Kuba | Nummer 233 - November 1993

Die Revolution ist von jeglichem Idealismus geheilt

Interview mit Abel Prieto

Die Wirtschaftskrise zwingt Kuba zu immer neuen Zugeständnissen. Noch spielt Fidel Castro die entscheidende Rolle in der Politik der Karibikinsel, doch in zunehmendem Maße kommt auch die jüngere Generation zum Zuge. Der Schriftsteller Abel Prieto ist Vorsitzender des kubanischen Künstlerverbandes UNEAC und mit 42 Jahren drittjüngstes Mitglied im Politbüro. Die Lateinamerika Nachrichten hatten kürzlich in Havanna die Gelegenheit zu einem Interview mit dem eher unkonventionellen Vertreter der zweiten Revolutionsgeneration.

Hinnerk Berlekamp, Jens Holst

LN: Am 26. Juli wurde der Dollarbesitz für Kubaner offiziell erlaubt. Fidel Castro sprach bei der Verkündigung dieser Maßnahme nicht mehr von der Rettung des Sozialismus und des Vaterlandes, sondern nur noch von der Bewahrung der Errungenschaften der Revolution. Können nur kapitalistische Maßnahmen Kuba aus der schwersten Krise seiner Geschichte retten?
Abel Prieto: Diese Änderung des politischen Diskurses hat selbstverständlich etwas mit den derzeitigen Umwandlungen zu tun, und mit dem sozialen Preis, den einige unserer Maßnahmen mit sich bringen werden. Fidel hat in seiner Rede vom 26. Juli einen Begriff benutzt, den es bisher in der kubanischen Revolution nicht gegeben hat, das Wort Konzession. Die Devisenfreigabe ist eindeutig auf die Leute ausgerichtet. Das ist eine der Ursachen für die Glaubwürdigkeit des politischen Diskurses der Revolution, daß offen mit den Leuten geredet wird, daß offen gesagt wird, daß es sich dabei um ein Zugeständnis handelt. Und das ist gleichzeitig das Drama im Augenblick. Wir haben nur einen Weg: entweder wir kapitulieren oder wir versuchen, mit Zugeständnissen, Tricks und kapitalistischen Rezepten die Errungenschaften des Sozialismus, die Gleichheit so weit wie möglich zu bewahren.

Wie können also die Errungenschaften der Revolution bewahrt werden, wenn die Mittel, die Kuba derzeit zur Verfügung stehen, derart beschränkt sind? Es gibt viele Ärzte, aber es fehlt an Medizin. Womit sollen die Schulbildung und die Gesundheitsversorgung für alle finanziert werden?
Wir wollen auf den Gebieten weitermachen, auf denen wir angefangen haben und die bekannt sind: Tourismus, Biotechnologie, pharmazeutische Industrie, Nickel, Suche nach eigenen Ölvorkommen, traditionelle Exportgüter wie Zucker, Tabak usw. Durch eine möglichst gerechte Verteilung der Einnahmen aus den herkömmlichen wie aus den neuen Wirtschaftsbereichen wollen wir erreichen, daß eben diese Errungenschaften am wenigsten Schaden nehmen. Das ist unsere Idee, und das widerspricht natürlich einer Schocktherapie oder einer drastischen Anhebung der Preise. Wenn wir das Problem des öffentlichen Personenverkehrs dadurch lösen, daß wir in Übereinstimmung mit dem Ersatzteil- und Benzin
mangel die Preise erhöhen – wen treffen wir damit? Das Problem ist z.B. auch, daß es auf der Straße viel Geld gibt, das aber nicht gleichmäßig verteilt ist. Es wird von 11 Monatslöhnen gesprochen, die auf der Straße zirkulieren und für die es kein Angebot gibt. Das ist aber überhaupt nicht gleichmäßig verteilt, es gibt Leute mit sehr niedrigem Einkommen. Es ist also große Vorsicht geboten. Die Unterstützung der politischen Führung beruht im wesentlichen darauf, daß die Leute merken, daß das Wenige, was es in diesem Land z.Zt. gibt, gerecht verteilt ist.

Aber wird nicht gerade das Prinzip der gleichmäßigen Verteilung, eins der Grundprinzipien der kubanischen Revolution, durch die neue Dollarpolitik unterhöhlt?
Der Dollar war ja illegal bereits im Umlauf. Durch die Legalisierung des Dollarbesitzes kannst du erreichen, daß die Leute mehr schicken. Die Gleichheit, ein Campesino lebt beispielsweise nicht
genauso wie jemand in der Stadt. Es gibt Campesinos, die ½ Million Pesos auf der Bank haben, zwei oder drei Autos, einen LKW, sie haben immer Benzin, denn sie kaufen es auf dem Schwarzmarkt, wo sie alles kaufen können. Wir haben bereits mit einer gewissen Ungleichheit gelebt. Ich bin mit der Einschätzung einverstanden, daß die jüngsten Maßnahmen größere Unterschiede hervorrufen werden. Unsere Herausforderung ist, entweder zu kapitulieren bzw. alles, was wir geschafft haben, dem Sturm der Revanchisten in Miami zu überlassen, den Faschisten, die es auch gibt und deren Ziele in ihrem Diskurs offensichtlich werden, oder mit diesen Zugeständnissen zu leben: Oder glaubst du, der Tourismus ist unter diesen Bedingungen nicht hochgradig schädlich für die Bevölkerung? Glaubst du, das hat nicht seinen Preis? Die ganzen Auslandsinvestitionen, all das hat seinen Preis.

Das bedeutet letztlich, daß zwar einige Errungenschaften des Sozialismus zu retten sind, aber der Sozialismus als System kaum Überlebenschancen hat. Heißt das, zu einem möglichst sozialen Kapitalismus zurückzukehren?
Wir werden beispielsweise nicht auf den Staatsbesitz an den wichtigsten Produktionsmitteln verzichten. Wir gründen zwar joint-venture-Unternehmen, aber wir werden keinen Ausverkauf des Landes zulassen. Wir werden Privatisierungen vornehmen, das Gesetz des Marktes anwenden, wir werden andere Wege im vorgegebenen Rahmen suchen. Die andere Alternative wäre die Kapitulation. Die Dichotomie, die sich uns bietet, ist so einfach, daß sie brutal, hart, extrem hart ist. Entweder wir retten ein Projekt, das abgeschliffen werden kann, das an einigen Stellen entarten kann, oder wir kapitulieren. Mit der zweiten Alternative würden wir alles verlieren, die Alternative der Kapitulation bedeutet einen abhängigen Kapitalismus in diesem Land.

Bis jetzt haben wir über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen geredet. Nun kommen wir zur rein politischen Ebene. Manche Beobachter vergleichen Kuba mit China, weil es sehr wohl eine ökonomische Liberalisierung gibt, die allerdings nicht von einer gleich schnellen politischen Liberalisierung begleitet ist. Stimmt dieser Vergleich zwischen beiden Ländern, abgesehen von den unübersehbaren Unterschieden, die es natürlich gibt?
Ich war in China. Das war eine hochinteressante Erfahrung, was die Chinesen machen. Sie sind auf wirtschaftlichem Gebiet nicht wesentlich weiter. Ich glaube, der Vergleich hinkt aus vielen Gründen. U.a. gibt es in Kuba noch eine historische Führung, nämlich die der Revolution, während es in China nur noch ein paar Überlebende der historischen Führung gibt. Wir führen alle Veränderungen mit der historischen Führung durch, mit einer Partei, deren Vorstand aus mehreren Generationen zusammengesetzt ist. Es ist interessant zu sehen, wie hier in Kuba versucht wurde, die Präsenz verschiedener Generationen in der Führung der Staatspartei zu gewährleisten.

Trotz dieser aus mehreren Generationen zusammengesetzten poltischen Führung hat einer großer Freund der kubanischen Revolution, Eduardo Galeano, vor kurzem gesagt: “Die kubanische Revolution erlebt eine zunehmende Spannung zwischen den in ihr enthaltenen verändernden Energien und ihren versteinerten Machtstrukturen.” Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Diese Kritik kommt zwar von einem großen Freund der kubanischen Revolution, aber ich glaube nicht, daß die Machtstrukturen versteinert sein können. Das hat sich zum Beispiel gerade in der Nationalversammlung gezeigt, in den Veränderungen, die dort stattgefunden haben, in ihrem neuen Arbeitsstil.

Was bisher eher ein Versprechen denn die Realität ist.
Ich denke, das ist schon Wirklichkeit. Die Nationalversammlung wird natürlich kein Erdöl finden. Wenn die Nationalversammlung schließlich Öl finden würde, wäre das vielleicht eine solche Realität? Es ist kein Wunder geschehen, aber es handelt sich um einen neuen Arbeitsstil, die Führungs- und Arbeitsstile haben sich auf Regierungs- und Kommunalebene sehr wohl gewandelt. All dies, diesen veränderten Arbeitsstil, sieht man deutlicher auf kommunaler Ebene und v.a. außerhalb von Havanna als in der globalen Politik. Ich glaube nicht, daß man da nicht von einer versteinerten Macht- und Regierungsstruktur sprechen kann. Unter den jetzigen Bedingungen des Drucks und der Feindseligkeiten von außen können wir allerdings, und ich glaube, Galeano weiß das sehr genau, die Einheit nicht opfern, das können wir nicht auf’s Spiel setzen. Jede Veränderung zur Verbesserung des politischen Systems in Kuba, damit es besser läuft, damit es eine wirksamere Mitbestimmung gibt, muß erfolgen, ohne diese Einheit zu gefährden. … Wir müssen sehr vorsichtig agieren, sowohl auf ökonomischem als auch auf politischem Gebiet. Wir können uns keine Krise erlauben.

Aber die wirtschaftliche Krise ist schon da …
Ja, wir dürfen uns keine politische Krise erlauben. Wir dürfen den Amerikanern keinen Vorwand liefern, sonst drücken sie uns eine humanitäre Invasion auf. Wir müssen hart daran arbeiten, daß die Leute die Situation verstehen, unsere Maßnahmen nachvollziehen können. Die Leute werden zu dem Schluß kommen, daß sich einige tatsächlich bereichern können, aber in dem Maße, wie sich die Wirtschaft erholt, auch die große Mehrheit der Bevölkerung Nutzen davon haben wird. Um auf die Frage zurückzukommen, man muß mit Vorsicht, Intelligenz, Weisheit vorgehen, denn wir dürfen keine Anarchieäußerung zulassen, hier darf es keine Anarchie geben. Dieser Prozeß muß sehr vorsichtig und umsichtig erfolgen.

Die erste Konzession der kubanischen Revolution seit 1959!
Nein, sie wird nur zum ersten Mal im politischen Diskurs angewendet.

Dann zumindest das weitestgehende Zugeständnis, das die kubanische Revolution jemals gemacht hat.
Es ist zumindest eins der deutlichsten, der schmerzhaftesten Zugeständnisse, weil damit offiziell – inoffiziell war das ja schon so – zwei Klassen von Kubanern anerkannt werden. Es gibt jetzt zwei Kategorien von Kubanern. Das bewirkt einen moralischen Schaden, dafür müssen wir einen moralischen Preis bezahlen. Es entsteht eine neue Form der Ausrichtung, einerseits auf den Konsum und andererseits auf den Mangel. Das führt dazu, daß sich die Leute auf ganz verschiedene Arten prostituieren, nicht nur so wie die Prostituierten auf der Va Avenida, es gibt auch eine Art intellektueller ‘jineteros’, die auch die Hotelhallen belagern, um an Einladungen heranzukommen, um aus dem Land herauszukommen oder ein paar Dollars zu verdienen. Der einzige Ausweg ist die Überwindung der Krise.

Carlos Lage sagt, er sieht noch kein Licht am Ende des Tunnels. Können Sie Licht erkennen?
Wir wissen bisher noch nicht, wie lang der Tunnel ist. Ich glaube sehr wohl, daß wir aus ihm herauskommen werden. Ich weiß weder wann, noch auf welchem Weg. Aber wir werden wieder herauskommen. Zunächst ist die kubanische Revolution von jeglichem Idealismus geheilt. Wir wissen nun, daß der neue Mensch bedauerlicherweise in weiter Ferne ist.

Bei den Wahlen vom Februar, die eher ein Plebiszit waren, zeigte sich, daß es eine Gruppe von DissidentInnen im Land gibt, die z.B. für keine/n der KandidatInnen und damit gegen das System gestimmt haben. Welche Rolle kann diese Gruppe in der kubanischen Gesellschaft spielen? Wenn die Kommunistische Partei die nationale Partei ist, was geschieht dann mit denjenigen, die nicht innerhalb dieser Partei sein möchten oder können? Welchen Spielraum haben die DissidentInnen in Kuba?
Im Augenblick keinen, sie haben keinen Spielraum.

Das bedeutet aber, daß ein Teil der Bevölkerung, wenn auch ein kleiner, nämlich rund 10%, ausgeschlossen bleibt.
Erstens bieten diese Leute keine Lösung. Zweitens ist es eine kleine Minderheit, die es aber sehr wohl gibt.

Bei den letzten Wahlen in Deutschland stimmte ein ähnlich großer Teil der Bevölkerung, nämlich rund 10%, für systemkritische Parteien, d.h. Kommunisten, Sozialisten, Grüne, der ganze Rest wählte die Parteien, die uneingeschränkt für das System stehen.
Diese Leute haben dieselbe Chance wie ein Kommunist, der in den USA Präsident werden will. Was hätte er für eine Chance mit einem kommunistischen Projekt? Keine! Diese Gruppe hat die reelle Chance, sich als Kandidat für die Delegierten der Basis aufstellen zu lassen. Diesmal haben sie sich nicht einmal aufstellen lassen. Wenn diese Minderheit einen politischen Spielraum fordert, dann müssen sie es nach unseren Spielregeln tun. Und unter diesen Spielregeln werden sie schwerlich Chancen haben. Es ist eben nicht alles darauf vorbereitet, daß Elizardo in die Nationalversammlung einzieht. Dazu muß er viele Hindernisse überwinden, denn unser politisches System ist ausgehend von der Vorstellung entworfen worden, daß die Revolutionäre die Situation beherrschen.

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