Mexiko | Nummer 341 - November 2002

Die Welt mit anderen Augen sehen

Gespräch mit dem mexikanischen Schriftsteller Natalio Hernández

Natalio Hernández zählt zu den einflussreichsten indigenen Lyrikern und Intellektuellen in Mexiko. Der gelernte Grundschullehrer, der 1947 in dem 500-Seelen-Dorf Lomas de Dorado in den Bergen der Provinz Veracruz geboren wurde und aufwuchs, lebt seit fast einem Vierteljahrhundert in Mexiko-Stadt. Er schreibt seit mehr als 20 Jahren in seiner Muttersprache Náhuatl, dem noch heute meistgesprochenen der über 60 in Mexiko registrierten indigenen Idiome. Zwei seiner Gedichtbände sind Yancuic Anahuac Cuicatl. Canto Nuevo de Anahuac (Neuer Gesang der Anahuac, 1993) und Papalocuital. Canto a las mariposas (Gesang an die Schmetterlinge, 1997). Hernández hat 1993 den ersten indigenen SchriftstellerInnenverband mitbegründet, seit 1997 organisiert er alljährlich das Literaturfestival „Fest des Wortes – Gesänge an die Vielfalt“ (Fiesta de la palabra – canto a la diversidad) und ist einer der Initiatoren einer Gesetzesinitiative über „linguistische Rechte“. Seit der Amtsübernahme durch Vicente Fox arbeitet er zudem in der Abteilung für interkulturelle und zweisprachige Erziehung des mexikanischen Bildungsministeriums.

Anne Huffschmid

Wenn von indigener Literatur die Rede ist, herrscht meist der Plural vor. Muss das literarische Schreiben von Indigenen stets zugleich als kultureller Widerstand gelesen werden?

Tatsächlich waren am Anfang die Indio-Bewegungen der Siebzigerjahre diejenigen, die gegen die „Zwangskastellanisierung“ zweisprachige Bildung forderten. In den Achtzigern wurden die ersten Akademien für indigene Sprachen gegründet, 1990 begannen wir Schreibenden uns zu treffen, es gab die ersten Symposien, Stipendienprogramme und Literaturpreise. Einerseits sollten dabei die prähispanischen Traditionen wiederbelebt werden, wie etwa der legendäre Nahua-Dichter Nezahualcóyotl, andererseits ging es um zeitgenössische Manifestation. Zweifellos hatte die indigene Literatur zuerst die Funktion politischer Poesie, die dem Kampf um die eigene Existenz und Anerkennung Ausdruck verleiht. Mit der Zeit und in den neuen Generationen, also denjenigen, in denen die heute zwischen 30- und 40-jährigen sind, wird diese Lyrik reifer. Sie befreit und löst sich von diesen Aufträgen und wird experimentierfreudiger. Die Wunden vernarben allmählich. Diejenigen, die nach uns kommen, sind längst nicht mehr so verletzt, machen nicht mehr so fordernde Literatur und haben die Last des Politischen ein wenig hinter sich gelassen.

Dabei weicht offenbar der Idee einer homogenen Kollektivstimme einer sozial unterdrückten Gruppe zunehmend die Diversität einzelner Stimmen. Ist indigene Literatur überhaupt auf einen Nenner zu bringen?

Wenn überhaupt, sollten wir von einer mesoamerikanischen Literatur sprechen, ausgehend davon, dass wir – über die Sprache hinaus – dem gemeinsamen Nenner der Kulturen Mesoamerikas entstammen. Der Begriff indigen hat diese koloniale Konnotation. Je reifer und souveräner wir werden, desto eher werden wir in der Lage sein, diesen kulturellen Wurzeln auf je eigene Weise in Bilder, Rhythmen, Metaphern und Stilen Ausdruck zu verleihen. Aber das braucht Zeit. Wir haben über 500 Jahre der Leugnung hinter uns und sogar von linguistischer Verfolgung, während derer die Kinder dafür bestraft wurden, die Sprache ihres Dorfes und ihrer Eltern zu sprechen. Da wuchsen Generationen heran, die voller Ressentiments gegenüber ihrer Muttersprache waren. So mussten wir die Dinge lange Zeit hinausschreien. Das muss man heute noch ab und zu, aber nicht ständig. Wir dachten immer, wir befinden uns am Rande der Gesellschaft. Dabei sind wir mitten im Zentrum. Während der nächsten 10, 20 Jahre werden wir eine Blüte indigener Literatur erleben.

Diese wird in Dutzenden verschiedener Sprachen verfasst. Was bedeutet diese Vielsprachigkeit, die sich paradoxerweise meist nur über das Spanische verständigen kann?

Über Jahrhunderte gab es von oben ein Projekt der Homogenisierung und Standardisierung. Dabei sind die einzelnen Regionen immer schon multikulturell und mehrsprachig gewesen. In meiner eigenen Heimat, der Sierra Huasteca, hätten wir als Nahuas in der Schule Otomi oder auch Huasteco lernen müssen, um mit unseren Nachbarn reden zu können. Diese Mehrsprachigkeit galt lange als Nachteil, mittlerweile sehen wir sie als enormen Reichtum. Denn Diversität ist das Paradigma des 21. Jahrhunderts, nicht nur für Mexiko, für die ganze Welt. Ich denke, die nachfolgenden Generationen werden automatisch in einem mehrsprachigen Kontext aufwachsen. Die Kinder in meiner Gemeinde benutzen heute schon mit sechs oder sieben ganz selbstverständlich, wenn auch mehr im Dorfleben als in der Schule, Spanisch und Náhuatl. Sie wertschätzen ihre Sprache und Kultur, von da aus greifen sie auf das Spanische zu und später wird sich auch das Englische für sie nicht mehr als aufgezwungene Fremdsprache anhören. Sondern als weitere Sprache, die die Welt mit anderen Augen zu sehen erlaubt. Und so wird es einen multilingualen Kontext geben, in dem ein horizontaler Dialog möglich wird – lokal aber ebenso international, also auch mit Englisch, Französisch oder Deutsch.

Sie selbst sind ja Ihr ganzes Leben lang zweisprachig gewesen.

Aber ich selbst habe etwa 45 Jahre gebraucht, um wahrhaft und bewusst bilingual zu werden, denn das Spanisch kann ich erst seit rund zehn Jahren wirklich genießen. Vorher war die Zweisprachigkeit aufgezwungen. In unseren Dörfern mussten Kinder und Frauen, die in ihrer Muttersprache redeten, sich noch zur Strafe mit Steinen in den Händen hinknien. Náhuatl und Spanisch haben immer in mir gekämpft. In den Achtzigerjahren sollte alles in Náhuatl sein. Ich sah gar nicht ein, dass das auch in Spanisch erscheinen sollte, es war schließlich mein Ureigenes. Bis zu meinem ersten Mestizen-Buch, darin gibt es Gedichte, die in Náhuatl zu mir gekommen sind und solche, die in Spanisch kamen. Letztes Jahr habe ich dann einen zweiten Durchbruch erlebt, als einige meiner Gedichte – teilweise sogar direkt – ins Englische übersetzt wurden. Das Buch heißt „Der Kolibri der Harmonie“, und es gibt darin Texte in Náhuatl, in Englisch und Spanisch. Ich will jetzt selber Englisch lernen, das hätte ich schon in der Sekundarschule tun müssen. Und dann muss ich auch Otomi noch besser sprechen lernen. Ich will die Vielfalt endlich leben und genießen.

Ist das Schreiben als einsamer Akt ein Risiko oder auch eine Herausforderung – oder vielleicht sogar eine Art Befreiung vom kommunitären Kollektiv?

Eine Herausforderung ist es auf jeden Fall. Und zwar genau die, die die indigenen Völker heute angesichts der Globalisierung leben. Als man mich vor zwanzig Jahren mit der Frage des Weltbürgertums konfrontierte, habe ich noch gesagt: “Wie grässlich! Ich bin doch kein Weltbürger, ich bin aus einem Dorf in Veracruz.” Heute ist mir klar, dass ich ein Bürger der Welt bin, mit einem eigenen Antlitz, einer Geschichte und einer Sprache. Das ist die Herausforderung für den Schriftsteller: wie kann er das Eigene im globalen Dorf bewahren?
Ich habe von den Banden gesprochen: Seit etwa zwanzig Jahren beteilige ich mich an der traditionellen Zeremonie, die wir Jahr für Jahr in meinem Heimatdorf machen, um den Göttern zu danken, die ihren heiligen Platz in der Huasteca haben. Und da bin ich Lehrling und Helfershelfer der Alten, ich nehme ihre Anweisungen entgegen. Viele sagen zu mir, wie kannst du das machen, wenn du doch längst ein internationaler Mensch bist. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wenn ich alle paar Monate in mein Dorf fahre, werde ich zu einem von ihnen, zum Allerkleinsten und Bescheidensten dieser Gemeinschaft.

Auf diese Differenz, und das Plädoyer für Diversität, wird immer wieder in den Reden der Zapatistas verwiesen. Welche Bedeutung messen Sie diesen bei der Verbreitung dieses Paradigmas bei?

Die zapatistische Armee hat nicht nur die sozialen und politischen Strukturen erschüttert sondern die Strukturen des Bewusstseins, bis in die intellektuellen und akademischen Sphären hinein. Hier ging es um mehr, um einen anderen Diskurs: das hegemoniale Modell ist 1994 wirklich gebrochen worden, die EZLN wird zum Katalysator für diese Reflektion und schafft Räume, für indigene und nicht-indigene Denker, Akademiker und Aktivisten. Die Idee stammt jedoch schon, wenn auch nicht mit diesen Worten, aus den Siebzigerjahren: auf dem ersten Indígena-Kongress 1974 haben wir auch schon Zeitungen in unseren Sprachen gefordert und eine Ausbildung, bei der wir das Spanische lernen, aber eben auch Tzeltal, Tzotzil und Tojolobal.

Seit dem Frühjahr 2001 ist kein öffentliches Wort von den sonst so wortgewaltigen Zapatistas zu vernehmen. Wie lesen Sie dieses Schweigen?

Das ist kein stummes Schweigen, sondern eines, das klingt. Ich denke, dass diese Gesellschaft lernen muss, die Arten von Stille zu entziffern. Das Schweigen der Völker seit vier- oder fünfhundert Jahren ist keine Stille, die nicht erklingen würde, die Menschen sind da, mit ihren Mechanismen des Überlebens und des Widerstands. Auch Chiapas schweigt ja nicht, im Innern gärt es doch. Es reicht nicht, darauf zu warten, dass Marcos spricht, um zu verstehen, was los ist. Man muss sich den Eingeweiden nähern, um dem Lärm dieses Schweigens zu lauschen. Und auch das, was daraus an Vorschlägen entsteht.

Schuld am Schweigen ist die Verfassungsreform über indigene Rechte und Kultur, die im April 2001 vom Kongress – im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf der parlamentarischen Friedenskommission COCOPA – so extrem verwässert wurde, dass die Zapatistas und viele indigene Gruppen das Reformpapier als Verrat bezeichneten und jede weitere Verhandlung mit Kongress oder Regierung ablehnen. Sie sind nun einer der Unterstützer der Gesetzesinitiative über „Linguistische Rechte“, die dem Parlament seit ein paar Jahren vorliegt. Widerspricht sich das?

Überhaupt nicht. Die so genannte COCOPA-Initiative ist eine Verfassungsreform, unser Entwurf ist auf einer anderen Ebene angesiedelt, nämlich als Ausführungsgesetz zu der 2001 beschlossenen Reform. Dazu muss man ein bisschen ausholen: Seit den Siebzigerjahren hinterfragt die indigene Bewegung das Modell einer homogenen und hegemonialen Kultur und Sprache. In den Achtzigerjahren tritt das etwas in den Hintergrund, Ende der Achtziger gewinnt die Forderung wieder an Gewicht und wird in der Mobilisierung um 1992 (der 500. Jahrestag der so genannten Entdeckung Amerikas, A.H.) unüberhörbar. Das mündet dann in den Verfassungsreformen von 1992, in der Mexiko erstmals als plurikulturelle Gesellschaft festgeschrieben wird. Doch dieser Paragraph bleibt zunächst folgenlos, nicht so sehr als totes Papier denn als Keimzelle, die auf ihre Zeit wartet, wie der Mais, der auch nicht stirbt, sondern auf fruchtbaren Boden wartet. Es gibt also keine Gesetze zu dieser Reform. Bei dem 1996 mit der EZLN unterzeichneten Abkommen von San Andres wird noch einmal ganz klar festgelegt, dass es ein Gesetz zur Förderung indigener Sprachen und Kulturen geben muss. 1997 gibt es dann einen Aufruf indigener SchriftstellerInnen über ethnische, linguistische und kulturelle Diversität und 1998 beginnen wir, die Initiative für eine multilinguale Staatspolitik auszuarbeiten. Die liegt erstmal in der Schublade, wie auch die COCOPA-Initiative, und erst in dieser Legislaturperiode wird sie wieder aufgegriffen. Es gab 10 Anhörungen zum Thema und gegenwärtig liegen dem Kongress immerhin drei Initiativen vor, eine davon von uns, dem indigenen SchriftstellerInnenverband. Wir gehen davon aus, dass spätestens in ein oder zwei Jahren das Gesetz verabschiedet wird.

Das klingt bei Ihnen alles recht optimistisch, im Unterschied zu den Stimmen, die seit dem Sturz des alten Regimes weit und breit kein „neues Mexiko“ entdecken können. Wie beurteilen Sie den Grad der Erneuerung aus indigener Perspektive?

Es ist nicht einfach, einen Jahrhunderte währenden Prozess der Beherrschung und Diskriminierung umzukehren. Im Kampf zwischen Konservativen und Liberalen im 19. Jahrhundert existiert die Urbevölkerung gar nicht, dasselbe passiert bei der Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts. Und ein Wandel hängt heute nicht vom Präsidenten, sondern von der gesamten Gesellschaft ab. Aber ich glaube, dass es unter Fox Bemühungen und Signale gibt. Zum Beispiel unsere Abteilung: wir unterstützen Projekte, die von den Dörfern, ihren SchülerInnen und LehrerInnen, selbst konzipiert und verwaltet werden. Zwei, drei Jahrzehnte lang ging der Kampf nur um die Grundschulen. Heute geht es auch darum, dass indigene Sprachen an den Gymnasien gelehrt werden, dass die Universitäten multilinguale Fachbereiche eröffnen, dass es universitäre Lehrerausbildungen gibt. Und zweisprachige Bildung wurde lange Zeit nur als Angebot für die Indios verstanden – und nicht, wie heute vorgeschlagen wird, als interkulturelle Erneuerung für das gesamte Land. Der größte Widerstand dagegen kommt nicht vom Präsidenten, sondern von den Parteien. Da sind viele noch in den Denkstrukturen des 19. Jahrhunderts verhaftet, und zwar quer zu den politischen Lagern.

Einschließlich der Linken?

Durchaus. Die Parteilinke hat einen sehr ideologischen Diskurs, der die Fähigkeiten indigener Völker noch gar nicht verinnerlicht hat. Nehmen wir die Hauptstadt: dort regiert die Linke und hat kein Bewusstsein für kulturelle Diversität. Vielleicht ein bisschen für Sozialpolitik, aber in der Kulturpolitik handelt sie, als gäbe es die Indigenen gar nicht. Im neu gegründeten Kultursenat gibt es keinen einzigen Zuständigen für indigene Kultur. Und Forderungen nach linguistischen Rechten wird als etwas indio-spezifisches gesehen und nicht als Vorstufe zu einer wirklich plurikulturellen Gesellschaft.

Interview: Anne Huffschmid

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