Argentinien | Nummer 239 - Mai 1994

Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Unerwarteter Wahlerfolg des Mitte-Links-Bündnisses Frente Grande

Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 10. April hat die Mitte-Links-Gruppierung Frente Grande (FG – “Große Front”) landesweit ein überraschend gutes Ergebnis erzielt. In der Hauptstadt Buenos Aires erhielt sie sogar mehr Stimmen als die Peronistische Partei (PJ) von Staatspräsident Menem und als die “Bürgerlich-Radikale Partei” (UCR) des ehemaligen Staatspräsidenten Alfonsín. Innerhalb von 60 Tagen wird die Versammlung nun über die Reform der argentinischen Verfassung von 1853 beschließen, die unter anderem die erneute Kandidatur Menems für das Amt des Staatspräsi­denten 1995 ermöglichen soll.

Silke Steinhilber

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber

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