Argentinien | Nummer 336 - Juni 2002

Ein Land in der Zwangsjacke

Die WM verschafft Duhalde eine letzte Galgenfrist

Argentinien krankt. Während die Wirtschaft schrumpft, wächst die Zahl der Unternehmensschließungen und Ausreisewilligen. Hochkonjunktur haben nur die Psychologen. Auf einen positiven Psychoschub durch eine erforgreiche WM hofft auch der immer hilfloser agierende Regierungschef Duhalde. Der Internationale Währungsfonds (IWF) bleibt indes bei seinem Rezept: bittere Medizin nach dem Motto, Hauptsache, die Operation gelingt, auch wenn der Patient stirbt.

Martin Ling

So richtig ernst scheint in Washington die Probleme Argentiniens niemand zu nehmen. Der Lateinamerikaberater von George Bush, Alan Meltzer erkundigte sich telefonisch bei der Tageszeitung Clarín, ob es denn noch Unruhen gebe. Der neue argentinische Wirtschaftsminister Roberto Lavagna wurde in den USA von der Nummer drei des Finanzministeriums empfangen, weil sich der Chef Paul O´Neill und sein Stellvertreter John Taylor gerade auf Afrika-Tour befanden. Ein Bild mit richtungsweisender Symbolkraft, auch wenn Argentinien von afrikanischen Verhältnissen noch weit entfernt ist. Aber der Abstieg von einem Schwellenland zu einem Entwicklungsland vollzieht sich ungebremst weiter. Bereits die Hälfte der Bevölkerung lebt inzwischen unterhalb der Armutsgrenze von 600 Pesos für eine Familie mit drei Kindern. Vor zehn Jahren galten gerade mal zehn Prozent der Bevölkerung als arm. Zehn Prozent der 36 Millionen Argentinier sind allein seit der Freigabe des Peso-Kurses im Januar unter die Armutsgrenze gerutscht. Und weil der Peso weiter an Wert verliert und sich der 4 Peso – 1 US-Dollar-Marke nähert, wächst die Zahl der Armen, denn schließlich steigen automatisch die Preise, aber nicht die Einkommen.
Die Regierung Duhalde versucht diesen Entwicklungen mit einer Politik des Notstands zu begegnen und setzt darüber hinaus weiter auf ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit ihrer Notstandspolitik versucht sie, die aufbegehrende Bevölkerung notdürftig zu besänftigen, von letzterem erhofft sich die Regierung die Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit und dadurch den Zugang zu den derzeit verschlossenen internationalen Kapitalmärkten. Besser eine stabile Unterentwicklung als eine nicht enden wollende Abwärtsspirale scheint die für die Bevölkerung wenig verheißungsvolle Marschrichtung von Duhalde zu lauten. Weit gekommen ist er auf seiner Tour noch nicht.

Politik im Kriechgang

Immerhin soll künftig keine Familie mehr gänzlich ohne Einkommen dastehen. 150 Pesos pro Monat sollen Familien mit schulpflichtigen Kindern fortan erhalten. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Ob mit dieser Sozialkosmetik die soziale Explosion verhindert oder nur aufgeschoben wird, bleibt vorerst offen. Duhalde handelt halbherzig, weil er doppelt unter Handlungsdruck steht: von Seiten der protestierenden Bevölkerung und von seitens des IWF, der massive Strukturreformen anmahnt, koste es sozial, was es wolle. Aber eben diese sozialen Kosten könnten Duhalde das politische Genick brechen.
Dass Duhalde die Fußballweltmeisterschaft herbeisehnt, mutmaßen in Argentinien nicht wenige. Schließlich gehören die Pampakicker zu den Favoriten und je weiter die albiceleste kommt, desto stärker schweißt es die Nation zusammen. Versammlungen vor dem Fernseher statt auf den Straßen und somit vier weitere Wochen, um ein Abkommen mit dem IWF unter Dach und Fach zu bekommen.
Auf diesem Weg kommt Duhalde kaum voran. Der im März verabschiedete Pakt mit den Provinzen und der Sparhaushalt (LN 334) ist dem IWF zu unverbindlich und ohnehin gelte es noch zusätzliche Bedingungen zu erfüllen, bevor wieder Geld locker gemacht werde, verlautet es aus Washington. Konkret umfasst die Wunschliste des IWF vier Punkte: Aufhebung der Einschränkungen im Bankbereich, unter anderem des Corralitos (Laufstalls), ein neues Konkursgesetz, die Abschaffung des Gesetzes zur ökonomischen Subversion und eine nachhaltige Haushaltspolitik. Kein einziger Punkt ist bisher in Gänze umgesetzt. Der Versuch, die im Laufstall eingesperrten Sparguthaben in Staatsanleihen umzuwandeln, kostete Wirtschaftsminister Remes Lenicov im April den Job. Vorangegangen waren Massendemonstrationen von wütenden Sparern, die sich erneut über den Tisch gezogen fühlten. Für ihre einst eingezahlten Dollars sollten sie nun statt mit Pesos mit Schuldverschreibungen des bankrotten Staates abgespeist werden. Mit Lenciov nahmen weitere Minister ihren Hut. Neben dem neuen Wirtschaftsminister und Harvard-Absolventen Roberto Lavagna ist die Neubesetzung des Arbeitsministeriums nicht ohne Pikanterie. Duhalde berief die Frau des Senators und regierungskritischen Gewerkschafters Luis Barrionuevo, Graciela Camaños, ins Amt. Duhalde scheint in seinem Versuch, den Widerstand gegen seine Politik zu spalten, nun selbst vor der Familienebene nicht mehr Halt zu machen.

Stolpert Duhalde über die ökonomische Subversion?

Doch auch der Versuch mit einer neuen Regierungsmannschaft und einem 14-Punkte-Programm den IWF zu besänftigen, war nicht von Erfolg gekrönt. Wie gehabt, wird in dem Programm viel versprochen, aber keine Angaben darüber gemacht wie die Sparziele erreicht werden, das Drucken von Quasi-Geld der Provinzen gestoppt wird etc. Der IWF bleibt in Wartestellung, und er hat im Gegensatz zu Duhalde Zeit. Bis auf die Zustimmung des Parlaments zur Neufassung des Konkursgesetzes hat Duhalde nichts erreicht. Während in entwickelten Staaten in den letzten Jahren das Konkurs- bzw. Insolvenzrecht in Richtung stärkere Rechte für den Schuldner geändert wurde, soll in Argentinien das Gegenteil durchgedrückt werden, weitreichende Gläubigerrechte zur Übernahme der Schuldnerfirmen sind geplant. Argentinien frei zum Schnäppchenkauf.
Nahezu kurios wäre es, wenn sich Duhaldes politisches Schicksal am Gesetz zur ökonomischen Subversion entscheiden würde. Das Gesetz wurde 1974 verabschiedet, um linken Gruppen den Bankenzugang zu verbauen. Keine Girokonten für Terroristen. Das lange in Vergessenheit geratene Gesetz lässt einen breiten Auslegungsspielraum zu, schließlich sollte damit gegen schwer greif- und nachweisbare Aktivitäten vorgegangen werden. Findige Juristen nützen den Spielraum nun, um Banker wegen der Vernichtung von Sparguthaben hinter schwedische Gardinen zu bringen und die Freigabe der Guthaben ihrer Kunden zu erzwingen. Mindestens vierzig Bankern wurde das schon zum Verhängnis und viele Urteile, die die Freigabe der Gelder veranlassten, brachten das Bankensystem an den Rand des Kollaps. Mit Bankferien und einem vom Kongress akzeptierten neuen Bankengesetz konnte Duhalde den Zusammenbruch nochmals verhindern. Zugang zu den Bankguthaben gibt es nun nur noch mit einem Titel des Obersten Gerichtes und das kann dauern. Bisher reichte eine einstweilige Verfügung.
Duhaldes Versuch allerdings, das Gesetz zu entschärfen, schlug fehl. Selbst mit Rücktritt soll Duhalde gedroht haben, um die Abgeordneten unter Druck zu setzen, was von Regierungsseite allerdings dementiert wurde. „Entweder alle unterstützen mich oder es gibt keine Lösung… und ich kann nicht weiter machen“, zitierte La Nación. Die Abgeordneten unterstützten Duhalde nicht, doch der macht trotzdem weiter. Vorerst, denn der erste Generalstreik am 23. Mai gegen ihn dürfte nicht der letzte gewesen sein und es scheint durchaus so, dass viele Politiker vor der Bevölkerung weit mehr Angst haben als vor Duhaldes Rücktrittsdrohungen. Optimistisch können die Argentinier und Duhalde bestenfalls in Bezug auf die WM sein. Aber gerade die Fußballer haben vorgemacht, wo die Perspektiven für Argentinier liegen – im Ausland.

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