Film | Nummer 380 - Februar 2006

Ein 40 Nächte langer Traum

Im uruguayischen Kinderfilm A Dios Momo verschwimmen magische Fiktion und harte Wirklichkeit

Während der Abspann läuft, weiß man nicht genau, was nun die eigentliche Handlung und was nur ein Traum des kleinen Hauptdarstellers ist. Aber vielleicht soll man es auch gar nicht wissen. Schließlich verdankt der Film seinen Titel Momo, dem griechischen Gott des Sarkasmus, der geistreichen Ironie und der Burleske – dem Schutzpatron des uruguayischen Karnevals.

Katharina Wieland

Die Geschichte ist eigentlich ziemlich einfach. Der elfjährige Obdulio lebt mit seinen beiden Schwestern bei der Großmutter. Er geht nicht zur Schule, kann weder lesen noch schreiben und verdingt sich als Zeitungsjunge, um zum Lebensunterhalt seiner Familie beizutragen. Soweit die harte Realität. Doch allein diese zu zeigen ist nicht die Idee, welche der uruguayische Regisseur Leonardo Ricagni mit seinem 2005 erschienenen Film A Dios Momo verfolgt.
Die ZuschauerInnen begleiten Obdulio einen ganzen Tag durch Montevideo. Man sieht aus welch einfachen Verhältnissen er kommt und lernt die Güte und Zuneigung seiner Großmutter kennen, die mit der traurigen Wirklichkeit kontrastiert. In dieser muss der Junge sich gegen andere Zeitungsjungen verteidigen, um seinen Lohn beim Kioskbesitzer Armenio feilschen und wird zu guter Letzt noch von zwei Jugendlichen auf dem Nachhauseweg überfallen und ausgeraubt.
In diesem Moment der Verzweiflung öffnet sich für Obdulio aber auf märchenhafte Weise ein neuer Weg, den er zunächst nur zögerlich zu gehen bereit ist. Kein Wunder, scheint doch alles nur ein Traum zu sein. Ein seltsamer Clown weckt die Neugier des Jungen. Er folgt dem Unbekannten in die Druckerei der Zeitung, die er jeden Tag verkauft. Dort verschwindet der Clown. Stattdessen trifft Obdulio auf den Nachtwächter, den „Drachenmann“ (El Barrilete), der dem Jungen vorschlägt, mit ihm in die zauberhafte Welt des uruguayischen Karnevals einzutauchen.

Im Bann der Murga

Es ist die Welt des Gottes Momo, unter dessen Obhut ganz Uruguay 40 Tage und 40 Nächte lang den längsten Karneval der Welt, wie es im Vorspann heißt, feiert. Seine Protagonisten sind die Murgas, Musik- und Tanzgruppen spanischer Tradition, die, untermalt von afrikanischen Trommelrhythmen mit ihrem Gesang das Publikum begeistern und gleichzeitig das Alltagsgeschehen ironisch reflektieren. El Barrilete will Obdulio mit Hilfe ihrer Texte das Lesen und Schreiben nahe bringen – doch Obdulio lehnt dankend ab. Seine Welt ist die Arbeit.
Doch irgendetwas veranlasst Obdulio letztendlich, auf den Vorschlag einzugehen. Ist es das gute Zureden seiner Großmutter? Oder die Tatsache, dass sein bester Freund Rusito nach Europa auswandert und ihm schreiben wird? Ist es der Kneipenbesitzer Canario, der Obdulio bei seiner größten Leidenschaft packt: dem Fußball. Er macht dem Jungen klar, dass er als Analphabet nie ein Fußballstar werden kann. Wahrscheinlich würde nichts von all dem Obdulio überzeugen – wäre da nicht der Zauber von Momo, der Zauber des Karnevals, der Zauber der Murgas, der verloren gegangen scheint und dank Obdulio wiedergefunden wird.
A Dios Momo ist ein optimistischer Film, auch wenn sein Protagonist immer wieder Tiefschläge einstecken muss. Er erlebt Trennung und Abschied, nicht nur von seinem Freund Rusito, sondern auch durch den Tod von Canario, zu dem er ein enges Verhältnis aufgebaut hat. Er fühlt sich in Uruguay zu Hause, und würde es höchstens verlassen, „wenn er mit der Nationalmannschaft zu einem Länderspiel fahren würde“. Gleichzeitig ist er heimatlos und auf der Suche nach einem Ort, an dem er Wurzeln schlagen kann.
Der sozialkritische Blick Leonardo Ricagnis wechselt mit Szenen voller magischem Realismus, mit faszinierend bunten Bildern und Musik, die manchmal aber auch ein bisschen langatmig wirken. Sie lenken aber nicht von der eigentlichen Problematik ab, sondern sind wie ein Moment des Innehaltens und inneren Sammelns, bevor Obdulio seine Reise durch den Karnevalstraum fortsetzt. Sein Weg ist, wie Jorge Esmoris, der Darsteller von El Barrilete, in einem Interview mit der uruguayischen Zeitung El Pais Digital äußert,„eine Art Symbol für Uruguay, das ebenfalls gerade versucht, seinen eigenen Weg zu finden.“
Zugegeben, der Film lebt auch von Gemeinplätzen. Er zeichnet ein Bild von Uruguay, das mit vielen lateinamerikanischen Klischees aufwartet: Fußball, Karneval, laute Musik, Aberglaube und Religion. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Reaktionen in Uruguay auf diesen Film, der Kinder wie Erwachsene gleichermaßen anzusprechen versuchtl, äußerstgespalten waren. A Dios Momo kann also auch enttäuschen – oder einfach verzaubern.

A Dios Momo Regie: Leonardo Ricagni, Uruguay, 2005, 109 Min.
Der Film läuft auf der Berlinale vom 9. – 19. Februar im Kinderfilmfest.

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