Durchzug im Mief der Korruption
Nach der “Einigung” von San Cristóbal ist die Lage wieder gespannt
Die Indígenas, die im sonst von TouristInnen bevölkerten San Cristóbal de las Casas kleine Stoffpuppen verkaufen, haben rasch umgestellt. Ihre Figuren, die sie auf den kleinen Tischen am Straßenrand vor der Kathedrale anbieten, tragen heute schwarze Ski-Masken – Hommage an “Subcomandante Marcos” und die anderen Zapatistas, die maskiert in der Kathedrale mit dem Friedensemissär der Regierung verhandelten. Was einige hier ganz marktwirtschaftlich zu Geld machen, scheint im ganzen Land Geltung zu haben: Die Unterstützung der indianischen Bevölkerung für die chiapanekischen Zapatistas.
Aus dem Bundesstaat Guerrero waren hunderte von Indígenas zu Fuß nach Mexiko-Stadt gelaufen, hatten den “zócalo” besetzt, den Hauptplatz, und in klarer Solidarität mit den Zapatistas ihre eigenen Forderungen vorgetragen. Nach wenigen Tagen wurden sie vom Präsidenten empfangen, und wenig später konnten sie mit einem Bündel voller Zusagen den Heimweg antreten. In San Cristóbal trafen sich Mitte März VertreterInnen von Indígena-Organisationen aus ganz Mexiko, zusammengeschlossen im “Rat der Indianer- und Bauernorganisationen” (CEOIC). CEOIC war nach Beginn des Chiapas-Aufstandes als Dachorganisation von mehr als 280 Gruppen gegründet worden. Das Treffen endete mit einem Forderungskatalog zur Veränderung der Verfassung: Indianische Formen der Selbstverwaltung sollen anerkannt, die verschiedenen Indianersprachen generell als zweite Amtssprache zugelassen werden. Die staatliche Indianerbehörde soll von den Indígenas selbst geleitet werden. Letztendlich sollen an den Gerichten des Landes spezielle “Ämter für indigene Rechtsprechung” und wissenschaftliche Beiräte zur Ausarbeitung indigener Schulerziehungsprogramme eingerichtet werden. Die indianischen Organisationen sind lauter geworden, seit der Aufstand der EZLN in Chiapas die Regierung zum Einlenken gezwungen hat.
Und eingelenkt hat die Regierung tatsächlich. Das Angebot, das sie nach zehn Verhandlungstagen der EZLN zur Beendigung des Konfliktes in Chiapas unterbreitet hat, ist noch kein Abkommen. Wenn Präsident Carlos Salinas immer vom “Friedensschluß” spricht, so könnte ihm das Ärger einbringen. Denn zu Recht besteht Subcomandante Marcos darauf, daß es bislang nichts anderes gibt als eine Waffenruhe, eine Pause im Krieg also, und einen Vorschlag der Regierung, der zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens führen könnte.
Die Landfrage bleibt der Knackpunkt – seit 500 Jahren
Dennoch ist das Angebot der Regierung weit mehr als eine Lappalie. Die Antworten auf die 34 Forderungen der Guerilla sind zwar recht allgemein formuliert, so daß da noch einiges an politischer Übersetzungsarbeit notwendig ist – zumal in die verschiedenen Indianersprachen. Weitreichend aber ist das Angebot dennoch: In vielen Punkten wäre eine tatsächliche Umsetzung regelrecht revolutionär (vgl. Dokumentation in diesem Heft).
Hauptstreitpunkt bleibt erwartungsgemäß die Landfrage. Die Guerilla hatte gefordert, ein völlig neues Agrarreformgesetz auszuarbeiten, das wieder im Sinne der mexikanischen Revolution von 1917 die Umverteilung sichern sollte. Mindestens aber sollte der 1991 reformierte Paragraph 27 der mexikanischen Verfassung wieder in seiner ursprünglichen Fassung gelten. 1991 war der Schutz des indianischen Ejido-Besitzes praktisch aufgehoben worden. Seither blühten in Chiapas der Verkauf von Ländereien und die Bodenspekulation.
Die Regierung hat sich auf eine generelle Reform weder in der einen noch in der anderen Richtung eingelassen. Lediglich für den Bundesstaat Chiapas selbst hat sie unmittelbare Vorschläge unterbreitet, wie die Landbesitzfrage dort zu regeln sei. Das geht nicht ohne politische Kosten, und prompt rebellieren die “coletos”, die Mestizen von San Cristóbal, gegen die Verhandlungen, gegen Bischof Ruiz, gegen Manuel Camacho, aber vor allem gegen “diese Indios”.
Auch eine Reform des Wahlrechts ist in Aussicht – aber zunächst nur in Chiapas. Alles weitere bleibt dem Parlament vorbehalten. Das aber wird sich in diesen Tagen zu mehreren Sondersitzungen treffen, um über die im Grunde genommen hinlänglich bekannte Forderung nach Mechanismen, die saubere Wahlen garantieren, zu beraten.
Wahlrechtsreform, und neue Gedanken zur Kandidatenkür…
Und im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im Sommer empfiehlt sich immer nachdrücklicher eben jener Friedensunterhändler Manuel Camacho Solis. War er bei der ersten Kandidatenfindung der PRI noch gegenüber Luis Colosio unterlegen, so entziehen immer größere Teile der Partei dem Wunschkandidaten des derzeitigen Präsidenten die Unterstützung. Eine innerparteiliche Oppositionsgruppe “Demokratie 2000” erklärte, sie hätten schon 5.000 Unterschriften für Camacho als Kandidaten gesammelt, und eine andere Gruppe innerhalb der PRI gab gar bekannt, sie werde fortan überhaupt den Kandidaten der oppositionellen PRD Cuathemoc Cárdenas unterstützen.
Zwar ist über Camachos eigene Absichten noch nichts bekannt. Daß er aber trotz des großen Drucks, sich ob seiner Rolle als Unterhändler aus der aktiven Politik zurückzuziehen, in einer Rede ankündigte, er sei nicht bereit, seine politischen Rechte aufzugeben, läßt die Spekulationen fröhlich weiterblühen. Und immerhin: Carlos Fuentes schrieb über die Wahlen, sie müßten so sauber sein, daß man selbst einen Wahlsieg von Colosio glauben würde. Mit diesem Kandidaten sehen die Chancen der PRI nicht besonders gut aus. Camacho hingegen hat nicht nur einiges Verhandlungsgeschick bewiesen, er ging auch belobigt von Medien-Superstar “Subcomandante Marcos” aus den Gesprächen heraus, und das Bild, wie beide die mexikanische Fahne halten, ging um die Welt.
…aber wird sich für das indianische Mexiko viel ändern?
All das haben die Zapatistas losgetreten, aber derzeit lenkt es genau von ihnen und den vielen anderen Problemen ab, die neben der Frage der Demokratisierung und der Präsidentschaft auch entscheidende Gründe für ihren Aufstand waren. Während sich ein Großteil der mexikanischen Gesellschaft in einer gewissen Scham über den Gegensatz zwischen Bundeshauptstadt und ländlicher Region, zwischen arm und reich im eigenen Land relativ einig ist, sind die politischen Konsequenzen aus dieser Scham doch zu bezweifeln. Was jahrhundertelang an den Rand gedrängt worden ist, kann nicht so plötzlich zum bestimmenden Element der Politik werden. So scheint es, als ob gerade diejenigen Forderungen der EZLN, über die die Regierung nicht verhandeln wollte – die aber auch den geringsten Bezug zur indianischen Realität haben – die mittelständische Gesellschaft am meisten interessieren: Wahlrechtsreform und die Zukunft der PRI-Regierung. Wenn selbst PRI-Kandidat Colosio mittlerweile eine internationale Überwachung der anstehenden Präsidentschaftswahlen ins Auge faßt, wenn das Parlament demnächst in Sondersitzungen über eine Wahlrechtsreform debattieren wird, dann ist das zwar eine Dynamik in der politischen Kultur Mexikos, die in dieser Art von niemandem zu erwarten war. Andererseits ist fraglich, ob sich über Reformen der demokratischen Spielregeln hinaus auch das Verhältnis zwischen dem indianischen und dem mestizischen Mexiko tatsächlich verändern wird. Und da sind Zweifel angebracht. Denn die Instrumente, die im Regierungsangebot zur Verbesserung der Situation der Indígenas genannt werden, sind durchaus nicht revolutionär. Wie sagte Camacho Solis bei der Vorstellung der Ergebnisse: “Die Verhandlungen hatten ihre Grenzen: Es ist nichts akzeptiert worden, was die verfassungsmäßige Ordnung schwächen könnte.” Außerdem lobt er: “Ohne das Vertrauen und die Rückendeckung des Präsidenten wären diese Ergebnisse nicht möglich gewesen. Die Hilfe der staatlichen Institionen in Chiapas war entscheidend. Die Spielräume, die die Zivilgesellschaft dem Frieden verschafft hat, die Parteien, die Kirchen, die sozialen Organisationen und die Medien, haben dieses politische Ergebnis ermöglicht. Die mexikanische Armee hat verantwortungsbewußt zu der politischen Lösung beigetragen.” So ist niemand ausgeschlossen, niemand wird in Frage gestellt.
Dennoch zeigt sich gerade an den nervösen Reaktionen derjenigen, die in Chiapas etwas zu verlieren haben, daß die Karten doch neu gemischt werden. Schon ist die Rede von einer chiapanekischen Contra, schon wird von Überfällen und Mordanschlägen auf indianische Führer berichtet. Wo IndianerInnen die Gebäude der Stadtverwaltungen besetzt hielten und die Absetzung der PRI-Bürgermeister forderten, gab es zum Teil handfeste Auseinandersetzungen mit AnhängerInnen der Regierungspartei. Auf lokaler Ebene verteidigt die alte Herrschaft ihre Macht ohne Rücksicht auf diplomatische Etikette.
Unterstützung für die Indígenas oder nur für “Marcos”?
Auch die Indígenas entwickeln eine Dynamik und erhalten Auftrieb. Nur: Sie werden bei den sozialen Kämpfen, die sie jetzt führen und die da noch kommen, weit weniger von der Öffentlichkeit unterstützt werden, als das in der Frage der Wahlrechtsreform der Fall ist. Denn keine der bestehenden Parteien, auch nicht die moderat-linke PRD, kann ihrerseits auf die uneingeschränkte Unterstützung der Indígenas rechnen, noch könnte sie ihrer bisherigen Klientel die Forderungen der Indígenas nach territorialer Autonomie vermitteln. Octavio Paz, erklärter regierungsnaher Gegner des Zapatista-Aufstands, hat hier in einem Kommentar zu den Verhandlungsergebnissen sicher auf den Punkt gebracht, was mestizischer Konsens sein dürfte: “Was die Forderung nach einer Reform des Verfassungsartikels 4 betrifft, wäre es schwerwiegend, den indianischen Gemeinden autonome Verwaltungen zuzugestehen. Das nämlich würde bedeuten, daß gleichzeitig zwei Gesetze in Kraft wären: das nationale und das traditionelle. In politischer und kultureller Hinsicht ist der Pluralismus eine heilsame Angelegenheit, das aber ist auch die Integrität und Einheit der Nation.” Nein, so weit wie die nicaraguanischen SandinistInnen – nach langen blutigen Kämpfen – mit der Autonomie für die indianisch bewohnte Atlantikküste gegangen sind, möchte sich in Mexiko niemand vorwagen – zumal jede Regelung für Chiapas nahezu zwangsläufig zum Präzedenzfall für die anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerung werden könnte. Und letztendlich könnten viele in Mexiko-Stadt denken: Vielen Dank, liebe Zapatistas, daß ihr in dem Mief von Wahlbetrug und Korruption ein wenig Durchzug veranstaltet habt – aber nun langt’s auch allmählich mit eurem Aufstand da unten.
Kasten:
Revolutionäres Gesetz der Frauen
Im gerechten Kampf für die Befreiung unseres Volkes hat die EZLN die Frauen in den revolutionären Kampf miteingeschlossen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben oder ihrer politischen Herkunft. Die einzigen Bedingungen bestehen darin, sich die Forderungen des ausgebeuteten Volkes zu eigen zu machen und in der Verpflichtung, die Gesetze und Vorschriften der Revolution zu erfüllen. Um die Situation der Arbeiterinnen in Mexiko zu berücksichtigen, wurden ihre gerechten Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit im folgenden Gesetz aufgenommen:
1. Die Frauen haben das Recht, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrem Glauben und
ihrer politischen Herkunft in dem Maße am revolutionären Kampf teilzunehmen
wie es ihr Wille und ihre Fähigkeiten zulassen.
2. Die Frauen haben das Recht auf Arbeit und einen gerechten Lohn.
3. Die Frauen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wieviele Kinder sie bekommen.
4. Die Frauen haben das Recht, sich an den Gemeindeversammlungen zu beteiligen
und Ämter zu übernehmen, wenn sie frei und demokratisch gewählt worden sind.
5. Die Frauen und ihre Kinder haben das Recht auf besondere Aufmerksamkeit in
Hinblick auf ihre Gesundheit und Ernährung.
6. Die Frauen haben ein Recht auf Bildung.
7. Die Frauen haben das Recht, ihren Partner frei zu wählen und dürfen nicht zur
Eheschließung gezwungen werden.
8. Keine Frau darf geschlagen oder körperlich mißhandelt werden, weder von
Angehörigen noch von Fremden. Versuchte Vergewaltigung oder Vergewaltigung
werden streng bestraft.
9. Frauen können Führungspositionen in der Organisation und militärische Ränge im
bewaffneten revolutionären Heer bekleiden.
10. Die Frauen unterliegen allen Rechten und Verpflichtungen, die in den Gesetzen
und Regeln der Revolution festgelegt sind.
Aus: La Jornada 8. Februar 1994
Übersetzt von: Susan Drews