“Eine politische Lösung ist keine Frage von sechs oder zwölf Monaten“
Juan Rojas, internationaler Sprecher der FARC-EP über den Verhandlungsprozeß und die Guerilla in Kolumbien
In Kolumbien wird überall von Friedensverhandlungen gesprochen. Die Angriffe von Armee und Paramilitärs sind aber so heftig wie schon lange nicht mehr. Es gibt neue Flüchtlingsströme. Was gibt es mit so einem Staat überhaupt noch zu verhandeln?
Natürlich gibt es viele Anzeichen dafür, daß das Establishment keine friedliche Lösung will, aber das heißt nicht, daß wir uns als politische Bewegung nicht um eine solche Lösung bemühen würden. Wir sind der Meinung, daß man die Oberschicht zum Einlenken zwingen muß: durch soziale Proteste, den Druck der internationalen Öffentlichkeit und durch militärische Aktionen gegen die Armee. Außerdem wollen wir nicht nur mit der Regierung, sondern auch mit den verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren sprechen. In den inzwischen 50 Jahren bewaffneten Konflikts hat es in Kolumbien mehr als eine Million Tote gegeben sowie allein seit 1990 mindestens 1,2 Millionen Flüchtlinge. Aus diesem Grund müssen wir uns um eine politische Lösung bemühen.
Wie lange bleiben die von der Armee geräumten fünf Munizipien in den Händen der FARC? Wie sehen die nächsten Schritte bei den Gesprächen aus?
Mit der Regierung ist eine dauerhafte Räumung des Gebietes vereinbart worden. Eine politische Lösung des Konflikts in Kolumbien ist ja keine Frage von 6 oder 12 Monaten, nicht einmal von vier Jahren. Der Verhandlungsprozeß wird über mehrere Regierungsperioden hinweg gehen, denn die Ursachen des bewaffneten Konflikts liegen sehr tief. In dieser Zeit müssen die sozialen Probleme, die dem Konflikt zugrunde liegen, beseitigt werden.
Das schwerwiegendste Problem ist im Augenblick der schmutzige Krieg und die staatliche Repression gegen die Opposition. Solange die kolumbianische Bevölkerung ihre Rechte nicht frei einfordern kann, kann es keinen offenen Dialog geben. Sobald die freie Meinungsäußerung garantiert ist, können wir über jene Veränderungen diskutieren, die längerfristig ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Darunter fällt die Reform des Justizapparats, also unter anderem die Abschaffung der Denunziations- und „Anti-Terror“-Gesetze, die Umstrukturierung der Armee, das heißt ein Ende der Nationalen Sicherheitsdoktrin, eine grundlegende Landreform sowie einschneidende Reformen der wirtschaftlichen Struktur.
Mit der Räumung der fünf Munizipien durch die Armee ist faktisch auch anerkannt worden, daß die Guerilla eine legitime politische Kraft im Land darstellt. Inwiefern wollen Sie in diesen Gebieten eigentlich auch beweisen, daß Sie besser und verantwortungsvoller verwalten können als das Establishment?
Unser wichtigstes Ziel ist im Moment, daß dort so viele Leute wie möglich an Gesprächen teilnehmen können. Wir wollen eine freie politische Auseinandersetzung gewährleisten und dort Gewerkschafter, Stadtteilorganisationen, Kirchen, Bauern, Studentengruppen, internationale Organisationen, ja sogar RegierungsvertreterInnen empfangen. Das heißt, wir müssen das Gebiet wirklich unter Kontrolle haben. Ansonsten wird die Armee die Gespräche mit Anschlägen sabotieren und von paramilitärischen Aktionen sprechen.
Welche Rolle spielt die kommunale und regionale Selbstverwaltung, also so etwas wie das von der ELN vorschlagene „Poder Popular“ (Volksmacht), in den von den FARC dominierten Gebieten?
Wir haben durchaus positive Erfahrungen gesammelt, vor allem in Gemeinden, die früher Coca angebaut haben und nun zur Produktion von Lebensmitteln übergegangen sind. Wir wollen, daß für derartige kommunale Projekte die Gelder zur Verfügung gestellt werden, die Kolumbien aus dem Erdöl-und Kohleexport zieht…
Aber das sind ökonomische Projekte und keine politische Selbstverwaltung. Haben Sie nicht das Ziel, in den von Ihnen dominierten Gebieten ein alternatives, paralleles Kolumbien aufzubauen?
Nein, nicht in dem Sinne eines parallelen Landes. Wir wollen natürlich ein Beispiel für eine gute Verwaltung abgeben, aber nicht indem wir die Integrität des Landes in Frage stellen.
Sie streben also keine „befreiten Gebiete“ an, sondern es geht vor allem darum, daß politische Gespräche stattfinden können.
Natürlich wollen wir auch, daß es eine transparente Verwaltung gibt. Aber das wichtigste ist, daß in diesen Gebieten alle politische Meinungen und Glaubensrichtungen respektiert werden, egal ob die Leute liberal oder konservativ, katholisch oder adventistisch sind. Es muß dort wirklich demokratische Verhältnisse geben.
Sie sagen, daß Sie politische Meinungsfreiheit gewährleisten wollen, aber es ist auch kein Geheimnis, daß die Guerilla vielerorts autoritär gegenüber der Bevölkerung auftritt. Was gibt es für Garantien, damit nicht wieder die Macht der Waffen entscheidet?
Alle GuerillakämpferInnen in Kolumbien unterliegen einem von der Guerillakoordination vereinbarten Verhaltenskodex, der die Beziehungen zur Zivilbevölkerung klärt. Dieser Kodex wird in Kursen und Schulungen unterrichtet. Es ist tatsächlich nicht auszuschließen, daß der Kommandant einer Einheit Anhänger der Liberalen oder Konservativen Partei für Verbrechen ihrer jeweiligen Parteiführung bestrafen will. Aber genau deswegen gibt es diesen Kodex, der besagt, daß Meinung und Glauben der Zivilbevölkerung in jeder Hinsicht respektiert werden muß.
Ein Verhaltenskodex ist eine Sache, seine Umsetzung eine andere. Welche Kontrollmechanismen gibt es?
Die Guerilleros sind verpflichtet, Verstöße gegen den Kodex zu melden, auch wenn diese von ihrem Vorgesetzen begangen wurden. Nach allen Aktivitäten gibt es außerdem eine Auswertung, in der Verstöße angesprochen werden können. Und drittens nehmen wir die Kritik der Zivilbevölkerung sehr ernst. Wenn eine Gemeinde eine Beschwerde gegen eine Einheit hat, kann die Bevölkerung sie jederzeit an eine höhere Befehlsebene weitergeben. Vergehen gegen die Zivilbevölkerung werden als schwere Delikte behandelt und von uns bestraft.
Was Sie sagen, ändert doch nichts am Problem: Wenn der örtliche Guerillakommandant nicht von einer unabhängigen Instanz kontrolliert wird, sondern von seinen Untergebenen und Freunden, ist es kein Problem für ihn, jede Kritik unter den Teppich zu kehren.
Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Guerilla und staatlichen Autoritäten. Bei uns kämpfen alle Leute aus politischen und ethischen Prinzipien. Wenn jemand die Zivilbevölkerung schlecht behandelt, haben alle die Verpflichtung, diese Vergehen öffentlich zu machen. Da gibt es keinen Korpsgeist. Wenn wir uns wie die Armee verhalten würden, hätten wir kaum die Unterstützung, die wir heute haben.
Die FARC haben sich bis 1989 eng am sowjetischen Beispiel orientiert. Das ist inzwischen zusammengebrochen, Sie aber vertreten immer noch ein sozialistisches Konzept. Was unterscheidet Sie von realsozialistischen Organisationen von früher?
Wir halten den Sozialismus für weiterhin notwendig, weil der Kapitalismus die sozialen Probleme vor allem der unterentwickelten Länder nicht lösen kann. Hier hat ein Großteil der Bevölkerung keinen Zugang zu Erziehung und Gesundheit.
Die Sowjetunion ist unserer Meinung nach untergegangen, weil sie die Grundprinzipien des Sozialismus nicht umgesetzt hat: die Befriedigung der materiellen und spirituellen Bedürfnisse der Bevölkerung. Das heißt jedoch nicht, daß es dort nicht auch positive Resultate gegeben hätte. Alle hatten Arbeit, etwas zu essen, kostenlosen Zugang zu Bildung, Kultur und Gesundheit. Wir müssen also ausgehend von den Eigenheiten Kolumbiens die positiven Seiten des Realsozialismus von den negativen trennen.
Aber das ist nicht unser unmittelbares Ziel. Wir kämpfen heute in Kolumbien für eine Regierung der nationalen Aussöhnung, die innerhalb des Kapitalismus agiert. Ihre Aufgabe ist es, eine Demokratie herzustellen, die es allen ermöglicht, ihre Ideen zu vertreten.
Die FARC kämpfen also heute für die Durchsetzung der Sozialdemokratie…
Nicht für die Sozialdemokratie, die es heute in unseren Ländern gibt. Aber es stimmt, wir kämpfen im Moment auch nicht für den Sozialismus. Wir wollen ein demokratisches System, das die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung berücksichtigt, und in dem wir dann legal für den Sozialismus arbeiten können. Trotzdem sind wir keine Sozialdemokraten. Wir wollen ein System, das sich nicht nur für die Belange der Menschen im eigenen Land interessiert. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Sozialdemokratie.
Das Projekt „demokratische Revolution“ ist ja nicht gerade eine Innovation im Parteikommunismus, es entspricht dem klassischen Etappenmodell des Leninismus. Doch in allen Fällen bisher haben diese Revolutionen nicht zu mehr Demokratie geführt, sondern zur Errichtung einer bürokratischen Herrschaft unter Führung der KPs. Was können Sie der kolumbianischen Bevölkerung sagen, damit man Ihnen diesmal glaubt?
Das war tatsächlich ein Kernproblem des Sozialismus. Es ist ein großer Vorteil für uns, daß wir heute von diesen Erfahrungen lernen können. Wir wissen, daß die große Herausforderung lautet, eine Demokratie zu gewährleisten, die die Entfaltung des Individuums ermöglicht, und das ist auch der Grund, warum wir heute in der Guerilla erwarten, daß alle politischen Meinungen respektiert werden. Wir wollen natürlich Leute von kommunistischen Ideen überzeugen, aber das kann man nicht erzwingen. Wir können allerdings durchsetzen, daß es eine Ordnung gibt, in der alle frei debattieren können.
Wenn man die aktuellen Verhandlungsvorschläge von FARC und ELN betrachtet, sieht man eigentlich nur Gemeinsamkeiten. Warum hat man sich da nicht zusammengeschlossen, um gemeinsam Gespräche zu beginnen?
Das ist eine Frage, die wir uns auch stellen. Es gibt wirklich kaum taktische und strategische Unterschiede. Wir haben es einfach mit der Geschichte zweier unterschiedlicher Organisationen zu tun. Es gab Versuche, sich zusammenschließen, es gab 1987-92 die Guerillakoordination Simón Bolívar, aber diese Zusammenarbeit ist auseinandergegangen. Wir haben aber inzwischen viele gemeinsame Erfahrungen gesammelt und respektieren uns gegenseitig. Ich habe daher die Hoffnung, daß wir früher oder später zu einer Vereinbarung mit allen Guerillaorganisationen kommen werden, nicht nur mit der ELN, sondern auch mit den kleineren Organisationen EPL und dem Jaime Bateman.