Mexiko | Nummer 385/386 - Juli/August 2006

Erstklassige Schlammschlachten

exiko vor der Wahl: Der rechte Felipe Calderón und der linksliberale López Obrador liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen

Der eine ist eine Gefahr für Mexiko und der andere nur ein neoliberaler Abzocker mehr: So stellen Felipe Calderón von der konservativen Regierungspartei PAN und López Obrador von der moderat linken Oppositionspartei PRD sich gegenseitig dar. Die zweite Fernsehdebatte Anfang Juni gipfelte in einem schmutzigen Zweikampf zwischen den beiden, die weiter andauert. Gewinner der Wahlkampagnen sind vor allem die beiden großen Fernsehsender Televisa und TV Azteca, die Millionen von Pesos mit den Spots verdienen.

Dinah Stratenwerth

Ein Meer aus blau-orangenen Luftballons wogt auf dem großen Platz in der Stadtmitte von Mérida, Yucatán, Südmexiko. Ein vergnügter Animateur schießt Fußbälle in die Menge und stundenlang werden Sprechchöre geübt: Gebt mir ein F! Gebt mir ein E! Gebt mir ein L… Kurz vor neun Uhr abends, als sich die Dämmerung in Dunkelheit verwandelt hat und die Kathedrale hinter der riesigen Bühne angestrahlt wird, erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt: Ein Lichtkegel geistert durch die Menge auf der Suche nach dem einen Mann, auf den alle warten und der sich Hände schüttelnd seinen Kollegen auf der Bühne nähert. Alte und Junge, Bäuerinnen und Bankangestellte, dicke Frauen und hagere Männer schwingen Fähnchen, schreien und übertönen fast den euphorischen Popsong, den Soundtrack zum Event: Para que vivamos mejor….damit wir besser leben… Und es wäre so schön, wenn all das wahr wäre, wenn der kleine Mann mit Halbglatze und Brille tatsächlich allen MexikanerInnen ein besseres Leben verschaffen könnte, wenn die Hoffnung, die aus dem ohrwurmigen D-Dur des Popsongs schallt, berechtigt wäre.

Die weiße Weste

Stattdessen geht es um Macht, gegenseitige Beschuldigungen und gezielte Volksverdummung. Felipe Calderón, Präsidentschaftskandidat der konservativen PAN auf das höchste mexikanische Amt, das am 2. Juli gewählt wird, schloss seine Kampagne in Yucatán Ende Juni mit dem Diskurs, den er sich im letzten Monat vor der Wahl zugelegt hat: „Wählt mich, ich habe eine weiße Weste und garantiere als einziger ökonomische Stabilität und Sicherheit in Mexiko!“
Drei Kandidaten der großen Parteien und zwei der kleineren stehen seit Anfang des Jahres fest: Felipe Calderón für die rechtskonservative PAN, Roberto Madrazo für die ehemalige Staatspartei der Institutionalisierten Revolution PRI, im Bündnis mit den konservativen Grünen (Koalition für Mexiko), Andrés Manuel López Obrador für die linksliberale PRD im Bündnis mit der Arbeiterpartei (Koalition zum Wohle Aller), Patricia Mercado für die linke Alternativa und Roberto Campo für die Nueva Alianza.

Andrés gegen Felipe

Kurz vor der Wahl ist klar, dass López Obrador und Calderón sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern werden. Hatte der PRD-Kandidat bis zur ersten Fernsehdebatte am 25. April die Umfragen noch angeführt, zeichnete sich nach dem TV-Duell, an dem López Obrador nicht teilnahm, eine Mehrheit für Calderón ab. Inwieweit den Umfragen zu trauen ist, ist fraglich. Laut der linken Tageszeitung La Jornada stehen einige Umfragefirmen auf der Gehaltsliste der derzeitigen PAN-Regierung. Trotzdem steht außer Frage, dass es kein kluger Schachzug von López Obrador war, nicht zur ersten Debatte zu erscheinen. Er habe das nicht nötig, ließ er damals verlauten. Das brachte ihm den Vorwurf ein, entweder sehr arrogant oder ein Angsthase zu sein. Calderón nutzte seine Chance und erklärte sich zum klaren Sieger der ersten Fernsehdebatte. Bevor am 6. Juni die zweite startete, diesmal mit López Obrador, kurz AMLO genannt, hatten sich die beiden Kandidaten eine erstklassige Schlammschlacht geliefert, die vor allem über Wahlwerbung im Fernsehen ausgetragen wurde: „López Obrador ist eine Gefahr für Mexiko!“ war der Slogan der PAN. Der PRD-Kandidat beschuldigte Calderón, in die Fobaproa-Affäre von 1998 verwickelt zu sein, bei der auf Kosten der SteuerzahlerInnen riesige Privatschulden in öffentliche umgewandelt wurden.

Mäßigende Wahlbehörde

Ende Mai griff das Wahlinstitut IFE ein und verbot der PAN die Spots, die vor AMLO warnten. Kurze Zeit später durfte auch der Fobaproa-Spot nicht mehr ausgestrahlt werden, obwohl das Thema an sich in der Wahlkampagne zulässig sei, entschied das IFE. Das brutale Vorgehen der Polizei in Atenco und Texcoco gegen Blumenhändlerinnen und deren UnterstützerInnen, bei dem zwei Personen von Polizisten getötet wurden (LN 348; das zweite Todesopfer lag noch mehrere Wochen im Koma, siehe Kurznachrichten in dieser Ausgabe) passte indes gut in die Strategie der PAN, Angst vor „Chaos“ und „Anarchie“ zu verbreiten, um sich dann als einzigen Garanten für Sicherheit darzustellen.
Die PRI, ins Abseits gedrängt, beschuldigte die Fox-Regierung, Calderón mit Regierungsgeldern durch Werbung und Öffentlichkeitsarbeit zu unterstützen. „Es droht die Gefahr einer Staatswahl!“, ließ PRI-Kandidat Madrazo empört verlauten. Die PRD schloss sich den Vorwürfen an. Das IFE reagierte auch darauf und verbot Regierungswerbung ab einem Monat vor der Wahl.

Mehr Schlamm in der zweiten Runde

Die zweite Debattenrunde lief zunächst recht friedlich an. Nach den ausgedehnten Schlammschlachten gaben sich die Kandidaten versöhnlich und kündigten sogar einen Pakt zur Zusammenarbeit an. Dann wurde Calderón jedoch der Ton allzu freundschaftlich. Er begann sich daher wieder gezielt von AMLO abzusetzen, den er erneut als gefährlichen Kandidaten darstellte. Obradors kritische Haltung gegenüber der neoliberalen Politik der vorangegangenen Regierungen würde zu Staatsverschuldung und Chaos führen, so seine Voraussage.
AMLO ließ sich nicht lumpen und schoss sogleich zurück: Calderón habe, als er 2003 Energieminister war, seinem Schwager Diego Zavala Aufträge für die Softwarefirma Hildebrando zugeschustert, an der Zavala beteiligt ist. Die PRD habe dafür Beweise. Damit hatte AMLO den nächsten Grabenkrieg eingeleitet, dessen vorläufiger Höhepunkt eine Verleumdungsklage Calderóns gegen die PRD-Spitze war: Die PRD hingegen habe Gelder aus der Regierungszeit López Obradors als Bürgermeister von Mexiko-Stadt veruntreut, um ihre Kampagne zu finanzieren, klagte die PAN an.

Fernsehsender als Gewinner

Die meisten MexikanerInnen beziehen ihre Informationen übers Fernsehen. Und die großen TV-Sender Televisa und TV Azteca, darin sind sich politische Kommentatoren einig, sind auch die großen Gewinner aller Kampagnen: Allein im April investierte Calderón umgerechnet etwa 160.000 Euro in Fernsehwerbung, Madrazo etwa 85.000 und López Obrador circa 60.000. Alfonso Noriega vom Marktforschungsinstitut Eventum meinte gegenüber der Wochenzeitung Proceso, dass so lange und aggressive Werbung die KundInnen, in dem Falle die WählerInnen, eher frustrierte.
Zumindest bei der Zwischenwahl 2003 gab es viele Frustrierte: mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten verzichtete darauf, ein Kreuzchen zu machen. Drei Jahre später schätzen die Meinungsforschungsinstitute die Wahlbeteiligung auf 60 Prozent. Von denen seien elf bis 24 Prozent noch unentschieden, so Manuel Quijano, Politologe von der staatlichen Universität UNAM.

UN: Saubere Wahl

Um eine saubere Durchführung der Wahlen zu garantieren, trafen Mitte Juni 90 WahlbeobachterInnen der Vereinten Nationen ein. Nach ersten Erkenntnissen sei Wahlbetrug allerdings „unmöglich“, so die UN.
Laut der Jornada-Berichterstatung gibt es dennoch einiges zu bemängeln: Ende Mai ging der Anteilseigner der privaten Sicherheitsfirmengruppe International, Aldo Rico Licona an die Öffentlichkeit, weil er sich erpresst fühlte. Der Vertrag, den Rico Licona mit dem Sozialversicherungsinstitut ISSSTE machen wollte, um Krankenhäuser und Büros des ISSSTE in Mexiko-Stadt zu bewachen, enthielt eine kleine Sonderklausel: Eine Zahlung von 7 Millionen Pesos (ca. 550.000 Euro) an die Kampagne des PAN-Kandidaten zu machen. Die Sicherheitsfirma International weigerte sich und hat nun mit den Konsequenzen zu kämpfen: Von rund 600 MitarbeiterInnen wurden bereits 100 entlassen oder die Löhne nicht gezahlt, was International bis kurz vor den Ruin gebracht habe. Das interne Kontrollgremium des ISSSTE riet dem Geschäftsmann laut dessen Darstellung, mitzuspielen: Zahlt die Kohle und hört auf zu nerven, sei der Rat des Gremiums gewesen. Jetzt will Rico Licona bei der Staatsanwaltschaft Klage einreichen.

Eigentlich sind es fünf

Außerhalb der gegenseitigen Anschuldigungen bleiben die beiden „Anderen“: Patricia Mercado und Roberto Campo. Während der eher farblose Campo vor allem Abgeordnete und Senatoren in der Regierung platzieren will, kann sich Mercado durchaus mit inhaltlichen Vorschlägen profilieren. Junge Wähler, die nicht mehr an AMLO glauben, wenden sich ihr zu – wenn sie nicht der Meinung sind, damit ihre Stimme zu „verschenken“, da die Wirtschaftswissenschaftlerin aus Sonora bei der Wahl keine realen Chancen hat, Doch sie führt Themen weiter, die AMLO nicht mehr erwähnt. Etwa die Durchsetzung der Abkommen von San Andrés zur indigenen Autonomie. AMLO hatte sie zu Beginn seiner Kampagne als erstes Vorhaben von fünfzig genannt, die er als Präsident umsetzen wollte. Am 6. Juni schwieg er zu dem Thema, während Mercado bekräftigte, wie wichtig es sei, endlich eine indigene Autonomie Realität werden zu lassen.
Für die indigene Bevölkerung Mexikos hat Felipe Calderón, als er endlich auf der Bühne in Mérida angekommen ist, nur Gemeinplätze zu bieten: Bildung, mehr Entwicklungsprogramme, Hilfe beim Hausbau. Mehr Redezeit widmet er seinem Lieblingsthema: Dass López Obrador ein Lügner ist.


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