Nummer 358 - April 2004 | Stadtentwicklung

Die Peripherie im Zentrum

Die Rehabilitierung der Altstädte führt zu neuem sozialen Ausschluss

Das reiche und vielfältige architektonische und städtebauliche Erbe der Altstädte Lateinamerikas zeigt sich sowohl dort, wo sich zentrale städtischen Funktionen befinden, als auch in den Vierteln, die heute eine vorwiegend arme Bevölkerung beherbergen. Der Erhalt dieser historischen Zentren ist in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Thema der Politik in lateinamerikanischen Städten avanciert. Viele Stadtregierungen führen nun teils Schutz- und Rettungsprogramme im großen Maßstab für ihr gebautes kulturelles Erbe durch. Diese Programme sind jedoch mehr auf Denkmalschutzaspekte und die Kommerzialisierung der Gebäude gerichtet, als an sozialen Problemen orientiert.

Victor Delgadillo

Die in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika durchgeführten Altstadterhaltungsprogramme haben alle etwas gemein. Sie konzentrieren öffentliche und private Investitionen in den Zonen, die für Immobiliengeschäfte und Tourismus am interessantesten sind. Das heißt, in den städtischen Räumen, die herausragende Gebäude und malerische städtebauliche Ensembles beherbergen, und wo Banken und Dienstleistungsunternehmen für obere Einkommensschichten ihren Sitz haben. Bis in die heruntergekommenen und von Armen dicht bewohnten Viertel, die ein ebenso reiches architektonisches Erbe vorweisen können, reichen die Maßnahmen jedoch nicht. So vertiefen sie räumliche und soziale Differenzen und vertreiben in einigen Fällen sogar die ansässige Bevölkerung.
In Buenos Aires wird durch die Investitionen eine touristische Achse privilegiert (Defensa – Bálcarce und um den Plaza Dorrego), in Havanna konzentrieren sich die Maßnahmen auf die touristische Zone (zwischen Plaza de Armas, Plaza Vieja und Plaza de la Catedral sowie der Straße Obispo), in Mexiko Stadt investiert die „linke“ Stadtregierung 50 Millionen US-Dollar erneut in den Central Business District (CBO), das heißt in eine Zone, die zehn Jahre zuvor bereits „gerettet“ worden war.
In all diesen Städten gibt es aber auch punktuelle Maßnahmen und Projekte für die Rehabilitierung von verfallenden Wohngebäuden. In Buenos Aires wurden zwischen 1990 und 1995 die „conventillos“ (Erklärung siehe unten) des so genannten „Manzana de San Francisco“ (manzana = Häuserblock) rehabilitiert, in Havanna werden Verbesserungsmaßnahmen im Viertel „San Isidro“ realisiert und in Mexiko Stadt wurden seit 1997 einige „vecindades“ (Erklärung siehe unten) renoviert. Doch ist die Zahl der instandgesetzten Wohnungen sehr niedrig.
Allen Programmen liegt die Auffassung zu Grunde, dass die Altstadt ein profitables Kapital darstellt und dass ihre Erhaltung den Tourismus fördere – und zwar in so großem Maße, dass genügend Mittel zurückfließen würden, um die Kontinuität der Maßnahmen zu garantieren. Mit Ausnahme von Havanna passiert gerade dies jedoch nicht, denn die öffentlichen Investitionen werden nicht zurückgewonnen, sondern als Anreiz für private Investitionen und Zuschuss für kommerzialisierte Immobilien verstanden.
Angesichts der in den letzten dreißig Jahren umgesetzten Erhaltungsprogramme deutet alles darauf hin, dass die lateinamerikanischen Altstädte kontinuierlich auseinanderfallen werden. Die Unterschiede zwischen erhaltenen und vergessenen Zonen verstärken sich. Teile des historischen Zentrums bleiben gut in Schuss, andere werden zu Elendsquartieren.

Armut inmitten des architektonischen Reichtums
Die verschiedenen soziokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen haben im Laufe der Geschichte alle lateinamerikanischen Altstädte höchst individuell geprägt. Sie weisen aber auch einige gemeinsame Merkmale auf und haben vor allem sehr ähnliche Probleme. Bis Ende des 19. Jahrhunderts machten die Altstädte praktisch noch die Gesamtstadt aus. Die heutzutage relativ wenigen Hektar des Zentrums beherbergen bis heute wichtige Teile der Verwaltung und sind auch für den Handel und den Dienstleistungsbereich bedeutend. Gleichzeitig entwickelten sich jedoch Räume mit starken sozialen Unterschiede. Der Abriss der kolonialen Gebäude genau wie ihr geplanter Verfall taten dazu das ihre. Die Herausbildung eines CBOs (Central Business District) zum Ende des 19. Jahrhunderts veränderte Nutzung wie Bild der Altstädte.
Trotz ihrer zentralen Lage und der täglichen Besucherströme, haben sich große Teile der Innenstädte in Elendsviertel verwandelt. Und trotz der Entvölkerung durch die Dominanz des Dienstleistungssektor, beherbergen die Altstädte weiterhin Tausende von Armen, unter ihnen Indigene, Obdachlose und Straßenkinder. Die Wohnbedingungen sind dort besonders prekär: in den verfallenden Häusern findet man Überbelegung, höchst unzureichende sanitäre Anlagen, informelle Mietverhältnisse, Besetzungen, und es herrscht eine hohe Einsturzgefahr. Diese Slums bieten denjenigen Armen Wohnraum, die sonst keine Alternativen haben. Ihre zentrale Lage bietet den Leuten viele Arbeitsmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe und billige Wohnungsmieten – aber sehr schlechte Wohnbedingungen.
Die Armut kontrastiert mit den prunkvollen Gebäuden. Der vorherrschende Typus des herrschaftlichen Patio-Hauses, der über 400 Jahre hinweg in immer neuen Varianten wiederholt wurde, ist aber ab dem 19. Jahrhundert umgenutzt worden. Seit dieser Zeit ist ein neuer Wohnraumtyp im Entstehen: die verlassenen Bürgerhäuser wurden in immer kleiner werdende Mieträume eingeteilt. Unter verschiedenen Namen ist diese Wohnform in ganz Lateinamerika präsent: vecindades, cortiços, inquilinatos, conventillos, ciudadelas, und so weiter.
Altstädte sind die am häufigsten frequentierten und durchquerten Stadtgebiete. Die Altstadt von Quito hat 100.000 Einwohner, wird aber täglich von 300.000 Personen besucht, die von Santo Domingo hat 10.000 Einwohner und 65.000 Besucher, und die Altstadt Santiagos wird sogar von circa 1,8 Millionen Menschen am Tag aufgesucht. Entsprechende Verkehrsdichten und eine hohe Belastung des Nahverkehrs sind die Folge.
Die Rolle vieler Altstädte für die Gesamtstadt als Zentren des informellen Handels im regionalen Maßstab verursacht weitere Probleme. Die Straßen werden von Massen von HändlerInnen benutzt, Wohnungen verwandeln sich in Lager. Die Verwaltungen versuchen durch Verhandlungen und Zwang die StraßenhändlerInnen in ausgewiesenen Gegenden und in formellen Märkten unterzubringen. Teilweise zeigten diese Maßnahmen Wirkung, so dass StraßenhändlerInnen aus eingen Altstätdten gverbannt wurden. Doch politischer Kuhhandel und die Wirtschaftsnot bringen die informellen HändlerInnen immer wieder auf die Straße.

Neue Tendenzen bei Stadtentwicklung und -verwaltung
Die Verstädterung erreicht in Lateinamerika langsam ihr Maximum. Gleichzeitig löst die internationale Migration die Land-Stadtwanderungen ab: MexikanerInnen gehen nun in die USA, PeruanerInnen nach Japan, EcuadorianerInnen nach Spanien.
Die Abnahme des Migrationsdrucks und der kontinuierliche Verfall ist in den Altstadtzentren massiv spürbar: zwischen 1990 und 2000 verlor die Altstadt von Quito 42 Prozent ihrer Bevölkerung, die von Buenos Aires 20 Prozent und die von Santiago 17 Prozent. Dies bedeutet auch den Verlust von sozialen Strukturen, die nicht durch Erhaltungs- und Revitalisierungsprogramme ersetzt werden können. Entvölkerungsprozesse finden aber schon seit Jahrzehnten statt, während gleichzeitig Altstadterhaltungsprogramme durchgeführt wurden, die laut ihrer Statuten diesen Trend umkehren sollten. Der Bevölkerungsverlust ist durch diese Maßnahmen nicht zu stoppen, vielleicht tragen sie sogar zu ihm bei. Das Erhaltungsprogramm der Altstadt von Salvador da Bahía in Brasilien von 1992 bis 1994 hatte sogar explizit zum Ziel, die Armen zu entfernen, um die „gerettete Altstadt“ dem Tourismus zu überlassen.
Die mangelnde Ausnutzung der existierenden Infrastruktur sowie der sozialen Einrichtungen und die Unmöglichkeit, die Altstadt als einwohnerfreies Museum zu retten, machten aber Wiederbevölkerungsprogramme sinnvoll. Zudem böten diese eine wichtige Alternative zur Ausdehnung der Städte an ihrer Peripherie, wo Infrastruktur teuer ist und soziale Einrichtungen fehlen.
So suchen einige Stadtverwaltungen auch nach Investoren, die Rehabilitierungs- und Erhaltungskosten von Wohngebäuden bezahlen können und wollen. Da diese Stadtgebiete jedoch als gefährliche Gegenden gelten, würden eben jene dort nicht wohnen, die sich die Miete in renovierten Gebäuden leisten könnten. Nur der größte Investor Mexikos versucht sich daher als Pionier und hat seit 2001 63 Gebäude in der Altstadt gekauft. Fünf von ihnen wurden bereits als Mietwohnungen für obere Einkommensschichten hergerichtet.
Im letzten Jahrzehnt haben politische Reformen auch den alten Gegensatz öffentlich – privat aufgehoben. Privatinvestoren nehmen nun auch an der Durchführung von Altstadterhaltungsprogrammen teil. In den 90er Jahren wurden die „Corporación para el Desarrollo“ (Entwicklungskorporation) in Santiago, die „Empresa del Centro Histórico“ (Altstadtunternehmen) in Quito, und das „Fideicomiso Centro Histórico“ (Altstadttreuhand) in Mexiko-Stadt gegründet – letztere wurde allerdings 2001 verstaatlicht. Bei diesem Konzept stehen die Investitionsrückgewinnung und der Ausbau von Marktnischen im Vordergrund. Machbarkeitsstudien ersetzen die Planung, politische Entscheidungen werden durch wirtschaftliche ersetzt.
Sogar in Havanna bekam die „Oficina del Historiador“ 1993 die Erlaubnis, ausländische Investitionen für die Altstadterhaltung für touristische Zwecke zu werben. Die Gewinne werden in die zerfallenden historischen Viertel rückinvestiert, den Rest bekommt die kubanische Regierung.

Drei Jahrzehnte Altstadterhaltung
Die ersten Altstadterhaltungsmaßnahmen in Lateinamerika begannen Ende der 60er Jahre. Die Restaurierung öffentlicher Räume und von Fassaden entlang „touristischer Achsen“, Klöster, Kirchen und pittoresker Plätze standen auf dem Programm. In den 70er Jahren begann man diese Maßnahmen breiter anzulegen, Denkmalschutzgesetze wurden aktualisiert. In den 80er Jahren wurden vor allem herausragende Architekturdenkmale restauriert, um ihnen eine „würdige“ Nutzung entsprechend ihrer Denkmalcharakteristika zu geben. So wurden sie Sitz öffentlicher und privater Institutionen, von Stiftungen, Museen, Banken, Hotels oder von Geschäften der Mittel- und Oberschicht. In den 90er Jahren wurde eine Vielzahl solcher Projekte vor allem durch private Investoren durchgeführt.
In Salvador da Bahía und Quito gab es bereits drei Generationen von Erhaltungsprogrammen. In Mexiko gab es vier Programme, die seit 1967 die gleiche Altstadtzone immer wieder „retteten“: es handelt sich dabei um den „Business District“, eine heute unbewohnte Zone, bestehend aus Gebäuden, die Büros und kommerzielle Einrichtungen der Mittelschicht beherbergen. Im Rahmen des Programms „Échame una manito“ (etwa „Unterstütz mich“), in den Jahren 91 bis 94 durchgeführt, wurde diese Zone zum dritten Mal restauriert und der Straßenhandel aus dem CBO vertrieben und in extra eingerichteten Plätze untergebracht. Im Jahre 2001 hat die „linksorientierte“ lokale Regierung zum vierten Mal ein Erhaltungsprogramm für die gleiche Altstadtzone begonnen. Komischerweise hatte López Obrador, der Bürgermeister Mexiko-Stadts, vorher die Realisierung zweier Projekte abgelehnt, die von der ehemaligen Regierung vorgeschlagen wurden, nämlich die Umbildung des Zócalos und den Bau eines Bürgermeisteramts. Plötzlich jedoch änderte der Bürgermeister seine Meinung und entschied, die Investition von 50 Millionen US Dollar zu tätigen, um den Bussiness District zu renovieren. Der dahinter stehende Grund ist López Obradors geplante Präsidentschaftskandidatur für die Wahlen 2006. Die Altstadt soll als Projektionsfläche politischer Machtspiele dienen.

Wenig Wohnungsprojekte
Wohnungsrehabilitierungen in Altstadtzentren sind selten. Mit Ausnahme des Wiederaufbauprogramms in Mexiko-Stadt nach dem Erdbeben von 1985 waren die zentralen Stadtviertel uninteressant für die städtische Wohnungspolitik. So war der Wohnungsmarkt der Zentren höchstens interessant als Zwischenstation für Zuwanderer, die in die Peripherie zogen, sobald sie einen besseren Job hatten.
Die einzig bedeutenden Projekte der Wohnungsrehabilitierung sind das Programm „Vivienda solidaria“ des Altstadtunternehmens von Quito, das Wiederbevölkerungsprogramm in Santiago de Chile und ein Notprogramm aus dem Jahre 2003 in Mexiko Stadt, mit dem die Stadtregierung 54 einsturzgefährdete Gebäude enteignete. Allerdings scheinen sie angesichts der hohen anderweitig verwendeten Summen nicht mehr als ein Alibi zu sein, um die Unterstützung der Armen in der Altstadt zu demonstrieren.
Effiziente Slumverbesserungsprogramme sind nicht entwickelt worden und die hohen Zuschüsse für die bisherigen Programme verbieten eine Ausweitung von Maßnahmen, wie es das Ausmaß der Slumproblematik verlangen würde.
Ein Beispiel für ein solches Projekt ist das „RecupBoca Programm 1984“ in Buenos Aires. 1990 kaufte die lokale Regierung 21 „conventillos“ im Stadtteil La Boca, von denen 13 in neun Jahren rehabilitiert wurden. So würde man 1.733 Jahren brauchen, um die übrigen 1.200 bestehenden „conventillos“ zu rehabilitieren.
In Mexiko-Stadt sind von 82 ausgewählten bewohnten und einsturzgefährdeten denkmalgeschützten Häusern zwischen 1998 und 2003 ganze sechs rehabilitiert worden. Hier würde es in etwa 68 Jahre brauchen, um die Arbeiten in diesem Tempo abzuschließen. Doch so lange werden die Gebäude vorraussichtlich nicht mehr stehen.
Die Rettung des Weltkulturerbes der Menschheit und andere Programme der UNESCO werden gern angeführt, um die profitablen Teile der Altstadt zu erhalten. Abseits gelegene Altstadtzonen werden jedoch dem Verfall überlassen. Vielleicht werden sie von den informellen Globalisierungskräften völlig erobert werden, und ein neuer Wohnungstyp wird auftauchen: „Wohnen in Ruinen“ – unter Lebensgefahr für die Bewohner. Andererseits sind Wohnungsrehabilitierungsprojekte vorstellbar, die mit geringeren Investitionen die Altstädte in integrativer Weise und unter Berücksichtigung sozialer Aspekte retten können.

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