„Eine Weisse, von Männern dominierte Welt”
Beteiligte des Chorprojektes Sonidos Interseccionales sprachen mit LN über strukturelle Ungleichheit in der Musik
Frau Brakel, wie kam es zu der Idee eines gemeinsamen Konzerts mit dem Coro Contrapunto und was sind die Ziele des Chorprojekts?
Lena Brakel: Der Coro Contrapunto ist sehr eng mit uns befreundet und hat die gleiche hervorragende Dirigentin, Catalina Restrepo aus Kolumbien. Chöre, die wie EntreVoces und Contrapunto dem deutschen Chorverband angehören, können sich mit einer Projektidee auf die Sonntagskonzerte bewerben. Gemeinsam mit dem Coro Contrapunto hatten wir die Idee, die musikalischen Werke von Frauen aus Lateinamerika aufzuführen und damit auf die strukturellen Ungleichheiten in der Musik aufmerksam zu machen.
Was verbirgt sich hinter dem Chorprojekt Sonidos Interseccionales?
LB: Der Titel ergab sich aus dem Ansatz des Konzertprojekts. Mit Intersektionalität wollen wir die Ungleichheiten von Geschlecht, Herkunft und auch sozialer Klasse innerhalb der Musikwelt thematisieren. Diese Ungleichheiten sind nicht nur historisch, sondern bestehen auch heute noch. Die „klassisch“ genannte Musik, in der wir unsere A-cappella-Chöre grob verordnen, ist eine sehr weiße und von Männern dominierte Welt. Gerade in letzter Zeit habe ich mich viel mit Literatur über die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Musik beschäftigt. In Deutschland beispielsweise gibt es ca. 130 Orchester, die öffentlich finanziert werden. Davon werden nur sechs von Dirigentinnen geleitet. Nur zwei Prozent aller Werke, die sie aufführen, wurden von Frauen geschrieben.
Wie versucht das Chorprojekt gegen diese strukturellen Ungleichheiten in der Musikbranche vorzugehen?
LB: Mit unserem Projekt wollen wir Komponistinnen aus dem Globalen Süden eine Bühne geben. Die sieben Komponistinnen – drei aus Mexiko, zwei aus Kolumbien, eine aus Argentinien und eine aus Chile – komponierten eigens für das Konzert Werke und werden auch selbst bei der Uraufführung in der Berliner Philharmonie anwesend sein.
Außerdem kommt ein großer Teil der Sänger*innen unseres Chors aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Wir singen in unserer Freizeit und machen auf Ungerechtigkeiten aufmerksam. Ich denke, das ist eine gute Möglichkeit, eine Botschaft zu vermitteln. Zunächst innerhalb der Gruppe, die wir bilden, und dann in der Philharmonie, in der Öffentlichkeit.
Und stellt nicht gerade die Berliner Philharmonie als Aufführungsort konkreten Widerstand dar? Es ist eine ziemlich prestigeträchtige Bühne, sehr bedeutend in Deutschland – hier die Möglichkeit zu haben, die Werke zusammen mit den Komponistinnen zu präsentieren, ist einfach großartig.
Frau Rosas Baéz, Sie sind eine der Komponistinnen, die ihre Werke am 16. Juni in der Philharmonie vorstellen werden. Warum haben Sie sich für das Projekt beworben? Worin liegen dessen Chancen?
Miriam Rosas Baéz: Ich halte es für eine großartige Gelegenheit, die nur einmal im Leben kommt. Besonders die Möglichkeit, in der Berliner Philharmonie aufzutreten, ist toll. Es ist sehr schwierig für Frauen, dort auf die Bühne zu kommen und es gibt nur sehr wenige mexikanische Komponistinnen, die das geschafft haben. Tatsächlich kenne ich nur eine, nämlich Gabriela Ortíz.
Generell gab es in Mexiko in den letzten Jahren einen regelrechten Boom in der Musik- und Genderforschung. Es wurde klar, dass Frauen nicht nur als Komponistinnen, sondern auch als Instrumentalistinnen, Chor- und Orchesterleiterinnen extrem ausgegrenzt werden. Sie werden schlechter bezahlt und haben weitaus weniger Möglichkeiten, eine Führungsposition einzunehmen. Es gibt also eine strukturelle Ungleichheit, und das ist es, was mir an der Idee des Chorprojekts so gut gefallen hat.
Als ich von dem Projekt und dem Aufruf für Komponistinnen aus Lateinamerika erfuhr, wollte ich mich auf jeden Fall bewerben. Mich zum Komponieren zu ermutigen, war eine Herausforderung für mich, aber es ist auch befreiend. Es geht darum, seine eigenen Ideen zu formulieren, darum, die Themen, die einen interessieren, einzubringen. Ich fing an, zu überlegen, wie es für mich klingt und was ich gerne hören würde. Das war eine sehr schöne Übung.
Die meisten Stücke werden auf Spanisch sein. Es sollen aber auch indigene Kulturen und Sprachen Lateinamerikas miteinbezogen werden. Wie genau geschieht das?
MRB: Es ist wichtig, in dem Konzert nicht nur auf Spanisch zu singen, sondern auch den sprachlichen Reichtum des lateinamerikanischen Kontinents aufzuzeigen. Ich mache zum Beispiel gerade ethnomusikologische Forschung im Hochland von Chiapas, Mexiko. Hier gibt es eine Fülle von Sprachen, wie beispielsweise Tzotzil, Tzetal und Chol. In einem Abschnitt des von mir vertonten Gedichts spricht die Autorin selbst ihr Gedicht auf Tzotzil. Ich denke, es ist wichtig, dass ihre Stimme und ihre Sprache gehört werden.
LB: Das Konzert ist eine herzliche Einladung nicht nur für alle, die sich für Musik interessieren, sondern auch für die, die sich für den sozialen Kampf einsetzen. Es wird eine Übersetzung für die spanischen und indigenen Texte geben. Es ist ein wundervolles Projekt und wir freuen uns besonders, dass die Komponistinnen beim Konzert am 16. Juni in Berlin sein werden!
Konzert: Sonntag, 16 Juni 2024, 15.30 Uhr im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin // Tickets ab 10 Euro unter: www.chrodates.de/event/sonntagskonzert-nr-6/
Lena Brakel
singt seit ihrer Kindheit in Chören und ist seit fünf Jahren Mitglied des Berliner Chors EntreVoces. Dieser wurde 2004 gegründet und setzt sich mit seinem vielfältigen Programm für den Austausch zwischen der iberoamerikanischen und deutschen Kultur ein. Ein großer Teil der Mitglieder kommt aus Lateinamerika oder Spanien.
Miriam Rosas Báez
ist mexikanische Gitarristin, Sängerin und Chorleiterin. Sie arbeitet als Musiklehrerin in marginalisierten indigenen Gemeinden in den Bundesstaaten Veracruz und Chiapas. Ihre Kompositionen drehen sich um die Lebenswelt der Jugendlichen und verwenden Textelemente des indigenen Maya-Tzotzil und Totonaco.