Literatur | Nummer 197 - November 1990

Die Rasenden Maos

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Wer sich für die peruanische Guerillabewegung Sendero Luminoso interessiert, ist auf spanischsprachige und wenige deutsche Artikel angewiesen. Eine fundierte deutschsprachige Analyse steht aus, und leider werden wir auf sie auch noch weiter warten müssen. Wer sie sich von dem Buch der beiden französischen Journalisten Alain Hertoghe und Alain Labrousse “Die Koksguerilla” versprochen hat, wird enttäuscht.
Hertoghe und Labrousse versuchen, durch den historischen Rückgriff bis auf das Jahr 1962 das Entstehen Senderos an der Universität Ayacucho nachzuzeichnen und zu erklären. Die Strategien und Entwicklungen der letzten Jahre nehmen breiten Raum ein, ebenso wie die Einbettung der Analyse Senderos in den gesell­schaftlichen Kontext mit deutlichen Sympathien der Verfasser für die peruani­sche Volksbewegung.
Der Analyse von Hertoghe und Labrousse ist in vielen Punkten durchaus nicht falsch. Die aufgeworfenen Fragen nach den sozioökonomischen Wurzeln für das Wachsen Senderos in den letzten Jahren und nach der Bedeutung der ethnischen Problematik Perus für die Existenz einer Guerilla wie Sendero sind richtig gestellt. Die Antworten werden durch zahlreiche Zitate und Originalmaterialien belegt. Aber warum mußten die Verfasser (oder der Übersetzer?) mit dem Bügel­eisen eines vermeintlich journalistischen Stils über die Inhalte hinwegfahren? Was vielleicht den Versuch darstellen sollte, das Buch auch für Nicht-Exper­tInnen lesbar zu machen, wird im Ergebnis zu einem locker-flockigen Text, aus dessen Formulierungshülsen man oft mühsam die Inhalte schälen muß, wenn diese nicht schon völlig auf der Strecke geblieben sind. Eine Kostprobe aus einem Abschnitt über MigrantInnen in Lima: “In dieser ausweglosen Lage besinnen sich die “Eindringlinge” ihrer Traditionen der Solidarität in der Indiogemeinschaft und begründen eine Parallelgesellschaft, “informeller Sektor” genannt. So kommen die Anden nach Lima: Für den Pfad (gemeint ist Sendero, d.V.) ein ver­trautes Quetschua-Universum, in dem er sich “wie ein Fisch im Wasser” bewegen kann…” (S.149). Wenn pauschal “Traditionen der Solidarität” behauptet werden, Sendero bruchlos in eine Linie zu ihnen gestellt wird und dazu der Informelle Sektor zu einer Kollektivgründung der “Indiogemeinschaft” wird, helfen auch differenziertere Beschreibungen an anderer Stelle nicht mehr viel. Allzuoft ver­mischen sich Klischees und Analyse bis hin zu Formulierungen, die sachlich Falsches suggerieren. Die Streitereien zwischen Dorfgemeinschaften werden im Sprachgebrauch der Verfasser zu “Stammeskriegen”; zwecks Vergleiches mit den islamischen Fundamentalisten im Iran (die Rasenden Gottes) werden für Sendero die “Rasenden Maos” bemüht. Wo rasen sie wohl? Vielleicht als Fische durch den Informellen Sektor?
Schade, daß Hertoghe und Labrousse aus dem ihnen offensichtlich vorliegenden guten und umfangreichen Material nicht mehr gemacht haben, als ein Versatz­stück aus analytischen Abschnitten und Reportagen im Illustriertenstil.

Alain Hertoghe, Alain Labrousse: Die Koksguerilla; Berlin 1990

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