Editorial | Nummer 547 - Januar 2020

// KEINE NORMALITÄT

Die Redaktion

Im November 2019 haben sich in Bolivien die Ereignisse überschlagen: Umstrittene Wahlen, ebenso umstrittene Beobachtungen der OAS, Proteste auf beiden Seiten, Drohungen des Militärs, die Flucht von Evo Morales und vieler seiner Regierungsmitglieder, die Machtkämpfe seiner Widersacher*innen, die undemokratische Machtübernahme der Übergangsregierung von Jeanine Añez. Auf das Konto der De-facto-Regierung gehen mittlerweile 34 Tote. Offiziell heißt es, die Protestierenden hätten sich gegenseitig getötet. Das bis Ende November gültige Dekret, welches dem Militär „bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” Straffreiheit zusicherte, hat zur Eskalierung der Gewalt beigetragen. Der vorläufige traurige Höhepunkt war das Massaker von Senkata am 19. November (siehe S. 31), als mindestens zehn Menschen bei der Blockade einer Gasfabrik vom Militär getötet wurden.

Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht eines deutlich: Die Übergangsregierung ist nicht demokratisch legitimiert. Sie ist das Ergebnis eines Putsches. Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär bis Ende Januar gedauert hätte. Weil Morales auf öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hatte und nur Stunden danach vom Militär gedrängt wurde zurückzutreten – es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet, doch schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt.

Wenn wir die Putsche der vergangenen Jahre betrachten – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so verlaufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre. Keine Militärjunta, die den Präsidentenpalast stürmen und alle Anwesenden umbringen oder in Folterlager stecken lässt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Handlungen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen, um ihnen so politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. Nach Wochen der Eskalation und anhaltender Proteste, in denen Evo Morales’ Basis ihn trotz aller Kritik an seinem Führungsstil auf der Straße verteidigte, hat die De-facto-Regierung mit gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen Garantien gegen Repression sowie Neuwahlen vereinbart, um ein Ende der Proteste zu erreichen.

Damit ist sie weitgehend Herrin der Lage, die nun vor der Aufgabe steht, ihre Macht über die Neuwahlen hinaus zu sichern. Der Schein der Normalität ist zur Wahrung der demokratischen Fassade für sie wichtig und wird über die – fast durchgehend – wohlgesonnenen Medien fleißig verbreitet: Die Geschäfte seien geöffnet, die Kinder gingen zur Schule, die Demokratie funktioniere. Tatsächlich ist jedoch nichts „normal“, in Bolivien herrscht Willkür, einen Rechtsstaat gibt es nach dem Putsch nicht mehr. Die vermeintlich eingekehrte Freiheit ist für die Putschregierung höchstens eine unternehmerische, und die gilt es nun mit allen Mitteln zu verteidigen. Jeanine Áñez hat bereits wenige Tage nach dem Putsch erklärt, das nach Verhaftung seiner bisherigen Mitglieder neu zusammenzusetzende Wahlgericht müsse Morales’ Partei MAS die Zulassung zu den Wahlen entziehen.

Die Meinung ausländischer Wirtschaftsmächte ist den Putschist*innen, im Gegensatz zu den Protesten im Land, nicht gleichgültig. Die deutsche Regierung sollte die Ereignisse in Bolivien daher nicht nur unter dem Blickwinkel bewerten, welche Regierung zukünftig am ehesten dazu bereit wäre, das noch von der Regierung Morales im November annullierte Lithium-Abkommen mit einer deutschen Firma wieder in Kraft zu setzen. Denn unabhängig davon, wie kritisch oder wie solidarisch man mit der Regierung von Evo Morales ist, steht fest: Diejenigen, die nun den Anspruch auf die Macht erheben, sind keine Demokrat*innen.

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