nicht, dann werden wir die politischen Verwerfungen während der Wahlkämpfe, in Ausübung der Macht und in der Beziehung zwischen dem Volk und der Regierung, nicht korrigieren können. Vor kurzer Zeit entschied sich das STF für ein Verbot von Wahlkampffinanzierungen durch Unternehmen. Es wurden jedoch keine neuen Mechanismen zur Kontrolle und Überwachung eingeführt. Wie kann denn so die Praxis unkontrollierter Wahlkampffinanzierungen unterbunden werden?
Wie bewerten Sie das Verhalten der rechten Opposition in diesem Prozess? Gab es Gesinnungslumperei in dieser informellen Allianz mit Cunha?
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es sich hier um einen reinen Machtkampf handelt. Der Vizepräsident Michel Temer hat diesen gesamten Prozess eingefädelt und den Aufbau der Ministerien antizipiert, als ob er bereits das Ruder in der Hand hätte. Die PSDB und ihre Unterstützer haben das Ergebnis der Wahlurnen von Beginn an nicht akzeptiert. Cunha nutzte seine Macht aus, über die Annahme von Anträgen zu Amtsenthebungsverfahren entscheiden zu können, indem er den gegen ihn angestrengten Prozess der Ethikkommission verzögerte.
Diese Gruppen haben sich gegenseitig und zu Lasten des Rechtsstaats ausgenutzt. Sie konnten mit der Unterstützung bestimmter Medien rechnen, die die öffentliche Meinung in die vorgegebene Richtung manipulieren, ihnen geht es schließlich auch um ein politisches Projekt.
Sie nahmen übliche finanzpolitische Praktiken des Regierens zum Anlass, bei denen es sich genau genommen um Haushaltstricksereien („pedaladas fiscais“) handelt, um Dilma aus der Regierung zu entfernen. Aus guten Gründen habe ich selbst Kritik an der Regierung geübt, aber ich kann kein Amtsenthebungsverfahren ohne Feststellung eines Amtsmissbrauchs unterstützen. Wenn es möglich ist, dass eine nicht in die Regierungsverantwortung gewählte Gruppe im Kongress die Mechanismen des demokratischen Systems zum eigenen Vorteil aushebeln kann, wird eine permanente Instabilität geschaffen.
Glauben Sie, dass Dilma Rousseff als erste gewählte Präsidentin der Republik auch sexistischer Intoleranz zum Opfer fiel?
Wenn wir die Debatte um ihre Regierungsarbeit einmal außer Acht lassen, ist kaum zu verhehlen, dass der Genderaspekt eine Rolle spielt. Abgesehen von lobenswerten Ausnahmen glaubt die Mehrheit der Männer nicht daran, dass sich Frauen als Führungspersonen mit Regierungsverantwortung eignen. Noch nicht einmal zehn Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus werden von Frauen besetzt, obwohl 52 Prozent aller Wähler Frauen sind. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts haben wir 78 Jahre gebraucht, um eine Frau zur Präsidentin der Republik zu wählen. Die simple Tatsache, dass Dilma an die Macht gekommen ist und darüber hinaus noch aus dem linken Spektrum kommt, ist ursächlich für die mangelnde Bereitschaft, mit ihr kooperieren zu wollen. Öffentlich würde das allerdings niemand zugeben.
Was waren die größten Fehler der PT als regierende Partei?
Die PT-Regierungen haben keine wirklich demokratische Politik für die Zivilgesellschaft gemacht. Sie nutzten den durch die Koalition gestützten Präsidentialismus und schufen eine breite politisch-ideologische Allianz, missachteten jedoch ihre historisch gewachsene Verantwortung. Ebenso missachteten sie die Eigenständigkeit von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.
Es kam hier meines Erachtens zu einer gewissen Einverleibung. Zum Beispiel ist es Lula gelungen, oppositionelle Arbeiterorganisationen aufzulösen. Zehn Prozent der Gewerkschaftssteuer gingen nur noch an Dachgewerkschaften, wodurch eine von ihrer Basis distanzierte Gewerkschaftselite geschaffen wurde. Anstatt das Volk zu mobilisieren, machte sich die Regierung von einer klar definierbaren, parlamentarischen und klientelistischen Basis abhängig.
Die Basis, die sich gegen Dilma gerichtet hat.
In Wahrheit hat die PT bereits vor der Wahl Lulas kapituliert, wie die Veröffentlichung des Briefes an die Brasilianer und die darin enthaltenen Informationen zu den mit dem Internationalen Währungsfonds eingegangenen wirtschaftspolitischen Verpflichtungen zeigen. Wir haben nach wie vor ein regressives Steuersystem, das sich lediglich auf die Besteuerung des Einkommens und des Konsums konzentriert, während Gewinne und Dividenden weiterhin steuerfrei oder niedrig besteuert bleiben. Bedauerlicherweise fehlte es diesen Regierungen an politischem Willen oder schlichtweg an Mut, um die von ihnen erhofften Veränderungen durchzusetzen.
Was ist von der Regierung Temer zu erwarten?
Es wird eine Radikalisierung finanzpolitischer Sparmaßnahmen sowie extreme Neuregelungen in anderen Bereichen geben. Temer hat angekündigt, geplante Ausgaben für den Gesundheits- und Bildungsbereich im aktuellen Haushalt als optional deklarieren zu wollen und die Entscheidungsgewalt darüber der aktuell in der Regierungsverantwortung stehenden Person überlassen zu wollen. Die PMDB plant eine Reform der sozialen Vorsorge, ohne sich dazu verpflichtet zu fühlen, bisherige Errungenschaften beizubehalten.
Außerdem sollen manche Rechte eingeschränkt werden. Die Logik entspricht derjenigen der Haushaltsanpassungen: Die Rechnung der Krise wird auf die Arbeiter abgewälzt. Man spricht von Privatisierungen im großen Stil, das Erbe des Landes wird preisgegeben. Dialogbereitschaft oder eine Beachtung der Bedürfnisse der Bevölkerung wird es bei der neuen Regierung nicht geben.
Trifft die Krise der PT die Linke als Ganze?
Auf der ganzen Welt werden linke Strategien in Schach gehalten. Aber sie werden neu gestaltet, aktualisiert. Neue Parteien entstehen in Europa, beispielsweise Podemos in Spanien oder auch Syriza in Griechenland. Neue Paradigmen werden gesucht, die auf einem radikalen Verständnis von Demokratie, auf einem Bruch mit der Parteienbürokratie und auf einem Ende der durch politische Galionsfiguren geschaffen Hierarchie aufbauen. Die Krise der PT könnte diesen Prozess verzögern.
Meiner Einschätzung nach erleben wir das Ende eines historischen und sozialen Zyklus. Die Übergangsphase ist immer schmerzhaft, weil man nicht mit Klarheit erkennen kann, was sich an ihrem Ende befindet. Es ist an der Zeit, die politische Kultur zu überdenken, sie offener und pluralistischer zu gestalten. Wir müssen die Art und Weise, wie wir um Macht ringen und diese ausüben, neu bewerten. Wir müssen Paradigmen neu denken, das verlangt viel Bescheidenheit und Selbstkritik. Die Modelle, die wir einst verteidigten, haben sich erschöpft.
Wir müssen außerdem unsere Beziehung zur Umwelt neu bewerten. Es ist nicht mehr tragbar, ein räuberisches Entwicklungsmodell beizubehalten. Das ist es, was uns zur Gründung der neuen Partei Raiz inspiriert. Ich besitze eine mehr als 40-jährige politische Erfahrung und sehe mich in der Pflicht, alles neu zu erlernen.