Guatemala | Nummer 298 - April 1999

“Durch den Friedensprozeß hat sich noch zu wenig geändert“

Interview mit Frank LaRue über die Bedeutung des Wahrheitsberichts, die Probleme der Menschenrechtsarbeit und die politische Situation in Guatemala

Die Veröffentlichung des Berichts der Wahrheitskommission in Guatemala am 25. Februar diesen Jahres war eine kleine Sensation (siehe LN 297). Kaum jemand hatte damit gerechnet, daß darin die Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen des Krieges so genau benannt würden. Völlig offen ist jedoch, welche Konsequenzen der Bericht letztendlich haben wird. Zu wenig Interesse haben Regierung und Militär, aber auch die Ex-Guerilla URNG an einer intensiven Aufarbeitung des Bürgerkriegs in Guatemala. Die Interessen von Militär und Regierung sind offensichtlich, sie wollen eine Bestrafung der Verantwortlichen verhindern. Aber auch von den politischen Parteien der Linken ist zur Zeit nicht viel zu erwarten, meint Frank LaRue, Vorsitzender der guatemaltekischen Menschenrechtsorganisation CALDH (Centro de Acción Legal para los Derechos Humanos), im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten Ende Februar in Guatemala-Stadt.

Michael Krämer

Frank, was sind für Dich die wichtigsten Aussagen des Wahrheitsberichts?

Der Bericht ist insgesamt sehr gut, aber vier Punkte verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden. Erstens die sehr eindeutigen Prozentzahlen: 93 Prozent der Menschenrechtsverletzungen wurden vom Militär und verbündeten Kräften begangen. Nicht einmal der REMHI-Bericht der katholischen Kirche vom vergangenen Jahr hatte so deutliche Zahlen (siehe LN 287).
Zum zweiten ist die Typifizierung der Gewalt sehr gut herausgearbeitet. Im Bericht steht, daß die Gewalt nicht nur auf die Logik eines Konfliktes zwischen zwei Parteien reduziert werden kann, sondern aus der Perspektive einer Gesellschaft verstanden werden muß, die von einer sozio-ökonomischen Struktur der Marginalisierung eines Großteils der Bevölkerung und einer Kultur des Rassismus und der Diskriminierung geprägt ist. Dies erscheint mir deshalb von enormer Bedeutung, weil hier bis heute zentrale Probleme unseres Landes liegen: weder das wirtschaftliche System hat sich verändert noch wurde die Diskriminierung breiter Bevölkerungsschichten beendet.
Drittens die Forderung an den Präsidenten, eine Kommission zur Säuberung der Streitkräfte einzurichten. Meines Erachtens sind die Zusammensetzung der Armee und die Straffreiheit, die sie bis heute genießt, die größten Schatten, die auf dem guatemaltekischen Friedensprozeß lasten. Die Ermordung von Bischof Juan Gerardi ist der deutlichste Beleg dafür. [Bischof Gerardi war für den REMHI-Bericht der katholischen Kirche über die Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkriegs verantwortlich und wurde am 26. April 1998, nur zwei Tage nach der Veröffentlichung des Berichts „Guatemala: Nie wieder!“, in Guatemala-Stadt ermordet. Die Tat ist bis heute nicht aufgeklärt, die ermittelnden Behörden weigern sich, klare Hinweise auf die Tatbeteiligung von Militärs zu untersuchen; die Red.]
Und viertens die Aussage, daß in Guatemala in bestimmten Zeiten ein Völkermord stattgefunden hat. Dies erleichtert es, Prozesse gegen die Verantwortlichen für diesen Völkermord anzustrengen.

Es wurde oft beklagt, daß Regierung und Militär die Arbeit der Wahrheitskommission nicht unterstützt haben. Beim Militär ist das leicht verständlich, es mußte befürchten, daß seine Verantwortung für die Verbrechen der Vergangenheit dokumentiert wird. Aber wieso hat denn Präsident Alvaro Arzú, der selbst ja nicht in diese Menschenrechtsverletzungen verwickelt ist, nicht intensiver mit der Kommission zusammengearbeitet? Das hätte es ihm doch erleichtert, Offiziere loszuwerden, die ihm nicht passen.

Er hat bereits zu Beginn seiner Amtszeit Offiziere ausgewechselt. Aber nicht, weil sie zum Beispiel in Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren, sondern weil sie nicht auf seiner Seite standen. Statt dessen hat er General Espinoza zum Generalstabschef gemacht. Der ist ein Vertrauter Arzús, kommt aber aus der G-2, der Geheimdienstabteilung der Armee, die im Wahrheitsbericht als eine der hauptverantwortlichen Einheiten für Folter und Verschwindenlassen von Oppositionellen genannt wird. Dies macht auch Arzús Haltung zur Wahrheitskommission verständlich.

Welche Auswirkungen wird der Wahrheitsbericht auf Guatemala und die politischen Kräfteverhältnisse im Land haben?

Das ist noch schwer abzuschätzen. Den Bericht selbst, der ja über 3.000 Seiten hat, wird kaum jemand lesen. Wichtig wird es sein, die Empfehlungen massiv zu verbreiten und damit politisch zu arbeiten. Das Problem ist, daß die Zivilgesellschaft in Guatemala sehr gespalten ist; die Parteien befinden sich bereits im Wahlkampf. Von denen ist da kaum etwas zu erwarten.

Eine Sache ist es, die Empfehlungen des Berichts zu verbreiten. Aber damit ändert sich politisch ja noch nicht viel. Wird es denn gelingen, daß zumindest ein Teil der Empfehlungen auch umgesetzt wird?

Am schwersten ist es wohl, die Kommission zur Säuberung der Armee durchzusetzen. Einfacher für die Regierung ist es da schon, die Kommission zur Umsetzung der Empfehlungen einzurichten. Wie so viele andere Kommissionen, die im Rahmen des Friedensprozesses geschaffen wurden, hätte auch diese nur geringe Kompetenzen [Mittlerweile hat die Regierung es abgelehnt, diese Kommission einzurichten; siehe Kasten, die Red.].

Wie steht es denn insgesamt um die Möglichkeiten der Menschenrechtsarbeit in Guatemala? Der Wahrheitsbericht ist ja durchaus als Erfolg zu bewerten, doch nur wenige Stunden später wurde das Urteil gegen drei Verantwortliche des Massakers von Rio Negro vom März 1982 in zweiter Instanz wieder aufgehoben.

Das ist typisch für unsere Arbeit. Auf Erfolge folgen Rückschläge. Ein großes Hindernis für uns ist, daß das Justizwesen noch immer nicht reformiert wurde. Durch den Friedensprozeß hat sich einfach noch zu wenig geändert. Die politischen Freiheiten sind deutlich größer geworden, aber die Repression dauert an, wenn sie auch selektiver geworden ist. Kürzlich wurde ein Gewerkschaftsführer in Zacapa ermordet, und letztes Jahr sogar eine so wichtige Persönlichkeit wie Bischof Gerardi.

Vieles deutet ja darauf hin, daß Bischof Gerardi von Militärs ermordet wurde. Hat der Präsident auch etwas mit dem Mord zu tun?

Ich glaube nicht, daß Arzú etwas mit dem Mord selbst zu tun hat. Aber Guatemala ist ein sehr präsidentialistisches Land. Dies bedeutet, daß der Präsident früher oder später fast alles erfährt. So ist es vermutlich auch im Fall Gerardi. Arzú weiß sicherlich, wer für die Tat verantwortlich ist, tut aber nichts für ihre Aufklärung. Es ist auch eine Machtdemonstration des Militärs, daß dieses Verbrechen straffrei bleibt.

Die Straffreiheit ist ja sehr charakteristisch für Guatemala. Noch am Tag, als der Wahrheitsbericht veröffentlicht wurde, hast Du angekündigt, daß CALDH gemeinsam mit anderen Organisationen einen Prozeß gegen die Ex-Diktatoren Lucas García und Rios Monnt wegen Völkermordes anstrengen wird. Siehst Du beim derzeitigen Zustand der guatemaltekischen Justiz dafür Aussichten auf Erfolg?

Dieses Vorhaben ist eine große Herausforderung für CALDH und andere Organisationen. Wir müssen sehr genau arbeiten und so viele Beweise vorlegen, daß ein Gericht zumindest einen Prozeß eröffnen muß – das wäre bereits ein Erfolg. Noch schwieriger wird es allerdings sein, eine Verurteilung dieser Völkermörder zu erreichen.

Wenn in Guatemala kein Gericht bereit ist, einen Prozeß zu eröffnen, könntet ihr noch vor den Interamerikanischen Gerichtshof gehen.

Genau dies haben wir auch vor.

Im Wahrheitsbericht wird auch die Beteiligung der US-Regierung und des CIA an Menschenrechtsverletzungen genannt. Wäre es nicht wichtig, endlich einmal auch die USA für ihre Verbrechen vor Gericht zu bringen?

Es gibt ja bereits Fälle aus anderen Ländern, in denen gegen die USA vor den Interamerikanischen Gerichtshof gegangen wurde. Die USA erkennen deren Gerichtsbarkeit jedoch nicht an und erscheinen nicht einmal vor Gericht. Die USA sind das Land, das am meisten von der Einhaltung der Menschenrechte spricht, zugleich am wenigsten Menschenrechtskonventionen unterzeichnet hat.

Zum Massaker von Rio Negro vom März 1982. Das Urteil wurde gerade aufgehoben, aber in erster Instanz waren die drei Beschuldigten zum Tode verurteilt worden. Was fühlt man als Menschenrechtler bei so einem Urteil?

Zunächst waren wir sehr froh, als das Urteil gefällt wurde. Es war zudem ein großer Erfolg für die betroffene Gemeinde, in der damals 170 Menschen ermordet wurden. Es war das erste Urteil gegen Beteiligte an einem Massaker. Dies war von enormer Bedeutung, denn damit wurde erstmals gerichtlich anerkannt, daß es Massaker gegeben hat. Natürlich haben wir uns gegen die Todesstrafe ausgesprochen, aber wichtiger noch war für uns, daß es zu einem Urteil gekommen ist.
Vielleicht wäre es auch nicht zur Aufhebung des Urteils gekommen, wenn die Strafe nicht die Todesstrafe gewesen wäre. Dieses neue Urteil empfinden wir als sehr großen Rückschlag. Nun muß der ganze Fall neu aufgerollt werden, und es wird vor allem für die Zeugen aus der betroffenen Gemeinde sehr schwer, sich noch einmal der Prozedur eines Verfahrens zu stellen. Für die Gemeinde bedeutet das Urteil der zweiten Instanz eine große Frustration.

Ein letztes Thema: Du hast gesagt, daß die guatemaltekische Zivilgesellschaft sehr gespalten ist. Was muß denn geschehen, damit die Opposition aus der Defensive kommt, in der sie sich gegenüber dem neoliberalen Projekt der Regierungspartei PAN befindet?

Zunächst einmal: Meines Erachtens sind nicht die politischen Parteien die wichtigste Oppositionskraft, sondern soziale Organisationen und Bewegungen im ganzen Land. Es geht heute darum, den Einfluß zum Beispiel der Bauernorganisationen, der Gewerkschaften oder der StudentInnen zu stärken.
Bei diesen Gruppen finden sehr interessante Entwicklungen statt. So entstehen zum Beispiel lokale und regionale Campesino-Organisationen, die eine große Kraft besitzen und viel demokratischer strukturiert sind als die alten Organisationen, die traditionell unter dem Einfluß der Ex-Guerilla URNG standen.
In dem Maß, wie sich diese Gruppen entwickeln, kann auch eine neue starke Bauernbewegung entstehen. Das Gleiche geschieht auf der Ebene der Gewerkschaften und bei den Maya-Organisationen. Ich finde es sehr wichtig, daß sie mehr Gehör finden.
Ein anderer wichtiger Bereich ist die lokale Ebene. In zahlreichen Landkreisen entstehen Comités Cívicos, die eine Alternative zu den existierenden politischen Parteien darstellen. Die Menschen entwickeln ihre eigenen politischen Ausdrucksformen und gewinnen so zunehmend an Einfluß [In einigen Landkreisen werden die BürgermeisterInnen bereits von Vertretern der Comités Cívicos gestellt; die Red.]. Ein nächster Schritt wird sein, eine Bewegung unabhängiger Bürgermeister zu gründen.

Es gibt also zahlreiche wichtige Ausdrucksformen politischer Opposition, die wichtigsten sind aber zur Zeit sicherlich nicht die politischen Parteien
Es ist ja positiv, wenn auf lokaler Ebene neue, demokratische Gruppen entstehen und diese an Einfluß gewinnen. Doch dadurch wird am nationalen Machtverhältnis und an den wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Landes noch nichts verändert. Ist es nicht widersprüchlich, wenn es kein Projekt auf nationaler Ebene mehr gibt?

Das ist für mich kein Widerspruch. Es ist eine Frage der Etappen. Ich denke auch, daß wir ein Projekt auf nationaler Ebene benötigen. In der jetzigen Vorwahlphase [Ende diesen Jahres finden in Guatemala Präsidentschafts, Parlaments- und Kommunalwahlen statt; die Red.] ist es aber am wichtigsten, die lokalen Initiativen zu stärken, um dann von der lokalen Macht aus, ein neues Projekt aufzubauen. Rigoberto Quemé ist ja schon jetzt eine nationale Führungspersönlichkeit. Er ist Bürgermeister der zweitgrößten Stadt Guatemalas, Quetzaltenango, und zugleich ein wichtiger Vertreter der Maya-Bewegung. Von Quetzaltenango aus unterstützt er andere Landkreise, die von Maya regiert werden.

Also soll eine neue Bewegung diesmal von der Basis aus aufgebaut werden?

Genau. Vielleicht wird auch eine neue Partei entstehen. Aber in der Phase, in der wir uns zur Zeit befinden, geht es darum, die Arbeit an der Basis zu konsolidieren.

CALDH selbst hat ein Programm zur Ausbildung lokalen Führungspersonals. Steht dies mit dem Aufbau einer politischen Alternative in Zusammenhang?

Ja. Unser Ausbildungsprogramm beschränkt sich allerdings nicht auf den Wahlprozeß. Es geht darum, daß die Bürgermeister und Gemeinderäte nach der Wahl auch tatsächlich eine gute Arbeit machen. Darauf aufbauend, kann dann auch ein neues politisches Projekt für ganz Guatemala entstehen.

KASTEN:
Guatemalas Regierung hält sich nicht an den Wahrheitsbericht
Seit dem 25. Februar, dem Tag als der Bericht der Wahrheitskommission in Guatemala-Stadt veröffentlicht wurde, hüllte sich die guatemaltekische Regierung in Schweigen. Erst am 16. März publizierte sie in einigen Tageszeitungen eine erste offizielle Stellungnahme. Keine Pressekonferenz, keine öffentlichen Äußerungen von Präsident Arzú und seinen MinisterInnen. Das Vorgehen macht deutlich, daß die Regierung die Bedeutung der Wahrheitskommission mindern will und nicht daran denkt, deren Empfehlungen umzusetzen. Der Bericht der Wahrheitskommission müsse ein Instrument der Versöhnung sein, heißt es im Kommuniqué der Regierung. Doch eine Kommission zur Umsetzung der Empfehlungen, wie es im Wahrheitsbericht gefordert wird, sei „nicht notwendig“. Auch der im Bericht geforderten Kommission zur Untersuchung der Armeeoffiziere und deren Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen während des Krieges wird eine klare Absage erteilt: „Die guatemaltekische Armee ist eine erneuerte Institution, deren interner Umgestaltungsprozeß es ermöglicht hat, daß sie eine entscheidende Rolle bei der Erlangung des Friedens und der Erfüllung der Abkommen spielt.“ Jede Forderung nach einer Säuberung der Armee widerspreche „den grundlegenden Verpflichtungen, auf deren Basis der Frieden unterzeichnet wurde.“
MK

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